Thomas Melle: „Paranoia ist eine der Empfindungen unserer Zeit“

Den Deutschen Buchpreis 2016 hat Thomas Melle zwar nicht gewonnen – aber er steht mit seinem Buch „Die Welt im Rücken“ seit Wochen im Rampenlicht des literarischen Feuilletons. In der kommenden Nacht ab 2:30 Uhr und am morgigen Abend ab 20:30 Uhr sendet die Deutschlandfunk-Sendung „Lesezeit“ eine halbe Stunde mit dem 1975 in Bonn geborenen Schriftsteller (der bereits hier und hier im Blog auftaucht). Melle besuchte die Schule in Bad Godesberg, bis zum Abitur und studierte danach Vergleichende  Literaturwissenschaften an verschiedenen Universitäten, an der Universität in Tübingen, an der Universität von Texas in Austin und an der Freien Universität in Berlin; mit Abschluss. Das ist bei Künstlern, die Literaturwissenschaften studieren, keine Selbstverständlichkeit. 

Seit 1997 lebt Thomas Melle in Berlin. Er hat verschiedene Preise bekommen, darunter 2008 den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis. Er war schon 2011 mit „Sickster“ auf der Longlist des Deutschen Buchpreises vertreten, und 2014 auf der Shortlist beim Deutschen Buchpreis mit „3000 Euro“. Diese beiden Romane haben wiederum etwas zu tun mit „Welt im Rücken“, über das ich mit Thomas Melle vor wenigen Wochen in Berlin bei der „Lesezeit“-Aufnahme gesprochen habe.

Thomas Melle, es gibt auf Seite 55 von „Die Welt im Rücken“ eine Stelle, die bemerkenswert ist und eine Verbindung zu „Sickster“ und „3000 Euro“ herstellt. Da steht: „Ich muss hier kurz einhalten, bevor ich weiter erzähle, denn eigentlich habe ich diesen ruinösen Schicksalstag schon oft erzählt. Ob nun in ‚Raumforderung’ oder in „Sickster“, wenn auch verklausuliert, literarisiert und abstrahiert.“ Sie erzählen hier in ihrem neuen Buch zum ersten Mal von ihrer Erkrankung, Sie erzählen davon, dass Sie manisch-depressiv sind, bzw. eine sogenannte Bipolare Störung haben. Was definiert diese Krankheit, denn, das ist auch Thema Ihres Buchs: Die meisten Menschen wissen das nicht. Ich glaube, die meisten Menschen können mit dem Begriff der bipolaren Störung nicht viel anfangen, Der Begriff ist relativ neu. In Amerika hat er sich schon eher durchgesetzt. Mit dem  Begriff „Manisch-Depressiv“ können die Menschen eher etwas anfangen. Die bipolare Störung ist eine Krankheit, die schon in der Antike entdeckt wurde, aber im Mittelalter wieder vergessen wurde. Man kennt die Depression, man weiß ungefähr, was die Depression ist. Das ist eine völlige Fühllosigkeit, beziehungsweise: wenn man etwas fühlt, dann nur negative, schwarze, verzweifelte Gefühle. Die Depression schließt sich bei der bipolaren Störung an eine Manie an und diese Manie gibt es in verschiedenen Ausformungen. In der Ausformung, in der ich sie habe, die extremer ist, die härteste Form sozusagen, Bipolar 1 nämlich, ist die Manie sehr heftig. Man verliert jegliche Hemmungen, man hat wahnhafte Ideen und beginnt wie wild durch die Gegend zu rasen, Man verhält sich skurril und seltsam, ist getrieben, getrieben jeden Tag von neuen Ideen, von dem Gefühlsüberschuss, der plötzlich da ist und der seine Erklärung braucht. Da setzt bei manchen Manien die Paranoia ein; bei meiner auch. Da muss man ein Erklärungsgebäude zusammenbauen, das aber völlig falsch konstruiert ist. Man dreht sich nur um sich selbst. Man beginnt zum Beispiel, die Zeitungen auf sich zu beziehen.

Ist jetzt nicht genau die rechte Zeit um über Paranoia zu reden? Versuchen wir es mit einer Ab- und Eingrenzung. Es wird viel im Internet gesprochen, über sogenannte Alu-Hut-Träger, es gibt den Begriff des Wahnwichtels. Es wirkt so als sei Paranoia ohnehin eine der spezifischen Empfindungen unserer Zeit. Paranoia ist eine der Empfindungen unserer Zeit. Das ist sie schon länger. In den Neunzigern gab es die ganzen plotparanoiden Filme, wie ich sie nenne: The Game, The Truman Show… Thomas Pynchon beschäftigt sich mit solchen Sachen, mit diesen Verschwörungen, die unter der Oberfläche der Dinge festzustellen oder eben nicht festzustellen sind. Natürlich ist gerade Paranoia ein Wesensmerkmal des Internets. Das Internet durchlebt allerdings eine Art Paranoia, die ich inzwischen eher langweilig finde, obwohl ich mich mit Verschwörungstheorien auseinandersetze und mir das anschaue, aber da auch schnell merke, dass die Erkenntnisinstrumentarien, mit denen die Leute da arbeiten, dann doch nicht sehr weit greifen.

Sie sagen, Sie seien paranoid, Sie seien bipolar, dies sei Ihre Geschichte. Können Sie sich erklären, dass die Jury des Deutschen Buchpreises dieses Buch dann dennoch als Roman liest? Es ist so, dass man als Manisch-Depressiver verschiedene Ichs hat. Da ist der Maniker. Da ist der Depressive und, ich nenne das: den „zwischenzeitlich Geheilten“. Das bin ich gerade, deswegen bin ich gerade nicht paranoid. Ich hoffe, ich werde es auch nie wieder sein. Die Resultate, die aus einer manischen Paranoia herauskommen sind einfach ruinös; für das Leben, für den Ruf, für die ganze Situation, in die man sich begibt – und überhaupt für die ganze Existenz. Es ist wirklich ein existenzielles Ding dahinter. Ich schaue jetzt auf die Krankheit aus der Position des zwischenzeitlich und – so ist meine Hoffnung – für immer Geheilten, der aber damit klarkommen muss, das überhaupt gehabt zu haben; oder potenziell immer zu haben. Es kann auch sein, dass ich mal einen Rückfall habe. Aber ich versuche aber auch, es immer irgendwie zu bannen, indem ich der Krankheit eine Form gebe, es mir erklärbarer mache, somit auch die Effekte einzudämmen, der Krankheit den Zahn zu ziehe.

Bei unserer „Lesezeit“-Sendung fangen wir mit dem Anfang an. Was ist der Anfang? Wie kommt man rein in diese „Welt im Rücken“? Das ist in diesem Fall ein Prolog, der aus drei Momentaufnahmen besteht. Ein gegenwärtiger Moment, bei einem Essen, wo ich tatsächlich langsam herausrücke mit meiner Wahrheit, mit meiner Krankheit – und denke, das muss jetzt mal zu Sprache kommen. Das ist also eine Rampe für das Buch. Dann geht es mitten rein in den Sex mit Madonna, den ich mir eingebildet hatte. Das stimmte gar nicht? Das stimmte natürlich. Und dann kommt eine Reflexion über den Begriff Bipolar, eine Reflexion über die Krankheit.

Es gibt Krankheiten, die hat man von der Geburt an. Man wird möglicherweise mit Diabetes geboren, mit einer Verwachsung, mit den unterschiedlichsten Hindernissen. Aber bipolar wird man nicht geboren, oder doch? Das ist eine gute Frage, wissen Sie? Das ganze Buch ist erstmal eine Suche nach Gründen, geschrieben in dem Bewusstsein, dass ich dieser Gründe niemals habhaft werden kann. Somit ist „Die Welt im Rücken“ auf gewisse Weise ein romantisches Projekt. Ich versuche, die verschiedenen Faktoren zu erhellen, die vielleicht eine Rolle spielen, ob Lebensumstände, neuronale Sachen, Vulnerabilität, Persönlichkeitsstruktur oder Genetik, um diese Faktoren auf gewisse Weise zumindest anzuanalysieren und mit Erzählmomenten aufzufüllen; sodass am Ende vielleicht eine Clustererklärung, Clusterbegründung aufscheinen möge. Aber man kann nicht sagen, der Mensch ist krank geworden, weil die und die Sachen passiert sind oder nur aufgrund dieser einen Nacht, oder so. Das ist jedenfalls sehr selten. Von Geburt an – wer weiß? Also, es gibt eine Disposition im Kopf, die mitgegeben worden ist, die muss dann nur aktiviert werden. Genetisch kann man sagen, es gibt kein mendelsches Muster, das bestimmt, der und der wird bipolar. Es gibt eine Häufung von Schizophrenen und vor allem unipolaren Depressionen, also normalen Depressionen in Stammbäumen von Manisch-Depressiven. Die Beobachtungen kann man schon machen.

U1_978-3-87134-170-0.inddWie schützen sie sich vor dem, was Sie erlebt haben? Auf der einen Seite wird es Medikamente, aber auf der anderen Seite auch lebensweltliche Entscheidungen geben, einen Alltag, der anders strukturiert ist beispielsweise. Wie geht man damit um?

Bei mir ist es so, dass ich die Medikamente nehme, das erste Mal durchgehend. Früher habe ich sie genommen und dann irgendwann abgesetzt. Das war wahrscheinlich jeweils mein Ruin – und jetzt nehme ich sie durch. Das ist die eine Kontinuität. Dann ist es lebensweltlich tatsächlich so, dass ich mir eine gewisse Struktur gebe, gewisse Routinen eingeführt habe, morgens um Neun spätestens am Schreibtisch sitze und nicht mehr die Nächte durcharbeite. Sturm und Drang ist vorbei. Ich bin jetzt 41 Jahre alt; das wäre wahrscheinlich sowieso gekommen. Es ist auf jeden Fall auch notwendig, dass da eine Struktur vorherrscht.

Sturm und Drang ist vorbei. Sturm und Drang fing aber auch irgendwann an. Das beschreiben Sie in Ihrem Buch. Wie fing das an? Wie kam zu dem Sturm und dem Drang auch das Symptom? Auch da ist die Anfangslosigkeit oder die Frage nach dem Anfang virulent, nicht wahr? Wann hat eine Symptomatik angefangen und wann welches Verhalten? Da gibt es eine gewisse Begeisterungsfähigkeit zum Beispiel, die ich früher und jetzt auch noch manchmal an den Tag lege: völlige Getriebenheit, wenn ich an irgendeinem Projekt dran bin. Wann kippt das um und ist dann völlig krankhaft? Das kann man nicht genau sagen. Sagen wir: mit 23, 24 Jahren war ich schon sehr ambitioniert und sehr befeuert dabei, meinen eigenen Roman zu schreiben. Das habe ich dann gemacht, neben dem Studium, und dann habe ich mich mit Alkohol weiter angefeuert, Berlin mitgenommen, beim Ausgehen – es war schon eine große Anstrengung, körperlich wie geistig. Dann ist das System irgendwann kollabiert. Nein, im Gegenteil: das System ist explodiert. Dann wurde es wirklich krankhaft. Aber vorher? Ich weiß nicht. Es gibt ja auch hypomanische Charaktere, die hätten dann Bipolar II, da ist das dann manchmal gar kein Problem, da die halt so getrieben und sehr gut drauf sind. Das ist alles noch im Rahmen des gesellschaftlichen Regelkosmos. Wenn man richtig krank wird und nur noch Skurriles von sich gibt und macht, dann wird es arg.

Sie haben damals den ersten Roman, einen Anti-Pop-Roman geschrieben, der allerdings noch nicht veröffentlicht ist. Doch er sollte veröffentlicht werden. Sie haben ihn überall hingeschickt: ans Literarische Colloquium Berlin, an Verlage – und dann passierte nichts, zu einer Zeit, Ende der Neunziger Jahre, in der eigentlich die Verlage jungen Autoren alles aus der Hand gerissen haben, so lange es in einigermaßen geraden Sätzen geschrieben war. Wie können Sie sich das denn erklären? Nun, ich möchte jetzt nicht hier eine Privatparanoia befeuern, oder so paranoide Zusammenhänge – „die wussten irgendwas!“ – aber tatsächlich hatte ich auch noch so ein literarisches Internetprojekt gekapert und dort schon halbmanisch bis manisch meine Texte veröffentlicht.

Es war nicht irgendein Projekt, es war „Am Pool“ mit Elke Naters, man kennt es noch. Sie haben  damit nicht nur den Anti-Pop-Roman geschrieben, sondern auch das Anti-Internet-Pop-Projekt zu „Am Pool“ gemacht. Das war eigentlich erst eine witzige Aktion, bis ich dann tatsächlich innerhalb dieser Anstrengung, die nochmal auf die ganzen Anstrengungen, die es vorher gab, kam, durchgedreht bin. Das hat man dann den späteren Texten richtig angemerkt, dass da etwas nicht stimmt. Ich kann mir denken, dass man da dachte: „der muss sich erstmal beruhigen, dann schauen wir vielleicht mal in ein, zwei Jahren auf den Text.“ Andererseits stimmte der Text dann auch nicht mehr für mich. Ich habe ihn zurückgezogen und in die Schublade meines Agenten verfrachtet, weil der Text so eine prä-krankheitliche Form hatte. Ich dachte: „jetzt stimmt es nicht mehr. Es hat gestimmt zu dem Zeitpunkt, aber jetzt ist der Autor nicht mehr mit dem Buch symmetrisch.“ Womöglich wird dieser erste Roman jetzt irgendwann kommen. Wir schauen mal, wir haben da so Gedanken. Aber man weiß es noch nicht.

Thomas Melle: „Die Welt im Rücken“, Rowohlt, 352 Seiten, 19,95 Euro

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