Nicht nur Popsänger Chris Rea hing 1986 den „süßen“ Strand-Erinnerungen nach – der flämische Autor Eric de Kuyper hat 1988 sein melancholisches „An der See“-Debüt vorgelegt, das endlich in deutscher Übersetzung erscheint und von einer nicht enden wollenden Sommerfrische im belgischen Ostende erinnert.

Ein steter Hauch des Niedergangs kennzeichnet viele Landstriche Belgiens. Er zieht durch die notorisch arme Provinz Wallonie bis zum Meer, wo die frühere „Königin der Küstenstädte“ Ostende mit viel Beton unschön wiederaufgebaut wurde nach den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs. Obwohl wenig Herrlichkeit geblieben ist, nimmt eine Brüsseler Familie ihre Vorkriegstradition wieder auf und reist Ende der 1940er Jahre zur Sommerfrische an die flämische Nordseeküste. Onkel, Tanten, Geschwister, Mütter kommen in Ostende „an der See“ zusammen. Mit von der Partie ist ein kleiner, vielleicht sieben, acht Jahre alter Junge, die Hauptfigur des schmalen Erinnerungsbuchs Eric de Kuypers, das diesen Jungen in der dritten Person vorstellt – obwohl der Autor hier augenscheinlich von sich selbst erzählt. Über die einstige Pracht Ostendes kann dieser Junge nichts wissen, doch er besitzt Ahnungen.

„In dem stattlichen Herrenhaus, an dessen Rückseite sie logierten, war es auch an heißen Sommertagen eiskalt. (‚Ein Glück für die Butter und die Milch’, sagte seine Mutter.) Das Hinterhaus war dagegen überhitzt. So gab es eine klare Trennung zwischen dem, was ihnen gehörte, und dem, was nicht ihnen gehörte. Das Haus wurde von einer Familie vermietet, die auch ein Hotel in der Stadt betrieb: das ‚Commodore’, über das mit viel Respekt gesprochen wurde. Vor dem Krieg hatte das Commodore noch zu den Spitzenhotels gezählt. Das bedeutete etwas – vor dem Krieg.“

Das herrliche Nichtstun

Der zurückliegende Krieg, die Besatzung durch die Deutsche Wehrmacht und die Bombenangriffe der Alliierten tauchen lediglich in Andeutungen dieses handlungsarmen, aus zahlreichen Vignetten kompilierten Buchs auf. Die chaotische Zeit der Weltverwüstung fand vor der Bewusstwerdung des Kindes statt. Für den Jungen zählt jetzt allein die absolute Gegenwart, die Sommertage am Strand, das Spiel mit den Geschwistern und den anderen Urlaubskindern, die Fisch-Abendessen im Kreis der Familie, die abendlichen Spaziergänge am Kai, die langweiligen Besuche im Ostender Genossenschaftskaufhaus.

„Ab und zu machte der Junge auch gar nichts. Er lag dann einfach nur da, die Augen sinnend auf das Weiß-Grün-Weiß-Grün der vertikal gestreiften Kabinen gerichtet. Dieses Einfach-nichts-Tun erinnerte ihn an die Erwachsenen, die sich auch den ganzen Tag mit Nichtstun beschäftigen konnten.“

Dass die Erwachsenen mit Nichtstun beschäftigt sind, nicht einmal – wie vor dem Krieg – in die Wellen tauchen, hat vermutlich einen überaus traurigen Grund. Eric de Kuypers Erinnerungsbuch „An der See“ lässt die tiefe Erschöpfung einer Krisen-Generation erkennen, gebeutelt von Kriegen, Inflation, Bombardierungen.

Kindheitsjahre als Schimären

36 Jahre nach Erscheinen der niederländischen Erstausgabe taucht dieses kleine Buch hierzulande auf. Seinerzeit hat es einen Reigen zahlreicher weiterer autofiktionaler Bücher des Regisseurs und Filmtheoretikers eröffnet. Innerlich ausgezehrt sind die hier beobachteten Erwachsenen, es sind größtenteils Frauen. Väter sind abwesend in dieser Geschichte, sie werden nicht einmal thematisiert. So liest sich diese Erzählung wie eine Vanitas-Ermahnung, geschrieben aus dem sicheren Abstand des intellektuell gebildeten Mittvierzigers, der gewahrt, dass die Bilder und Begriffe seiner Kindheitsjahre verblasst, dass sie lediglich Schimären sind.

„Er kannte den Sand wie die Fischer die See und den Wind. Es war kein überflüssiges Wissen … allerdings wird ihm nun, da er es aufschreibt, klar, dass von diesem Sachverstand nichts übrig geblieben ist. Schon als Kind hatte er vermutet, dass er beim Erwachsenwerden vieles von dem vergessen würde, was für das Leben, das glückliche Erleben des Alltags, unverzichtbar war. Wie zutreffend war diese Intuition gewesen, wie begründet seine panische Angst davor, erwachsen zu werden.“

Der Niedergang ist eingeschrieben in die moderne Literatur Belgiens, spätestens seit Georges Rodenbach 1892 seinen symbolistischen Kurzroman „Das tote Brügge“ veröffentlichte – dessen wehmütiger Geist auch durch Eric de Kuypers „An der See“-Debüt weht. Der mittlerweile 81-jährige, in seiner Heimat hoch angesehene Schriftsteller betritt erstmalig die hiesige Literaturlandschaft mit seinem autofiktionalen Ostende-Text. Das einstige Nordsee-Nizza erscheint nur dem kleinen Jungen als eine Art Paradies. Tatsächlich wird eine verödete Landschaft beschrieben und eine komplett aus der Ordnung gefallene Gesellschaft portraitiert, die während zweier Sommermonate Ende der 1940er Jahre versucht, im Sonnenlicht Ruhe zu finden – und im Geschmack frischgefangenen Fischs die Erinnerung an eine unrettbar verlorene, bessere Zeit.

Eric de Kuyper: „An der See“, aus dem Niederländischen von Gerd Busse, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 144 Seiten, 22 Euro

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