Die schönsten Bilderbücher im November

Von den widerstrebenden Sehnsüchten nach Freiheit und Geborgenheit, von Verhaltensregeln für den mündigen Bürger, von verschiedenen Zeit-Erscheinungen und von Achtsamkeit erzählen die Bilderbücher dieses dunklen Novembers.

Wie eine Kinderreim-Sammlung wirkt dieses Buch auf den ersten Blick. Man hat sofort die Melodie des spätestens seit Johann Gottfried Herder bekannten Volkslieds im Ohr: „Wenn ich ein Vöglein wär‘ / Und auch zwei Flüglein hätt‘ / Flög ich du Dir / Weil’s aber nicht kann sein, / Bleib ich allhier.“ Die vier Künstlerinnen dieser liebevoll gestalteten Veröffentlichung schreiben über ihr Motto, es spreche menschliche Themen an, die uns allen vertraut sind, „die Sehnsucht, irdischen Schwierigkeiten zu entfliehen, sich von einer Traumwelt davontragen zu lassen; andererseits der Drang, sich aufzuschwingen und das eigene Potential zu entfalten.“ Über das Flügge-Werden denken sie nach in Texten und Bildern, über die dahinfließende Zeit – „weit weg von zu Hause / nichts müssen / mit einem Fernrohr einen Blick auf den Alltag werfen“.

Sie schreiben über Erziehungsmethoden, die Flügel stutzen und über Mutters Ermahnung einen Helm zu tragen; „das vermindert das Sturzrisiko und erhöht die Wahrscheinlichkeit noch mit neunzig am Leben zu sein.“ Es gibt Gedichte, Miniaturen, essayistische Kurzgeschichten, Collagen, Zeichnungen, Hand- und Maschinengeschriebenes und am Ende einen versöhnlichen Blick in die Ferne, illustriert durch eine Welthalbkugel, die an Luftballons hängend in die Höhe steigt: „Zukunft – zuerst ein Wort nur, groß und unerreichbar fern, doch plötzlich liegt es in unseren Händen.“ Ein verträumt-schönes Gesamtkunstwerk für Erwachsene und zuschauende Schoßkinder. / Nina Dobrot, Sarah Knausenberger (Lyrik und Kurzprosa), Corinna Chaumeny und Elke Ehninger (Collagen): „Wenn ich Flügel hätte“, Kunstanstifter, 128 Seiten, 24 Euro

„Es war einmal und wird noch lange sein“ ist das Bilderbuchdebüt von Johanna Schaible – vor zwei Jahren Sieger der „dPictus“-Präsentation, als auf der Frankfurter Buchmesse 350 unveröffentlichte Bilderbuch-Projekte ausgestellt wurden. 30 Jury-Verlage zeichneten dieses hintersinnige Bilderbuch unabhängig voneinander als bestes Projekt aus. Es geht um Zeit und beginnt auf dem Cover mit Erde, Mond, Weltall, also einer räumlichen Darstellung des Themas. „Für die Erwachsenen von morgen und die Kinder von gestern“ – das steht auf der ersten Seite – und danachsieht man das leuchtende, auseinanderbrechende Landmasse: „Vor Milliarden von Jahren formte sich das Land.“ Danach rücken die Bilder näher und näher an unsere Gegenwart auf immer kleineren Seiten, sodass in der Mitte alle Zeiten weiterhin sichtbar sind als Umrandungen, bevor es weitergeht: „Wo wirst du am Nachmittag sein“, heißt es, die Zukunft wir größer und größer, füllt als leuchtende Nacht die letzte Doppelseite aus mit einer abschließenden Frage, die ins Unendliche weist: „Was wünschst du dir für die Zukunft?“ / Johanna Schaible: „Es war einmal und wir noch lange sein“, Carl Hanser, 56 Seiten, 18 Euro (ab 5 Jahre)

Und noch ein Bilderbuch für jüngere und ältere Erwachsene, für Menschen, die sich engagieren wollen, ein Buch der „Fridays for Future“-, der gesellschaftspolitisierten Gegenwart. 2017 stand es auf vielen Sachbuch-Bestenlisten ganz oben. Der US-amerikanische Historiker Snyder, Professor der Yale-Universität, hat dieses weltweit erfolgreiche Buch als Reaktion auf die US-Präsidentschaftswahl 2016 geschrieben. Gültig sind seine 20 Lektionen bis heute: Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam. Verteidige Institutionen. Hüte dich vor dem Einparteienstaat. Übernimm Verantwortung für das Antlitz der Welt. Denk an deine Berufsehre. Nimm dich in Acht vor Paramilitärs. Sei bedächtig, wenn du eine Waffe tragen darfst. Setze ein Zeichen. Sei freundlich zu unserer Sprache. Glaube an die Wahrheit. Frage nach und überprüfe. Nimm Blickkontakt auf und unterhalte dich mit anderen. Praktiziere physische Politik. Führe ein Privatleben. Engagiere dich für einen guten Zweck. Lerne von Gleichgesinnten in anderen Ländern. Achte auf gefährliche Wörter. Bleib ruhig, wenn das Undenkbare eintritt. Sei patriotisch. Sei so mutig wie möglich.“ Unaufgeregt schildert Snyder, was zu tun ist. Collageartig und das honorige Anliegen Snyders würdigend hat die US-Amerikanerin Nora Krug – Associate Professor für Illustration an der Parsons School of Design in New York City – aus diesem bemerkenswerten Text ein erhebendes Kunstwerk geschaffen. In der jetzt vorliegenden Fassung wird der spielerische Aspekt hervorgehoben und eine Lust geweckt, die Lust, ein verantwortungsvoller Bürger zu sein. / Timothy Snyder (Text), Nora Krug (Illustration): „Über Tyrannei: 20 Lektionen für den Widerstand“, aus dem Amerikanischen von Andreas Wirthensohn, C.H. Beck, 132 Seiten, 20 Euro

Auf diese Idee muss man erst einmal kommen: Als Achtsamkeitsbuch für Kinder wird diese Veröffentlichung aus dem österreichischen Jungbrunnen-Verlag einsortiert – und was zunächst irritiert, ergibt am Ende Sinn. Erzählt wird die Geschichte eines namenlosen Jungen, der bekennt: „Kitzeln kann man sich nicht allein, Es geht nicht. Ich habe es ausprobiert.“ Er hat es mit den Fingerspitzen versucht, mit einer Feder, mit dem Luftzug seines Föns, im Sitzen, Liegen, Stehen. Doch diese Geschichte zeigt nicht nur das Kind, sondern kommentarlos auf jeder Seite verschiedene Tiere, die mal am Rand liegen, dann mitten durchs Bild laufen, den Illustrationen etwas Surreales verleihen (eine Giraffe im Kinderzimmer). Man kann sich vorstellen, wie Kinder erst versuchen, sich selbst zu kitzeln, doch dann – eine klassische Text-Bild-Schere – bemerken (und hier wird es achtsam), dass Küken, Katzen und Karpfen die Geschichte begleiten, dass die Baumrinde in dem einen Bild aus einer alten Landkarte collagiert ist, in einer Ecke kein Tier, sondern eine Sockenpuppe ihr Maul aufreißt, dass es chinesische und georgische Schriftzeichen gibt. Dieses Buch besteht aus so vielen Ebenen, die erst beim genauen Hinsehen sichtbar werden, dass nicht nur eine, sondern viele Geschichten gleichzeitig erzählt werden. Trickreich. Gelungen. / Heinz Janisch (Text), Helga Bansch (Illustration): „Kitzeln kann man sich nicht allein“, 32 Seiten, 16 Euro (ab 3 Jahre)

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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