Das Lyrikgespräch im August

Rund 80 Lyrikerinnen und Lyriker haben wir gelesen für die neue Ausgabe des Lyrikgesprächs im Deutschlandfunk – dank einer großen Anthologie slowenischer Dichterinnen und Dichter, die rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse im Münchner Hanser-Verlag erschienen ist. Außerdem mit dabei ist Rike Scheffler: „Lava Rituale“ bei kookbooks. Eine Sendung mit Beate Tröger und Christian Metz.

Planetarisch ist der Aufbau dieser weit kreisenden Anthologie, die im Zentrum von drei großen Vertretern der slowenischen Lyrik dominiert wird – von Svetlana Makarovič, Niko Grafenauer und Tomasz Salamun. Um sie gruppieren sich Abteilungen höchst unterschiedlicher, zwischen 1898 und 1990 geborener Künstler, früh sehr stark beginnend mit Srečko Kosovel, dem „slowenischen Rimbaud“, der Mitte zwanzigjährig an einer Meningitis gestorben ist und Gedichte zurückgelassen hat wie „Europa stirbt“. Ebenso entschieden wie allein tritt er gegen Krieg, Propaganda und Nationalismus ein, wenn er schreibt: „Europa stirbt. / Völkerbund und Apotheke, / beides ist Lüge. / Operationen. Revolutionen! Auf grauer Straße steh ich.“ Kaum verwunderlich, dass dieses zwei Millionen Einwohner zählende Land jährlich 300 Lyrikbände veröffentlicht, es wurzelt offensichtlich im reichhaltigen Humus.

Aus diesem Reichtum schöpft „Mein Nachbar auf der Wolke“. Der Titel lehnt sich an das Gedicht „Mein Nachbar auf der Wolke“ von Edvard Kocbek an: „Mach du nur den Mund auf, / alles andere erledigt der Transistor, / es reicht, ans Morgen zu denken, / der Tagesablauf ist schon vom Horoskop bestimmt“ usw. Die Anthologie: stellt einerseits kanonische Texte in Einzelabteilungen vor, die je einem Dichter, einer Dichterin gewidmet sind – dazwischen gibt es thematisch gruppierte Kapitel, die Titel tragen wie „gott & danach“, „wasser & erde“ oder „verwandtschaft & nähe“, wo neben vielen anderen auch die jüngste Vertreterin abgedruckt ist, die 1990 geborene Ana Svetel. Mit ihrem Nature Writing wirkt sie wie eine Verwandte des hiesigen Büchner-Preisträgers Jan Wagner: „Was die Schnecke / auf der Holzwand unseres Hauses tut, / durchfährt es mich, ist das einzig / sinnvolle Handeln. / Bewegung, / eine schmale, glänzende Spur.“ Es gibt keine bessere Möglichkeit, um die Lyrik des diesjährigen Buchmessen-Gastlandes 2023 kennenzulernen – man kann von dort ausgehend, vielen glänzenden Spuren folgen. Matthias Göritz, Amalija Maček, Aleš Šteger (Hgg.): „Mein Nachbar auf der Wolke. Slowenische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts“ (zweisprachige Ausgabe), Hanser, 312 Seiten, 36 Euro

Eine andere Art des Nature Writing gibt es in „Lava. Rituale“ der 1985 geborenen Berlinerin Rike Scheffler. Auf der Homepage ihres Verlags kookbooks schreibt sie über den eigenen Band: „Hier sammelt und pflegt ein menschliches Ich verzweifelt, liebevoll und widerständig, was es angesichts eines drohenden Untergangs umso stärker behüten will: seelische Verfasstheiten, Wassermelonenlippen, ebenso Kristalle, Sapphos Fragmente, massenhaft Sauerstoff, schließlich die im Wort ‚Brot’ sedimentierte Menschheitsgeschichte selbst.“ Vom späten 20. Jahrhundert bis in eine vermutete Wirklichkeit der 2300er Jahre reichen die Beobachtungen und Spekulationen dieses so deutlich von posthuman-feministischen (Astrida Neimanis), evolutionsbilogischen (Scott F. Gilbert) und globalisierungskritischen (Arundhati Roy) Theorien imprägnierten Bandes, der rätselhaft beginnt: „dunkel horchen Tiere / Satelliten, kleine Elegien / fahren Felder wie Traumfresser Zahnreihen ab / Bäume, die als Blutgefäße / in den Himmel reichen / im Nebel enden wollen / am Morgen / Brustblumen, vernarbte Eichen — die Erde mit Steinen im Arm“ aus dem Zyklus „kleine Energien“ (deshalb auch die Energien-Elegien im Gedicht). Beseelt sind diese Zyklen vom geradezu friedensbewegten Wunsch, nach einer Einheit alles Lebendigen, das – ganz aktuell– um künstliche Intelligenz erweitert wird. Vom drohenden Untergang schreibt Scheffler selbst, und findet Worte wie diese: „es soll alles echt aussehen, / im Kern des Dorfs versammelt / der Spieltrieb Blätter / Ewigkeit, ein Apfel / Plutonium, noch kleiner, / Apfelsinchen / des schrecklichen Anfangs; / Lichterketten / geräumte Flächen / für ein Fest, das nicht ist“ – bis in die Buchstaben hinein löst sich die hier vorgestellte Welt auf, zerfällt zu Staub, als dechiffrierter Code; „— dass ich noch mit Augen glaube / statt mɪt deːn ˈtsɛlən deːɐ ˈhaʊ̯ t —“ Rike Scheffler: „Lava. Rituale“, kookbooks, 88 Seiten, 26 Euro

Das Dlf-Lyrikgespräch mit Beate Tröger und Christian Metz kann hier nachgehört werden

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