#FBM2020: Niemand ist eine Insel

Wenn die Frankfurter Buchmesse an diesem Sonntagabend zu Ende geht, werden viele nicht mitbekommen haben, dass es eine gab. Aufgrund der gestiegenen Corona-Inzidenzzahlen musste das weltweit größte Branchentreffen in diesem Jahr digital stattfinden. Am vergangenen Wochenende wurden jene letzten, bereits zugelassenen Zuschauer ausgeladen, die sich bereits für die Eröffnungsfeier am Dienstagabend und für die täglichen Veranstaltungen der ARD-Bühne auf dem Messegelände angemeldet hatten. Dennoch wäre eine komplette Absage fatal gewesen, wie bei der Leipziger Frühjahrsmesse 2020, die im kommenden Jahr später als üblich, nämlich Ende Mai stattfinden wird.

Aufgrund der nun gefundenen Lösung für die Frankfurter Buchmesse war die Branche über einige Tage hinweg präsent, wenngleich weniger stark als zuvor; auch standen eher aktuelle Entwicklungen und Zahlen zur Debatte als die Neuerscheinungen dieses Bücherherbstes.

Messen sind Brenngläser. Der Anlass „Digitale Frankfurter Buchmesse 2020“ ist eine Chance zur Evaluierung der Buchmarktentwicklungen seit März dieses Jahres, und zur Planung kommender Monate. In der Summe mögen sich weniger Besucherinnen die Live-Streams der zahlreichen Digital-Veranstaltungen angesehen haben, jenes oft apostrophierte „Gedränge in den Messehallen“ wiederholte sich nicht vermittels der Abrufzahlen.

Ohne Treffen verarmten wir

Gleichzeitig wurden einige Fachpanels stärker frequentiert als äquivalente Angebote – beispielsweise über Drucktechnik – in den Hinterräumen der physischen Messe vor 2020. Dass derartige Erfahrungen die Veranstaltung an sich verändern, hat Direktor Juergen Boos mehrfach betont. Die Buchmesse werde sich fortan dezentraler organisieren, und dort auf digitale Formate setzen, wo es sinnvoll erscheint.

Es ist 2020 klargeworden, dass die Buchbranche ohne reale Treffen verarmte. Die digitale Kommunikation zeigte, dass man allein mit jenen spricht, die man in den Jahren zuvor kennengelernt hat. Frisches Blut und neue Stimmen haben weniger Chancen, wenn die echte, wenn die oft zufällige Begegnung wegfällt. Das lässt sich konkret an den Bestsellerlisten feststellen. Gekauft werden eher Werke jener Autorinnen und Autoren, die dem Publikum seit langer Zeit bekannt sind, wie Nora Bossong, Joachim Meyerhoff oder Ferdinand von Schirach.

Debütanten haben es 2020 schwerer als in den vergangenen Jahrzehnten, weshalb der gewaltige, bereits im Vorfeld raunend beobachtete Roman „Über die Alpen“ des hochbegabten Schriftstellers Benjamin Quaderer hinter den Verkaufserwartungen zurückblieb – trotz seines gewaltigen, in den Medien vielfach kolportierten Vorschusses von einer viertel Million Euro. Alle hatten auf den ersten Quaderer-Roman gewartet. Als dieser Mitte März bei Luchterhand erschien, gab es nur noch ein Thema in den Medien: Corona.

Hinwendung zum Eskapistischen

Das ist verständlich, und verstehen kann man, dass sich viele Leserinnen und Leser entweder dem Altbewährten oder gleich dem komplett Eskapistischen zugewendet haben. In Deutschland gewinnen dieser Tage die Fantasy-Programme, in den USA ist seit Corona ein Zuwachs von 7 % gegenüber dem Vorjahr bei religiösen Büchern festgestellt worden.

Es ist keineswegs alles schlecht, auch das hat der genauere, durch die digitale Buchmesse motivierte Blick in der vergangenen Woche gezeigt. Eine Chance hatten auch zu Corona-Zeiten Autorinnen, die sich zuvor eine Fangemeinde in den sozialen Netzwerken erschrieben haben und Lesungen einfach digital stattfinden ließen – übrigens keinesfalls kostenlos. Mehrere hundert digitale Tickets für den reinen Streamingzugang wurden im Spätsommer dieses Jahres an Leserinnen und Leser verkauft, die eine Veranstaltung der Romandebütantin Lisa Eckhart im Literaturhaus Hamburg erleben wollten.

Bourdieu ist mal wieder gefragt

E-Books werden auch mehr verkauft als zuvor – das freut den Wald. Zudem steigt die Nachfrage sogenannter Backlist-Titel längst erschienener Klassiker von Niklas Luhmann, Pierre Bourdieu oder Jürgen Habermas; weil einige Menschen Zeit hatten, endlich jene Bücher zu lesen, die sie ohnehin immer mal lesen wollten, und weil es eine neue Sehnsucht gibt nach gesicherter Information, nach Wissen, nach tieferen Gedanken.

Diese tieferen Gedanken wird sich die Gesellschaft im Allgemeinen, die Buchbranche im Besonderen weiterhin machen – möglicherweise die positiven Erfahrungen der Pandemiezeit auch in der Zukunft beibehalten, neugieriger sein für digitale Angebote, wertschätzender gegenüber der persönlichen Begegnung. Denn auch das hat die Frankfurter Buchmesse 2020 gezeigt: Allein zu lesen mag schön sein, mit der Lektüre allein zu bleiben ist keine Lösung. Niemand ist eine Insel, kaum jemand strebt danach, eine zu werden.

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