Vor wenigen Tagen hat die Journalistin Merle Hilbk das Buch „Tschernobyl Baby“ veröffentlicht. Nun ist ihre Reportage unverhofft aktuell.
„Wir wir lernten, das Atom zu lieben“ – mit diesem Satz ist „Tschernobyl Baby“ untertitelt. Angesichts der Explosion im japanischen Atomkraftwerk Fukushima 1 und der schon jetzt neu erstarkenden Anti-Atom-Bewegung klingen diese Worte noch satirischer, als ursprünglich gedacht. Ein Buch, das pünktlich zum 25. Jahrestag des Super-GAUs erscheinen sollte, ist jetzt mehr als eine Rückblicksrecherche. Die Osteuropaspezialistin Merle Hilbk ist 2009 und 2010 in die Sperrzone des AKWs Tschernobyl gefahren, hat mit Menschen gesprochen, die ihre verseuchten Dörfer zurückgekehrt sind, mit Touristenführern, die Exkursionen zum Ort des Super-GAUs vom 1986 anbieten, mit früheren AKW-Mitarbeitern und, daheim, mit deutschen Anti-Atomkraft-Gegnern und mit grünen Politikern wie Renate Künast.
Sie hat Flüchtlinge kennengelernt, die nach weissrussischem Herrscherwillen das verstrahlte Land neu besiedeln sollen. Rückkehrerinnen aus den unmittelbar nach dem GAU evakuierten Dörfern bauen Gartengemüse im verseuchten Boden an. Als gäbe es keine Vergangenheit, „in einem von Armut, Krankheit und Hoffnungslosigkeit gezeichneten Landstrich.“ Kontrastierend gibt es Merle Hilbks deutsche Jugenderinnerungen an die Zeit nach dem Tschernobyl-Unglück, an Forderung der Grünen, AKWs in der BRD abzuschalten und an jene der CDU, die AKWs in der UdSSR abzuschalten. Sie schreibt, wie es sich anfühlt, das „Weltende“.
„Tschernobyl Baby“ ist eine ferne Reise zu mehreren Meter langen, atomverstrahlten Fischen und zu russischen Stöckelschuh-Damen, eine Reise in kleine, bitterarme Dörfer, in denen dennoch alle weiterhin an der Atomkraft festhalten. Es ist eine Reise in die vergangene Welt von Glasnost, Perestroika und dessen bitterem Ende. „Atomkraft. Schluss jetzt!“ bleibt nach diesem Buch eine brave Forderung grüner Aktivisten. Für die Menschen aus Tschernobyl wird es dieses „Schluss jetzt!“ nie wieder geben können. Der GAU kennt kein Ende, lediglich eine Halbwertszeit. „Durch Tschernobyl hat sich die Einstellung vor allem im Bürgertum verändert. Die einst extreme Randposition, dass Atomenergie lebensfeindlich ist, gilt nun als Mainstream“, sagt Merle Hilbk im Interview. Nach dem GAU in Tschernobyl waren die Menschen desillusioniert, und sie haben, direkt vor Ort in Weißrussland ebenso wie weit entfernt in der BRD, geradezu kopflos reagiert: Der Volksmund trank Wodka gegen die radioaktive Strahlungen. Die sowjetische Führung veranlasste zunächst Massenabtreibungen, um selbige kurz darauf zu unterbinden – man wollte sehen, wie Ungeborene auf Radioaktivität reagieren.
In Deutschland wurde verstrahltes Gemüse verkauft, das eigentlich ins atomare Zwischenlager gehört hätte. Ökos empfahlen plötzlich, Eier aus Käfighaltung zu verzehren. Die Welt stand Kopf. – Damals gab einen Run auf strahlenschützende Jodtabletten. Merle Hilbk beschreibt an einer Stelle im Buch, wie Kunden, die kein Paket mehr abbekamen, einem Freiburger Apotheker Schläge angedroht haben. Wird es ähnliche Szenen bald wieder geben? „Wenn die wissenschaftliche Aufklärung erfolgreich war, dann wissen die Menschen in Bezug auf Jod dass diese Tabletten bei uns nicht helfen würden“, sagt Merle Hilbk, „denn sie wirken nur in den ersten Stunden, wenn man extrem hohen Strahlungen ausgesetzt ist.“ – Geradezu gespenstisch liest sich nun „Tschernobyl Baby“ nun, obwohl es eigentlich sehr unterhaltsam geschrieben ist: „In der Sowjetunion waren weibliche Schnitte, grelle Farben und glänzende Stoffe – eine Mode, die als ‚Sekretarnaja Odeshda‘ bezeichnet wird – populär geworden, weil sie den Westen zu repräsentieren schienen. Die ersten Privatunternehmer in den späten Achtzigerjahren hatten entdeckt, dass die Geschäfte besser liefen, wenn sie junge Frauen an den Empfang setzten, deren Erscheinungsbild bei den Kunden und Geschäftspartnern Neid erweckte. Weil ‚Privatindustrie‘ nach Geld roch, wollten bald alle Frauen so aussehen wie die Empfangsdamen der neuen Unternehmer. So wurde die ‚Sekretarnaja Odeshda‘ zum Symbol des Westens, zur Verkörperung eines neuen Lebensgefühls.“
Doch wer interessiert sich nun für post-sowjetische Modewellen? „Das Restrisiko wird zum Supergau“. Mit diesem Satz aus einem Interview von 1986 zitiert Merle Hilbk den späteren Aussenminister Joschka Fischer. „Mich erinnert an Tschernobyl, dass es auch heute relativ wenig Informationen und dafür viele Spekulationen gibt“, sagt Merle Hilbk. „Selbst Spezialisten wirken hilflos. Die japanische und die deutsche Politik benutzen, teilweise mit genauem Wortlaut wie damals, Beschwichtigungsformeln. Wie 1986 der damalige Innenminister Friedrich Zimmermann betonen nun auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Guido Westerwelle, es bestünde zu keiner Zeit eine Gefahr für Deutschland. Die Lage sei, soweit wie möglich unter Kontrolle, das Notwendige wurde getan.“ Einen „zynischen Unterschied“ kann Merle Hilbk allerdings festmachen: „Die Sowjetunion hat damals mehrere hunderttausend Menschen geradezu verfeuert, um die Folgen des Super-GAUs in Tschernobyl für das restliche Europa abzumildern. Da wurden unmittelbar nach der Explosion Feuerwehrleute aufs Gelände geschickt. Später, als der schützende Betonsarkophag über der Unglücksstelle errichtet wurde, griff die sowjetische Führung erneut auf ihr eigenes Volk zurück. Das wird in Japan nicht möglich sein, weshalb die weltweiten Folgen noch schlimmer werden könnten als damals.“ Es gibt nur eine positive Nachricht: Die besten Geigerzähler werden laut Merle Hilbk in Schwaben hergestellt. Die dortigen Auftragsbücher dürften nun gut gefüllt sein.
Merle Hilbk: „Tschernobyl Baby“, Eichborn, 280 Seiten, 17,95 Euro