Gespräch: der „Judenbücherstreit“

Gerade ist im Stuttgarter Reclam-Verlag ein kleines Buch erschienen – einen der frühen Toleranztexte unserer Sprache, Johannes Reuchlins: „Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“. Ein Gespräch mit dem Historiker Jan-Hendryk de Boer, der diesen Band aus dem Frühneuhochdeutschen übersetzt und mit einem Nachwort versehen hat.

Es ist eine nachgerade absurd erscheinende Initiative, die 1507 die zur Konfiszierung von 168 Büchern der jüdischen Gemeinde von Frankfurt am Main und zu einem Gutachtenstreit darüber geführt hat, ob diese Konfiszierung rechtens und ausgeweitet werden sollte – das Bestreben eines Konvertiten, der sich anschickte, das schriftliche Erbe der jüdischen Gemeinde in Deutschland auszulöschen.

Eines dieser Gutachten, 1510 im Auftrage Kaiser Maximilians verfasst, ist gerade im Stuttgarter Reclam-Verlag erschienen: ein beeindruckend argumentiertes Dokument der Zeitgeschichte mit dem zunächst irritierenden Titel: „Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“, geschrieben vom deutschen Hebraisten, Philosophen und Juristen Johannes Reuchlin – und er hält es eben für nicht für rechtens, den Juden alle Bücher zu nehmen, abzutun und zu verbrennen. Aus dem Frühneuhochdeutschen herausgegeben und übersetzt hat diese Schrift Jan-Hendryk de Boer, Historiker an der Universität Duisburg-Essen.

Herr de Boer, als Johannes Reuchlin im August 1510 ein Schreiben des Mainzer Erzbischofs Uriel von Gemmingen erhielt, konnte er nicht ahnen, dass ihn der so übermittelte Auftrag die kommenden elf Jahre beschäftigen sollte. Reuchlin wurde im Namen Kaiser Maximilians aufgefordert, ein Gutachten über die Frage zu verfassen, ob es gottgefällig und für das Christentum förderlich sei, die von den Juden genutzten Bücher mit Ausnahme der jüdischen Bibel zu vernichten. Was war vor diesem Auftrag geschehen, Herr de Boer? Der Anstoß zu der ganzen Affäre ging aus vom Konvertiten Johannes Pfefferkorn, der eine Kampagne gegen seine einstigen Glaubensgenossen führte. Er hat mehrere Flugschriften deutschsprachige Flugschriften veröffentlicht, indem er die Christen vor angeblich von den Juden ausgehenden Gefahren warnte. Als zentralen Grund, dass sich die Juden nicht zum Christentum bekehren ließen, hatte er deren Bücher ausgemacht. Also hat er beschlossen, alles dafür zu tun, dass diese Bücher vernichtet würden. Im gelang tatsächlich, den Kaiser davon zu überzeugen, ihn zum bevollmächtigen, jüdische Bücher in ganz Deutschland einzuziehen, zu prüfen und gegebenenfalls zu vernichten. Dagegen hat sich Widerstand erhoben, angeführt von der jüdischen Gemeinde aus Frankfurt am Main. Und dieser ist es auch tatsächlich gelungen, den Kaiser dazu zu bringen, die Kampagne stoppen zu lassen. Nun wollte der Kaiser es genauer wissen und ließ über den Mainzer Erzbischof mehrere Gutachten einholen, wie man verfahren solle in der Sache. Alle anderen Gutachter, die alle theologisch argumentierten, kamen zu dem Ergebnis, das jüdischen Bücher vernichtet werden sollten. Nur Reuchlin ist aus diesen judenfeindlichen Konsens ausgeschert.

In seinem Gutachten schreibt Reuchlin, ich zitiere; „Nun find ich vnner den iuden buechern das sie seien mannicherlai gestalt“ – es gibt also verschiedene Gattungen. Über welche Bücher wurde damals verhandelt? Reuchlin nennt in seinem „Ratschlag“ insgesamt sechs Kategorien von jüdischen Büchern – zunächst die hebräische Bibel, dann den Talmud – Kommentare zur Bibel – Predigtbücher und liturgische Schriften, Werke der Kabbala also, der jüdischen Weisheitslehrer, für die sich Reuchlin ganz besonders interessierte; schließlich Philosophie und Naturkunde. Das war sehr geschickt, so zu argumentieren, denn er konnte so zeigen, dass die jüdische Tradition sehr viel reicher war, als Pfefferkorn behauptete. Außerdem konnte er zeigen, dass viele der Textsorten völlig unproblematisch waren: so natürlich die Bibel oder Erläuterungen zur Bibel. Pfefferkorn und seine Unterstützer haben vor allen Dingen gegen den Talmud polemisiert, und gegen zwei antichristliche jüdische Traktate. Reuchlin räumte ein, dass es diese beiden polemischen Werke gebe, hat aber gezeigt, dass sie eben nicht stellvertretend für alle jüdischen Bücher genommen werden dürften. Die meisten von ihnen hätten gar keine antichristliche Orientierung und den Talmud, also die Sammlung jüdischer religiöser Gesetze und ihrer Auslegung durch die Rabbiner, hat er ausdrücklich verteidigt. Im Mittelalter ist es immer wieder Angriffen von Christen auf den Talmud gekommen, er ist mehrfach öffentlich verbrannt worden. Reuchlin legte gegen diesen judenfeindlichen Konsens der seiner Zeitgenossen dar, dass die Christen sehr viel aus dem Talmud lernen können, nicht zuletzt, um die Juden von der Wahrheit des Christentums zu überzeugen, wie er meinte.

Diese Bücher waren nun in Gefahr – 168 wurden der jüdischen Gemeinde zu Frankfurt am Main entwendet. Das klingt erstmal nach einer überschaubaren Zahl, doch sind wir hier am Beginn des 16. Jahrhundert, der Druck mit beweglichen Lettern war hierzulande seit gerade mal sechs Jahrzehnten bekannt. Welche Bedeutung hatten diese 168 Bücher im Besonderen, welche Bedeutung Bücher im Allgemeinen zu jener Zeit? Vor allem handschriftliche Bücher – um die geht es im Pfefferkorns Kampagne – waren nicht nur materiell wertvoll, sie waren häufig unersetzbar. Beides gilt umso mehr für hebräische Bücher, die schwer zu bekommen waren, selbst für jüdische Gemeinden. Reuchlin hebt deshalb mehrfach hervor, dass, wenn man solche Bücher vernichtet, man das darin enthaltene Wissen möglicherweise unwiederbringlich zerstört. Die Bedeutung dieser Bücher für die jüdische Gemeinde zeigt sich darin, dass sie ganz entschieden und unter großem Einsatz beim Rat der Stadt und dann am kaiserlichen Hof interveniert hat, um ihre Rechte durchzusetzen und die Bücher zurückzuerhalten. Die sogenannten Schmähschriften, also polemische Werke gegen das Christentum, hat man in Frankfurt übrigens zu Pfefferkorns Kummer nicht gefunden. Unter den beschlagnahmten Werken befanden sich Gebetbücher und liturgische Werke, also Texte, die die jüdische Gemeinde für ihren Gottesdienst benötigte. Den Juden ihre Bücher zu nehmen, sollte also das jüdische religiöse Leben zerstören.

Wie ist nun die Argumentationsweise Johannes Reuchlin bezüglich seines Ratschlags, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll? Reuchlin argumentiert zunächst als Jurist. Juden waren aus seiner Sicht genauso Bürger des Heiligen Römischen Reiches wie die Christen. Insofern verfügten sie über dasselbe Recht; dass man ihnen nicht einfach ihr Eigentum wegnehmen durfte. Wenn einem das so passte, so wie man mit christlichen Büchern verfuhr, musste man Reuchlin zufolge auch mit jüdischen Büchern verfahren. Was den Christen erlaubt war, musste auch den Juden erlaubt sein. Dann sind wir bei der zweiten Argumentationsstrategie mit einer Aussage von Jesus Christus im Johannesevangelium, die lautet: „Befragt, durchsucht und erforscht die Schriften, sofern ihr wähnt, darin das ewige Leben zu finden. Eben diese sind es, die von mir Zeugnis geben.“ Diese Aussage wollte er, so heißt es im „Ratschlag“, als Fundament seines Gutachtens nehmen. Auch wenn die irischen Bücher möglicherweise Falsches enthielten, so könne man, erklärt er, in ihnen doch viele Wahrheiten finden. Wahrheiten, die auch für Christen nützlich sein. Die dritte Argumentationsstrategie ist ein humanistische. Er war nämlich überzeugt, dass man zu den Quellen zurückkehren müsse. Das hieß für ihn, dass man die hebräische Sprache kennen und hebräische Bücher besitzen musste, um die Bibel wirklich verstehen zu können.

Auch zitiert Reuchlin mehrere Gesetze, darunter jene fast 1000 Jahre alten Digesten, eine im Auftrag des oströmischen Kaisers Justinian zusammengestellte spätantike Kompilation von Rechtsgelehrten der klassisch-römischen Kaiserzeit. Reuchlin bringt einen interessanten Absatz über Schmähschriften, denn, „wenn jemand ein Buch zur Entehrung, Schmähung oder Schande eines anderen geschrieben, hergestellt oder herausgegeben oder arglistig veranlasst hätte, dass eines davon geschehen sei (…) sei wie folgt auf eine solche Klage zu reagieren: Der Rat hat die Gewalt, durch eine gegen Leib und Leben gerichtete, von öffentlichen Richtern erhobene Anklage diese Handlung zu bestrafen.“ – In welcher Weise war dieses Gesetz ein juristischer Schutz gegen Hassreden, gegen ein Phänomen also, über das heutzutage immer noch gestritten wird, jetzt aber in Bezug auf die sogenannten Sozialen Medien? Man kann wohl sagen – genau, wie sie es dargelegt haben – dass das im Prinzip ein Gesetz gegen Schutz vor Hassrede und Verleumdung war. Allerdings war es im Mittelalter genauso schwierig, das durchzusetzen, wie das heute schwerfällt, Hassreden in den sozialen Medien wirksam zu bekämpfen. Bei Reuchlins Berufung auf dieses Gesetz kommt überraschend, dass es wiederum getragen ist von der Überzeugung, dass für Christen und Juden gleiches Recht gilt. Wer ein Buch schreibt, das andere nur beschimpfen und verleumden will, der soll bestraft werden. Reine Hassrede, das sagt dieses Gesetz ganz klar, darf unterdrückt werden. Aber auch nur die. Bei den jüdischen Büchern ist das gerade nicht der Fall, wie er daliegt, einzelne problematische Aussagen einem Buch rechtfertigen, Reuchlin zufolge, gerade nicht, sie zu vernichten.

Man könnte denken, wer so gelehrt disputiert, gewinnt leichthin die Oberhand – doch mit Reuchlins „Ratschlag“ beginnt der mehrjährige sogenannte „Judenbuchstreit“. Welche Folgen hatte Johannes Reuchlins Gutachten – und wie ist besagter Streit am Ende ausgegangen? Pfefferkorn und seine Unterstützer, das waren zunächst mal Kölner Theologen, haben Reuchlin wegen seines Gutachtens scharf angegriffen. Sie wollten ihn dazu zwingen, dass er seine Thesen widerruft. Reuchlin hat sie allerdings nicht bereit. Allerdings waren seine Gegner mächtige Männer, Professoren der Dominikanerorden, ein Inquisitor. Als er seine Gegner nicht überzeugen konnte, hat sich Reuchlin entschlossen, an anderer Stelle Hilfe zu holen. Er hat 1511 seinen „Augenspiegel“ und darin sein Gutachten veröffentlicht, erklärt und verteidigt. Und er hat tatsächlich Unterstützer gefunden – Humanisten in ganz Deutschland und letztlich in ganz Europa. Nun hat eine öffentliche Auseinandersetzung begonnen, die mit Flugschriften, Gedichten und Satiren, darunter den berühmten „Dunkelmännerbriefen“, geführt worden ist. Reuchlin und die Humanisten haben ihre Gegner dabei nicht geschont, sondern lächerlich macht und sehr scharf angegriffen. Diese wiederum haben ihre Prozesse gegen Reuchlin geführt, der sich lange erfolgreich wehren konnte. Schließlich ist der Prozess nach Rom vor dem Papst – also die höchste zuständige Instanz – gelangt. Und nach mehreren Jahren, genauer im Jahr 1520, also auf dem Höhepunkt der ersten Phase der Reformation, wurde der „Augenspiegel“ durch den Papst verurteilt.

Herr de Boer, sie haben diesen Text in der wohlfeilen Reclam-Ausgabe zugänglich gemacht, das heißt, für 6,80 Euro kann nun jeder dieses Gutachten lesen, es gibt eine Zeittafel, einen umfangreichen Anmerkungsapparat, es gibt Ihr Nachwort, das überaus interessant und verständlich ist – und so lesen wir auf der Rückseite Ihres Buchs, Reuchlins „Ratschlag“ sei ein Plädoyer für die friedliche Koexistenz zwischen Christen und Juden, für die Freiheit des Andersdenkenden und für den Wert des Buchs an sich. Abschließend gefragt, ein wenig Salz in die Wunde streuend – wie tolerant war Johannes Reuchlin tatsächlich – also: mit welchen Erwartungen kann sein „Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“ im Jahr 2022 gelesen werden? Reuchlin war sicherlich nicht tolerant in unserem heutigen, von der Aufklärung geprägten Sinne. Er war davon überzeugt, dass es gut und notwendig war, Juden zu bekehren. Auch ging er fest davon aus, dass die Wahrheit allein beim Christentum liegt – was sind sicher nicht mehr unsere Überzeugung ist, aber tolerant in einem ganz ursprünglichen Wortsinn. Er war bereit hinzunehmen, zu ertragen, dass es Menschen anderen Glaubens gibt und dass solche Menschen auch andere Überzeugungen hatten. Er tritt in seinem „Ratschlag“ offensiv und auch durchaus mutig dafür ein, dass Menschen, mit denen er nicht einer Meinung war, jede Lehre vertreten und weitertragen durften. Juden waren Mitbürger und hatten Rechte, die man nicht einfach schmälern durfte. Sie sollten ihren Glauben leben dürfen, egal, ob das den Christen gefiel oder nicht. Das ist eine ganz wichtige Wegmarke aus meiner Sicht in der jüdisch-christlichen Geschichte. Bücher waren das zentrale Mittel, Wissen zu erwerben und zu verbreiten. Ein Angriff auf Bücher war für Reuchlin immer ein Angriff auf Wissen und Wahrheit. Ich glaube, dass die zentrale Botschaft seines Textes für uns immer noch aktuell ist: Wenn du etwas für falsch hält, beschäftigen dich erst einmal damit und verdamme es nicht, informiere dich, lies Bücher – dann kannst du immer noch anfangen, mit guten Gründen zu streiten. Was man für falsch hält, hat Reuchlin zufolge einen Platz in der Welt. Und: man kann daraus lernen.

Johannes Reuchlin: „Ratschlag, ob man den Juden alle ihre Bücher nehmen, abtun und verbrennen soll“, herausgegeben und übersetzt von Jan-Hendryk de Boer, Reclam, 178 Seiten, 6,80 Euro. (Das Beitragsbild ist von Andrea Friedel)

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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