Rezension: Unheimliche Begebenheiten

Hartmut Lange lässt in seinen fantastischen Erzählungen deutsche Geschichte und Gegenwart aufeinanderprallen.

Literatur hat ihren eigenen Wahrheitsgrund. Man liest den ersten Satz bei Franz Kafkas Verwandlung: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Seltsamerweise fragt sich danach niemand, ob eine derartige Metamorphose möglich ist. Schon bei den alten Germanen wechselten Götter ihre Gestalt wahlweise in Stuten, Fliegen oder Lachse. Bei Ovid verwandelten sich Könige in Wölfe und Nymphen in Lorbeer. 2012 erhielt Woody Allen den Oscar für das Drehbuch von „Midnight in Paris“, eine romantische Filmkomödie, in der ein Drehbuchautor allabendlich von einem Oldtimer in unserer Gegenwart abgeholt und ins Pariser Nachtleben der 1920er Jahre gefahren wird, wo er längst Verstorbene wie Ernest Hemingway oder Josephine Baker trifft.

Wenn der Berliner Schriftsteller Hartmut Lange nun mit „Der Blick aus dem Fenster“ acht unwahrscheinliche Erzählungen vorlegt, steht er in dieser fantastischen Erzähltradition. Bereits 2011 ließ Lange in seinem hochgelobten Band „Im Museum – Unheimliche Begebenheiten“ Exponate aus dem Deutschen Historischen Museum in Berlin lebendig werden, des Nachts längst Verstorbene Hochzeit feiern, eine Wärterin spurlos verschwinden.

Dieses Merkwürdigkeiten gehen in „Der Blick aus dem Fenster“ weiter, wo Engelsstatuen in den Himmel abheben, das unruhige Meer einen Amoklauf provoziert, plötzlich die Jüdin Rahel Varnhagen aus dem 19. Jahrhundert in den heutigen Baustellen von Berlin-Mitte auftaucht und gleich zu Beginn ein Gemälde des französischen Impressionisten Gustave Caillebotte beschrieben wird, bevor der Ministerialbeamte Giselher Reinhardt behauptet, „dass es von seinem Zimmer aus, wenn das Fenster geöffnet war, einen ähnlichen Ausblick gab“. Abends bildet sich der Mann sogar ein, „er sähe, wie auf dem Gemälde von Caillebotte, statt der Autos, die den Platz überquerten, tatsächlich einige Kutschen“.

Diese Figur des Ministerialbeamten ist typisch für die Geschichten Langes, in denen immer wieder vernünftige Menschen aus dem scheinbaren Nichts heraus irritiert werden. Es sind kurze Erzählungen, sehr oft Novellen, in denen sich wie von Geisterhand eine zweite Realität über die Gegenwart schiebt. Auch für Reinhardt gelten „ausschließlich alle Absprachen, alle Verpflichtungen, die er dem Ministerium gegenüber, in dem er arbeitete, eingegangen war“.

Er lebt allein, pflegt „keine unnötigen Bekanntschaften“, ist nüchtern, verlässlich, neigt nie zu Überspanntheiten. Aber er sieht Kutschen und aus einer dieser Kutschen steigt jede Nacht eine Frau aus. Sie wartet ohne Schirm im Regen. „Gnädige Frau“, will er rufen, „fahren Sie, um Gottes willen, wieder nach Hause. Sie sehen doch, es hat keinen Zweck, hier immer und immer wieder zu warten.“ Was geschieht dann? Nicht viel. Die Geschichte endet mit den beschwörenden Gedanken Reinhardts, der hofft, dass es irgendwann wieder still sein würde: „Und er war froh, dass er dann keine Mühe mehr haben würde, sich mit einer Person bekannt zu machen, die nicht von dieser Welt, aber von einem berühmten Maler wenigstens überliefert war.“

In einer Zeit, in der von Autoren wahlweise der Meta-Berlinroman, die literarische DAX-Analyse oder ein versgebundener Armutsbericht erwartet wird, kommt Hartmut Lange mit immer wieder aufs Neue „unheimlichen Begebenheiten“. Dabei war er zu Beginn seiner Karriere ein engagierter politischer Dramenautor, der Anfang der 1960er Jahre im Ostberliner Milieu um Peter Hacks und Heiner Müller reüssierte, an die Veränderbarkeit des Sozialismus glaubte, dann aber bitter enttäuscht in den Westen ging. Dort veränderte sich sein Schreiben. Obwohl er in den 1970er Jahren an verschiedenen Theatern beschäftigt war, auch fürs Fernsehen arbeitete, wandte er sich 1979 mit Die Selbstverbrennung einer philosophisch inspirierten Prosa zu, die stets knapp gehalten ist. „Diese Form ist in mir angelegt“, sagte er einmal, „ich schreibe ja wie Kleist. Bei mir wäre selbst der Zauberberg nur 30 Seiten lang.“

Den Kleist-Preis bekam er trotzdem nicht, dafür den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 1998, den Italo-Svevo-Preis 2003 und gerade erst das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Ein Geheimtipp unter Literaturkennern, ein writer’s writer, blieb er die ganze Zeit. Trotz überschwänglicher Rezensionen verkauften sich Langes Bücher selten gut. Das 1973 bei rororo veröffentlichte Kinderbuch „Rätselgeschichten“ ist nach wie vor seine auflagenstärkste Arbeit. Es wird also höchste Zeit, in das Werk dieses geheimnisvollen Autors einzusteigen und Der Blick aus dem Fenster eignet sich dafür ganz besonders. Denn hier spielt Lange zahlreiche Motive und Themen seines Schaffens in konzentrierter Form durch – die kürzeste Geschichte ist gerade einmal sechs Seiten lang.

So geht es, wie bereits 1984 in „Die Waldsteinsonate“, in den Führerbunker kurz vorm Selbstmord der nationalsozialistischen Führungsriege. Während der wiederauferstandene Komponist Franz Liszt in der ersten Geschichte panisch die Ermordung der Goebbels-Kinder zu verhindern sucht, ist es nun in „Nochmals: Das Böse“ Hitlers Geliebte Eva Braun, die nach der Blitzhochzeit und kurz vorm Suizid zweifelt, ob es wirklich unumgänglich sei, „mit jemandem, den die ganze Welt, und über Jahre hinweg, zu fürchten hatte, auch noch zu sterben?“

Wenige Seiten zuvor wandelt ein Amokläufer nach seinem Tod weiterhin an der Irischen See und trifft täglich auf jene zwölf Menschen, die er erschossen hat und die sich nicht zufriedengeben wollen mit der Begründung, „die See“ habe ihn motiviert. Bei Lange ist den Toten gegenüber Rechenschaft abzulegen, sie kommunizieren untereinander, sie leben weiterhin unter uns, aber nicht nur in Form von Geschichtsbüchern und Museumsexponaten.

Ebenfalls 1984 erschien Langes „Die Heiterkeit des Todes“, in der sich ein Zuschauer echauffiert, weil er am Grunewaldsee beobachten muss, wie eine ermordete Jüdin mit ihrem später gehenkten Nazi-Schlächter poussiert. Wie unheilvoll hätte jener Satz der Jüdin interpretiert werden können: „Man soll die Toten in Ruhe lassen, besonders wo sie euch überlegen sind!“ Gemeint ist nicht, dass der Terror des Nationalsozialismus in Wirtschaftswunderweise unter den Teppich gekehrt werden sollte. Im Gegenteil. Lange erinnert immer wieder eindrücklich, was geschieht, wenn Individuen zu reinen Opfern gemacht und dadurch entindividualisiert werden.

In der Literatur und im Tod, die beide ihren eigenen Wahrheitsgrund haben, ist eine neue, vielleicht sogar noch schrecklichere Sicht möglich, wie in einer weiteren Geschichte des neuen Lange-Bandes. Die Begegnung stellt die große Rahel Varnhagen von Ense vor, die im Berlin unserer Tage auftaucht, sich nach Zeugnissen ihres berühmten Salons in der Behrenstraße erkundigt, um nach Belegen ihrer eigenen Unsterblichkeit zu suchen, aber dann vor einer grausamen Entdeckung steht.

„Die Behrenstraße ist nun allerdings ein Bereich, der das Denkmal für die ermordeten Juden Europas eingrenzt, und wer dem Areal, es sind immerhin neunzehntausend Quadratmeter, näher kommt, der kann sich der schwarzen Steinwüste, die er vor Augen hat, nicht entziehen. ‚Sie geht also‘, dachte ich, ‚geradewegs dorthin, um sich davon zu überzeugen, dass ich mit meinen Andeutungen recht hatte. Denn dort‘, dachte ich, ‚hat man ein für allemal dokumentiert, dass sie, die Jüdin, in ihrem Wunsch zu überleben nichts weiter zu erwarten gehabt hätte als ihre Auslöschung.‘“ Dieses Buch lässt den Leser verstört zurück.

Hartmut Lange: „Der Blick aus dem Fenster“, Diogenes, 112 Seiten, 19 Euro

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