Rezension: Feier des Wahnsinns

Eine ätherische Tänzerin, wechselnd zwischen Euphorie und Selbstzerstörung, eine schamlose Liebhaberin, eine strenge, dann wieder tausende Küsse verschenkende Mutter, eine Kleptomanin, die nicht nur Kosmetika, sondern ganze Leben stiehlt – das ist Catherine aus dem autobiographischen Debütroman „Die Entflohene“. Violaine Huisman erzählt in drei Teilen von einer Malträtierten, einer Manisch-Depressiven, einer Bulimikerin und Partylöwin, deren Leben auf schicksalhafte Weise mit dem der Autorin verknüpft ist. Es ist das Leben ihrer Mutter. „Maman war eine der schönsten Frauen der Welt. Das sagten alle, die sie zu ihren Glanzzeiten erlebt hatten, und ihre Schönheit war für sie selbst mindestens genauso fatal wie für die Männer und Frauen, die ihr verfielen.“

Aber diese Frau war auch eine Gewalttäterin, eine Egozentrikerin, eine rasende Tyrannin: „Meine Schwester war immer mutiger als ich und steckte dafür ernsthafte Prügel ein. Ich weinte vor Feigheit, ich schluchzte, ich Ärmste, weil es so ungerecht war, dass ich nicht die Schläge bekam, die wir beide verdienten, weil wir ihr nachspioniert, ihre Autorität in Frage gestellt, sie daran erinnert hatten, wie schwach sie war.“

Kurz vorm endgültig Frieden bringenden Suizid ist die einst Schillernde ein sechzigjähriges Wrack, gestrandet in der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Catherine sieht aus wie eine alte Frau. „Sie humpelte, ihr Bauch war ausgeleiert, ihr seidiges Haar spärlich, die Hände mit dicken Adern überzogen, als kröchen Würmer darüber, ihre Haut war trotz der Bräune durch die Sonne Afrikas grau.“ Das Rentenalter wird diese Frau nicht erreichen. Catherines Konstitution ist nicht für einen Ruhestand gemacht. Ihr Leben besteht aus Extremen, im Kopf gewittert es. Auf den Trümmern ihrer durch Missbrauch und Kälte geprägten Kindheit erfindet sich diese Frau als Femme fatale. In jedem neuen Mann ersehnt sie die finale Rettung.

Violaine und ihre Schwester (der das Buch gewidmet ist) sind der flirrenden Irrsinn ihrer Mutter ausgeliefert, arrangieren sich mit dem heißen Wechsel aus Gewalt und Liebesgüssen, aus Stabilität und alles niederbrennendem Chaos, ohne eine stetig anwesende Vaterfigur an ihrer Seite zu haben. Die Männer wechseln wie Catherines Kostümierung: „Maman versteckte weder ihren Körper noch ihre Liebhaber, und die ständige Parade von ebenso unbeschreiblichen wie unterschiedlichen Exemplaren verlieh unserer Wohnung den Hauch einer freak show – in der normale Leute auffielen wie Anomalien auf dem Basar der Bizarrien, in dem wir aufwuchsen.“

Huisman ist als 19-Jährige von Paris nach New York geflohen, wo sie inzwischen Literaturfestivals organisiert, als Lektorin arbeitet und aus dem Amerikanischen ins Französische übersetzt. Sie schreibt ihre Geschichte aus der „Wir“-Perspektive, liefert weder sich noch ihre Leser schutzlos der mütterlichen Krankheit aus. Diese Haltung ist genretypisch – viele Depressionsgeschichten werden aus der Position des Geheilten geschrieben, mit sprachlichen und therapeutischen Sicherungsleinen. Obwohl „Die Entflohene“ ihrer Hauptfigur sehr, sehr nahe kommt gibt einen Abstand zur Kindheit. Es ist eine Kindheit, die die Autorin als glückliche erinnert, von außen betrachtet aber traumatisierend klingt:

„Es war eine Herausforderung, zwischen Papas Stippvisiten, Mamans rußiger Küche, den Feuerwehrmännern und der Parade von Liebhabern – Männer, Frauen, Junge, Alte, Junkies, Alkoholiker, der Metzger, der langjährige Freund, die neue Bekanntschaft, der neue Kandidat, alle drei gleichzeitig –, eine Lücke zu finden, um den Stoff für den Geschichtstest zu wiederholen oder unsere Lateinübersetzungen vorzubereiten.“

In den vergangenen 45 Jahren hat die künstlerische Beschäftigung mit der Seelenzergliederung einen erstaunlichen Werdegang hingelegt. Es gab schon früher Veröffentlichungen, wie Hannah Greens autobiographischer Psychoseroman „Ich hab Dir nie einen Rosengarten versprochen“ aus dem Jahr 1964. Doch erst mit den 1970er Jahren nahm die Sache Fahrt auf. Es wurde vor allem in den Großstädten der USA chic im therapeutischen Jargon über seine Psychoanalyse zu sprechen. Seelische Notlagen galten plötzlich als Krankheiten, die auch medikamentös behandelt werden konnten. 1975 meldete der Pharmakonzern Eli Lilly ein Patent für Fluoxetin an. Es war nach Zimelidin der zweite Arzneistoff der Antidepressiva-Generation der sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. In den USA wird Fluoxetin seit 1988 unter dem Handelsnamen Prozac verschrieben.

Ken Keseys „Einer flog über das Kukucksnest“ wurde 1975 von Miloš Forman verfilmt – mit Jack Nicholson in der Hauptrolle. 1983 schnitt sich der Punkautor Rainald Goetz während seines Vortrags beim Klagenfurter Bachmannwettbewerb in die Stirn und veröffentlichte im gleichen Jahr seinen Psychiatrieroman „Irre“. Dann kamen die Selbstbetrachtungen: 1991 veröffentlichte der US-Amerikaner William Styron mit „Sturz in die Nacht“ das erste und auch folgenreichste Depressions-Memoir.

In den späten Neunziger Jahren wurde Magersucht zu einem popkulturellen Phänomen in den „Heroine Chic“-Kampagnen unter anderem von Calvin Klein, mit leichter Verspätung 2004 bei Kerstin Grethers Debütroman „Zuckerbabys“. 2015 erzählt Sandra Weihs in ihrem ersten Roman „Das grenzenlose Und“ von einer jungen Borderlinerin, ein Jahr später Thomas Melle mit „Die Welt im Rücken“ von seiner Bipolaren Störung. 2017 fand in Deutschland die erste literaturwissenschaftliche Tagung über die „Ästhetik des Depressiven“ statt.

Das Thema ist gesetzt – aber es wird nur selten so fein behandelt wie in „Die Entflohene“, wo Violaine Huisman die hier Krankheit als Ereignis inszeniert. Ihr atemloser, geradezu stenographierter Roman besitzt eine lakonische Menschlichkeit, an die sich spätere Generationen erinnern werden, wenn das unternehmerisch optimierte Selbst nicht mehr erschöpft oder rasend sein darf, sondern von Computerprogrammen gemanaged wird.

Bereits jetzt gibt es Apps, die Namen haben wie „Skills2Go für Borderliner – Dein digitaler Notfallkoffer“ oder „Moodpath: Dein Begleiter bei Depression, Burnout & Stress.“ Im November 2018 stellte Facebook-Chef Mark Zuckerberg einen Algorithmus vor, der anhand von Timeline-Posts erkennt, ob ein Nutzer depressiv oder suizidgefährdet ist. In den damals zurückliegenden zwölf Monaten hat dieser Algorithmus zu 3500 Einsätzen von Ersthelfern geführt. Ein Leben wie das von Catherine wird schon bald der Vergangenheit angehören, denn bevor es ins krankhaft Orgastische oder Tiefdepressive ausschlagen kann, kommt der Arzt.

Violaine Huisman: „Die Entflohene“, aus dem Französischen von Eva Scharenberg, S. Fischer, 256 Seiten, 22 Euro

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