Rezension: Tinder und Titanen

In seinem zweiten Roman erzählt Emanuel Maeß opulent von einer fatalen Dreiecksbeziehung, die auf besondere Weise nach einer Einheit von „vita activa“ und „vita contemplativa“ sucht. „Alles in allem“ fragt nach dem Heiligen in profanisierten Zeiten. Unser neuer Gott ist: die Liebe.

Gewaltig sprang das Herz Mechthild von Magdeburgs, als sie im 13. Jahrhundert ausrief: „minne mich gewaltig, und minne mich oft und lang“. Diese durchaus sexuell gemeinten Worte galten mitnichten einem edlen Ritter, sondern dem geheiligten Vater im Himmel. Wenig überraschend ist, dass spätmittelalterliche Mystikerinnen wie Mechthild von Magdeburg heutzutage wunderlich erscheinen in ihrem innbrünstigen Wunsch, das Göttliche ganz und gar in sich aufzunehmen. Es gab zu ihrer Zeit Beginen, die spürten die Gegenwart Gottes so konkret, dass sie glaubten, schwanger zu sein wie einst Maria mit dem Jesuskind.

Valentinstag, statt Pfingsten

Inzwischen ist die Religion vielfach ersetzt worden durch gleichsam religiös zelebrierte Liebesbeziehungen zwischen Menschen. Wenn man also vom Zustand der Vergöttlichung reden will, landet man unweigerlich bei der profanen Zuneigung, die bekanntlich ihre eigenen hohen Feiertage hat, wie Jahres-, Hochzeits- und Valentinstag, die nun statt Pfingsten oder Christi Himmelfahrt gefeiert werden. Und man kann durchaus sagen, dass die mittelalterlich-mystische Gottesminne gegen die quasi-religiöse Zelebration fleischlicher Lust ausgetauscht wurde.

Über die Folgen dieses Austausches sinniert der zweite Roman von Emanuel Maeß, über dieses „Alles in allem“, das Zeitgenossen erfüllt, wenn sie ihren Liebespartner ganz und gar in sich aufnehmen und „ich liebe Dich“ sagen auf die gleiche Weise, wie Christen früher bekannten: „Ich glaube an den Heiligen Geist, / die heilige katholische Kirche, Gemeinschaft der Heiligen“ und so weiter.

Idole und Ikonen

Vorgestellt wird ein namenloser Langzeit-Doktorand der Theologie, liiert mit Clara, einer bodenständigen, in einem Berliner Krankenhaus arbeitenden Kinderärztin. Sie ist eine grundsympathische, unaufgeregte Frau des tätigen Lebens. Und auf diese Weise dem Freund entgegengesetzt, der kontemplativ mal mehr, mal weniger versunken ist in seiner nie zum Ende gelangenden Dissertation über „Idol und Ikone. Zur Frage orthodoxer Bildtheorie und Offenbarung in Lehre und Praxis“.

Sein Geld verdient er als wissenschaftliche Hilfskraft an einem Lehrstuhl für Evangelische Theologie, doch obschon er mit heißem Bemühn seit anderthalb Jahrzehnten studiert, steht er ratlos in der Welt. Wenigstens hat er Clara an seiner Seite, die stoisch, zugewandt und freundlich den steinigen Geistesweg ihres Freundes begleitet.

„Um uns nicht gegenseitig ins Gehege zu kommen, lebten wir fast wie in einer WG, jeder in seinem Zimmer. Sie war von einer rührenden Aufmerksamkeit und Sorge, hatte vielleicht keinen ehrfürchtigen, aber doch ehrlichen Respekt vor meiner Arbeit und wollte mich nicht stören. Im Nachhinein erscheint mir die Liebe, die sie zu mir gefasst hatte, sowie das fast unerschütterliche Vertrauen in mich und unsere Zukunft nahezu unbegreiflich und wie ein unverdientes Gnadenwerk, das der Heilige Geist seinem Studiosus im Wein- und Bücherberg abgeworfen hatte.“

Caritas als Liebeskonzept

Clara, die Klare und Schöne, hat er während einer Studienreise nach Israel kennengelernt. Dass sie dort gemeinsam durch trockene Wüsten gewandert sind, soll als Menetekel ihrer Beziehung gelten, in der sie auch die eine oder andere Durststrecke durchmessen. Unmöglich wäre diese Beziehung ohne die Hilfsbereitschaft der aufopferungsbereiten Kinderärztin, die sich offensichtlich der christlichen „Caritas“ verschrieben hat.

Was dieses Paar in Israel keinesfalls ahnte, ist, dass nicht nur der Weg durch die Wüste, sondern auch ihr Besuch im Katharinenkloster am Fuße des Berges Sinai auf ihr späteres Verhältnisses hinweist. Denn nach etlichen Jahren, inzwischen sind beide Mitte Dreißig, findet eine Luthertagung in Wittenberg statt und eben da ist Katharina zugegen, eine bildende Künstlerin, ebenfalls aus Berlin, die gerade ihre Installation zu Mechthild von Magdeburg aufgebaut hat. Der Ich-Erzähler fängt sofort Feuer. Unweigerlich denkt man an jenen brennenden Dornbusch, durch den Gott – natürlich am Berge Sinai – einst erschienen ist.

„Mechthild, sei das nicht die, die einmal geschrieben habe: ‚O Herr, minne mich gewaltig, und minne mich oft und lang …’? Weiß Gott, nicht mein hellster Moment, noch dazu in unseren aufgeregten Zeiten. Immerhin muss ich dabei aber so trocken und seriös gewirkt haben, dass sie den Ball amüsiert aufnahm und sich nunmehr ein feinsinniges Gespräch über die deutsche mystische Tradition entspann, die mir gerade über Eckhart und Tauler immer eine Herzensangelegenheit gewesen war.“

Dem Himmel sei Dank

Ausgehend von dieser theologisch-künstlerischen Begegnung entwickelt sich eine zunächst als Betrug angelegte Dreiecksgeschichte. Nun ist die „Ménage à Trois“ überliefert aus uralten Zeiten, lange vor jenen Überlegungen zur christlichen Trinität, dieser ganz speziellen Dreiecksbeziehung, die das Verhältnis von Vater, Sohn und Heiligem Geist umschreibt. Doch gelingt Maeß’ Roman, eben diese alte Geschichte neu zu erzählen – bildungssatt, mäandernd, als Anlass einer höchst kuriosen Suche. Es ist die Suche nach der Möglichkeit des Heiligen in unserer Gegenwart. Einer Gegenwart, die ihre Idole und Ikonen längst profanisiert hat und seitdem hilflos nach einem Ersatz für das Vergötterte sucht.

Während der Wittenberger Tagung ahnt Clara im hundert Kilometer entfernten Berlin-Friedenau nicht, dass ihr Partner beim Austausch über die spätmittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart, Johannes Tauler und Mechthild von Magdeburg einen folgenschweren Betrug einleitet, und diesen, kaum zurück in Berlin, weitertreibt. „Ich verfasste ein paar E-Mails, die ich, dem Himmel sei Dank, nicht abschickte. War es nicht doch ein höheres Zuspiel gewesen? Wittenberg, Reformation, ein Lutherweg in eine neue Lebensepoche, mit dieser Frau als Zwischenposten (einer Katharina oder Mechthild, man würde schon sehen)!“

Kaffee und Lillet

Dem Himmel sei Dank – zu solch biblischen Bildern greift „Alles in allem“ permanent. Doch bevor diese Beziehung den Himmel erobert, geht es förmlich zu zwischen Katharina und dem innerlich gestimmten Erzähler. Ein sittsamer Spaziergang durch die Eislebener Senke, ein Treffen im Steglitzer Café Baier, ein gemeinsamer Besuch des Sonntagmorgengottesdienstes in einer katholischen, etwas obskuren Gemeinde im Wedding mit anschließendem Gang über den Trödelmarkt am Tiergarten, bis die beiden endlich bei Kaffee und Lillet in Katharinas Wohnung zusammenkommen.

„Sie saß am Ende nur noch betroffen da, und als ich mich fragte, ob ich jetzt zu weit gegangen war, lehnte sie sich mir entgegen, sah mich eindringlich mit ihren großen Augen an und teilte mir mit, dass sie nun nicht mehr reden wolle. Nun hätte ich gerne noch irgendetwas Durchdachtes gesagt, machte, soweit ich mich erinnere, sogar den Vorschlag, dass man sich doch nächsten Sonntag in einer orthodoxen Kirche treffen könne. Und dann küssten wir uns (es gab nun auch wirklich keinen Ausweg mehr).“

Sechzig Seiten braucht Emanuel Maeß’ „Alles in allem“, bis sich der erste Kuss ereignet, und dann weitere zehn Seiten, um diesen Augenblick „eines weniger physischen als sphärischen Grenzübertritts“ zu beschreiben. Der Kuss steht am Anfang einer nun über 300-seitigen Zelebration, einer „missa privata“, die stattfindet zum Anlass der stetigen, bis an den Rand des Wahnsinns reichenden Vergöttlichung Katharinas. „Die so rätselhafte wie zwingende Souveränität ihrer ganzen Flügelkonstruktion war Ausdruck einer Sprache, die ich nicht verstand, eine so vielsagende wie hermetische Ansammlung von Zeichen und unbeantwortbaren Fragen aus einem Bereich, der untrüglich, nicht korrumpierbar, durch nichts in Zweifel zu ziehen war.“

Mehr Naturereignis, als Mensch

Der Zweifel ist dem Gottesfürchtigen verboten, woran hinlänglich Søren Kierkegaard erinnert hat, der im Roman auch seinen Auftritt bekommt mit seinem hinreißen „Tagebuch des Verführers“. Und verführt schlittert der Erzähler peu a peu in eine toxische Beziehung. Anders als Clara ist die heiß geliebte Katharina eine höchst komplizierte Frau, die eher zufällig im Leben des Helden auftaucht, um sich immer wieder zu entziehen, mehr Naturereignis als Mensch.

„Und wie der Mond zu- und abnahm, unauffällig seine Bahnen zog und erst am Abend auf sich aufmerksam machte, so verhielt es sich auch mit Katharina. Denn irgendetwas wies mehr oder minder zyklisch auf sie hin. Mal erschien sie blass und vergessen, dann wieder leuchtete sie rund und schön und überstrahlte in klaren Winternächten die ganze Künstlichkeit meiner nahezu sternelosen Metropole.“

Als widersprüchlich wie der ganze Götterhimmel bezeichnet sich Katharina selbst, und man könnte Mitleid haben mit diesem hoffnungslos verfallenen Erzähler. Gleich der ganzen, also auch der antiken Götterwelt, sieht er sich irgendwann gegenübergestellt. Pikant, dass dieser Betrug als eine Liebe geschildert wird, die größer kaum sein könnte. Immer neue Bilder werden aus dieser Götterwelt herangezogen, um das Vorzügliche dieser Frau anzubeten.

„’Ich hätte dir übrigens fast Sonette geschrieben.’ ‚Echt?’, fragte Katharina und warf mir einen halb verwunderten, halb anerkennenden Blick zu. ‚Warum hast du’s nicht getan? Dafür bin ich doch da.’ ‚Um verklärt und gelobpreist zu werden?’ ‚Ach, also irgendwo schon. Es gibt einen Teil von mir, der das lächerlich gefunden und die Typen bemitleidet hätte, die mir so was schicken. Der andere Teil, und zwar der, auf den es ankommt, hätte gewusst, dass du alles richtig gemacht hast. Vorausgesetzt natürlich, die Verse taugen was.’“

Nichts gegen Vulven

Es ist nicht das erste Mal in der deutschen Literaturgeschichte, dass die vermeintlich größte Liebe auf einem Betrug basiert. Schon im „Tristan“-Versepos Gottfried von Straßburgs wagen Tristan und Isolde eine heimliche Liaison. Das mittelalterliche Paar betrügt den König, nachdem sie irrtümlicherweise einen zauberhaften Liebestrank geteilt haben. In Emanuel Maeß’ „Alles in allem“ ist Lillet der Zaubertrank, der zum endgültigen Grenzübertritt führt. Und diese „Tristan“-Analogie ist keinesfalls zufällig. Dieser Roman ist durchwirkt von Gottfrieds Versepos. „Selbst die Lust verlangte nach dem Widerstand, den sie überrennen konnte (hätten sich Tristan und Isolde über Tinder verabreden können, wäre aus der Affäre kein Versepos, geschweige denn eine fünfstündige Oper geworden).“

Im Roman wird sexuelle Annäherung direkt mit der Schau Gottes gleichgesetzt. Anfang des 13. Jahrhunderts war diese Analogie brandgefährlich. Durch den Orgasmus zum Höchsten? Gottfried von Straßburg stand unter Häresieverdacht. In dieser Gefahr steht Emanuel Maeß nicht, doch schweben auch Katharina und ihr Verehrer beinahe gen Himmel, wenn sie nackt im Bett liegen. „Nun war gegen Vulven wirklich nichts einzuwenden, auf evangelischen Kirchentagen wurden seit Kurzem Workshops zum Vulvenmalen angeboten, ganz zu Recht, denn gelegentlich mochte der Aufstieg zu Gott auch durch eine Vulva führen.“

Der Betrug fliegt auf

Es ist ein kluger Griff, die Hauptfigur als verschrobenen Theologen vorzustellen. So glaubt man den Worten dieses vergeistigten Nerds, der zu immer neuen Gottesanalogien greift und dabei eher täppisch durchs Leben taumelt. Hilflos ist er der ätherischen Katharina ausgeliefert. Ganz anders wird Clara gezeichnet, die souveränste Figur, die sich – anders als der betrogene König Marke im „Tristan“ – rasch ein umfassendes Bild der Lage macht.

„Irgendetwas musste sie dazu veranlasst haben, mein inneres Leuchten einer genaueren Prüfung zu unterziehen und umfangreiches Datenmaterial auszuwerten, das ich ohne weitere Sicherheitsvorkehrungen in verstreuten Ordnern auf meinem Rechner angesammelt hatte, zumeist studienrelevante Notizen und Sekundärliteratur, aber auch ein Tagebuch und eine gesonderte Datei mit dem stimmigen, aber unnötig bedeutungsvollen Titel ‚Katharinenkloster’. Vielleicht hatte sie nur gemeinsame Erinnerungen auffrischen wollen, war dann aber auf Schilderungen weniger christlichen Inhalts gestoßen und ihnen bis zu einem Punkt gefolgt, der ihre sonst hohe Frustrationstoleranz doch etwas überstieg.“

Apokalypse, now

Obwohl der Schleier hinabgerissen, der Betrug offensichtlich ist, will der liebestolle Held in Katharinas Nähe bleiben. Er begehrt diese Nähe, ist angefixt vom toxischen Liebesspiel, das er selbst irgendwo zwischen Gaslighting, Ghosting, Benching und Orbiting verortet. In diesen helleren Momenten wird ihm klar, dass er besser mal die Schriften des großen Militärstrategen Clausewitz gelesen hätte, damit er dieser beinahe kriegerischen Begegnung gewachsen ist. Er fühlt sich „ziemlich mitleidlos“ erwählt, einberufen, herumkommandiert – wie ein Soldat.

„Ihr Wochenplan war angefüllt mit unüberwindbaren Hindernissen, aber auch sonntags hielten sie Anfälle plötzlichen Unwohlseins immer wieder davon ab, mit mir durch den Tiergarten zu schlendern, Tosca oder auch nur einen Tatort miteinander zu sehen.“

Die Sehnsucht, die vor allem Sucht ist, stillt der Theologe in einsamen Stunden mit umfangreichen Internetrecherchen. Über Accounts von Katharinas Freuden findet er Fotoserien, Bilder von einer Lesung im Künstlerhaus Edenkoben, ein verwackeltes Handyfoto kurz vorm Bungee-Sprung. Dann eine Aufnahme auf dem Wacken-Festival: von oben bis unten ist Katharina mit Schlamm bespritzt, im Stil einer keltischen Nymphe oder Druidin, schwarz und rot geschminkt, mit wildem Gesichtsausdruck, streckt sie dem Betrachter das Victory-Zeichen entgegen.

Platon, Plotin und Cusanus

Doch diese wechselhaften, also deutlich narzisstischen Abbilder sind ein schales Substitut. Sie vergrößern den Wunsch nach echter, fleischlicher Nähe. So, wie sich die mittelalterlichen Mystikerinnen in ihrem wahnhaften Glauben verloren haben, fällt der Unglückselige, der sich doch nichts sehnlicher wünscht, als dass Katharina – dem Romantitel entsprechend – „herrscht über alles und in allem.“

So steht es im Korintherbrief. In der Bibel umschreiben die Zeilen einen Zustand nach der Apokalypse. Gemeint ist, dass sich dann sogar Christus seinem Gott unterwirft, der daraufhin jede Erscheinung des Universums alleinherrschend ausfüllt.

Emanuel Maeß ist ein gewaltiges, aber auch höchst verführerisches Wagnis eingegangen mit seiner fortdauernden Gedankenschau und dem Aufrufen großer Gefühle. Augustinus und Platon, Plotin und Cusanus sind Gewährsmänner für die paranoid geschilderte Intellektualisierung einer höchst verwickelten Liebesgeschichte. Wahnhaft erscheint dieser Held, wenn in seinen Ansichten selbst die höchsten Bauwerke gegenüber Katharina verblassen. „Man ahnt, wo das hinführen soll, aber Katharina mit einer Kathedrale zu vergleichen, greift natürlich etwas zu hoch (für die Kathedrale). Chartres war ein gotisches Wunder aus Schönheit und Licht, aber auch ein Menschenwerk, das in hundert Metern Höhe endete, während Katharina aus der Nähe in jeder Weise unüberschaubar blieb.“

Glücklicherweise kommentieren zahlreiche Gefährten die Liebestollheit dieses unrettbar verzauberten Helden. So entsteht immer wieder eine ironische Distanz, sobald sich Katharina entzogen hat und der Held notwendigerweise in den Austausch mit anderen Menschen gerät. Als „Drache“ wird die Geliebte von einer dieser außenstehenden Figuren bezeichnet. Und wenn eine andere Frau den Theologen zu einer Nacht im Swingerclub überredet, bekommt der Text einen hochkomischen Zungenschlag, weil der nicht stillstehende Reflexionszwang herrlich schräg zum verschwitzen Geschehen steht.

Sitzecke statt Swingerparty

„Das Denken nämlich war voll in Fahrt, sobald man sich ein wenig ausklinkte und aus sicherer Randlage auf das etwas verschärfte Symposion blicken konnte (ich wäre bei Weitem nicht der Einzige gewesen, der gekommen war, um angeregte Unterhaltungen zu führen). Man konnte ab- und wieder auftauchen und vermutlich auch sternenweit nach oben geraten. Ich erreichte jedenfalls solche Höhen der Melancholie, dass ich ohne Weiteres an meinen Sonetten an Katharina hätte weiterdichten können, wenn ich eine ruhige Sitzecke gefunden hätte.“

Der Roman endet in der griechischen Orakelstadt Delphi mit ihren Statuen, Säulen und Göttertempeln. Hier erfährt der Erzähler noch einmal die Zuneigung Katharinas, aber auch eine Ernüchterung. Die alte Pilgerstraße, inzwischen dreispurig, ist schon in den Morgenstunden stauanfällig, nichts deutet auf ihre ursprüngliche Bedeutung hin. Nur in dunklen Stunden der Nacht ist an diesem Ort eine letzte Entrückung wahrscheinlich – allerdings in zwei entgegengesetzte Richtungen.

„Nun ahnte Katharina vermutlich etwas, das selbst Empedokles nicht klar gewesen war, nämlich dass man dieser Liebe auch entgegenkommen konnte, wenn man sich gewissermaßen freiwillig und schon in vorausschauender Eigeninitiative auseinanderriss. Man musste nur ein geeignetes Verfahren finden, dann flog der eine Teil Richtung Zentrum, der andere Richtung Peripherie. Und während wir liebend immer ineinander liegen werden, in jenem Zimmer über Galaxidi, das uns trotz seiner bescheidenen Enge so weit ins Universum blicken ließ, dass wir vorübergehend selbst zum Universum wurden, schleuderte es den Rest von uns weit hinaus.“

Das Wahre, Schöne, nicht das Gute

Nach einer langen, ekstatischen Heldenreise sitzt der geläuterte Erzähler auf dem Boden der Tatsachen, zurück in Berlin-Lichterfelde. Er ist müde, allein, aber er ist auch angekommen. Seine Erschöpfung hat etwas Tröstliches, denn es gibt einen Weg aus den Höllenkreisen, die manchmal mit der Liebe gleichgesetzt sind. Und welch ein Glück, dass Emanuel Maeß diese Amour fou ersonnen hat, diese manische Suche nach der Möglichkeit des Heiligen in religiös entwürdigten Zeiten.

„Alles in allem“ erzählt ohne Geländer vom Wahren und Schönen, das – Gottfrieds „Tristan“ hat es vorgemacht – nicht immer das Gute braucht. Und trotz der Absenz dieses Guten erscheint dieser Roman neoklassisch in der Weise, wie er Tinder und Titanen, Lichtwesen und Jim Jarmuschs Vampire aus höheren Gründen verbindet. Emanuel Maeß’ Kathedralen durchwandernder Roman erscheint selbst kathedral, und man möchte ihn gleichwertig neben Chartres und Katharina stellen.

Emanuel Maeß: „Alles in allem“, Rowohlt Berlin, 400 Seiten, 24 Euro

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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