Die schönsten Bilderbücher im Mai

Fühlen, anfassen, staunen: die neuen Bilderbücher dieses Monats wandern Küsten entlang, besuchen Tiere mit den genialsten Nasen, schauen gen Himmel, wo die Wale ziehen – und fragen mit den Allerkleinsten: „Entdeckst Du eine fröhliche Raupe?“

Reizarm ist der Blick von der Küste aufs weite Meer. Wer jedoch andersherum vom Meer aus in Richtung Festland schaut, sieht eine überaus reiche Welt, die die Autorin Judith Hamoki und der Illustrator Martin Haacke in einem Sach-Wimmelbuch vorstellen. Noch einmal können Leserinnen und Leser an der französischen Riviera der 1950er Jahre flanieren, die Fischer von Dakar bei ihrer Arbeit bestaunen und den Geburtstag der hinduistischen Ganesha-Gottheit an den Küsten Indiens begehen: “Überall gibt es dann Ganesha-Figuren. Sie werden in den hinduistischen Tempeln und zu Hause verehrt. Ganesha nascht gerne, darum backt man ihm zu Ehren süße Leckereien. Zum Abschied werden die Statuen dem Meer übergeben. Ganesha soll sich im Wasser auflösen, damit er im nächsten Jahr wiederkehren kann.“

Im senegalesischen Dakar schweift der Blick von den acht bis zwanzig Meter langen, „Pirogen“ genannten Holzbooten zu einer Feuerstelle, wo „Ceebu Jen“, das Nationalgericht aus Reis und Fisch hergestellt wird, bis zum Horizont, an dem ein ausländischer Trawler im selben Moment den Lebensraum der Einheimischen räubert. Die Küste ist in diesem Buch also nicht nur ein Sehnsuchtsort, sondern auch ein vielfach bedrohter Landstreifen. Die lexikonähnlichen Artikel unter jeder Doppelseite greifen zwar einerseits die Schönheit der Küste auf. Sie erzählen andererseits aber auch, wie Seeleute in Richtung ferner Kontinente aufgebrochen sind/aufbrachen, um andere Völker zu unterwerfen.

Sie beschreiben die Bedeutung des Stockfischs und erwähnen zugleich, dass der Kabeljau inzwischen beinahe ausgestorben ist. In einer Abteilung über den Klimawandel erfahren die Leserinnen und Leser, dass flache Inseln wie die Malediven schon bald untergehen werden und dass Wirbelstürme Salzwasser auf anschließend unfruchtbare Ackerböden treiben. Zugleich gibt es geradezu idyllische Abteilungen, den Blick in eine 300 Jahre alte Kapitänsstube, einen Besuch im Atlantischen Regenwald an der Küste Brasiliens und zur Ablenkung furchtbare Seeungeheuer. (mehr in den Kommentaren)

„Beim Reparieren von Leinen und Trossen an Bord überbieten sich die Männer mit Erzählungen von gigantischen Meeresschlangen, vieläugigen Wasserschweinen, geflügelten Drachen und riesigen Polypen. Der mit Teer umwickelte Faden, mit dem sie das kaputte Tauwerk umwickeln, heißt Schiemannsgarn. Daraus wird der Begriff Seemansgarn für das, was Seemännern in ihrer blühenden Phantasie so alles zusammenspinnen.“

Dieses Buch bietet ausreichend Inspiration für allerlei neues Seemannsgarn. Die Wimmelpanoramen wirken angelsächsisch, man erkennt, dass der Illustrator Martin Haake für den New Yorker, National Geographic und die New York Times gearbeitet hat – seine stilisierten Figuren sind zweidimensional gezeichnet und dennoch höchst unterschiedlich in ihrer Anmutung. Bei näherer Betrachtung erkennt man zwischen den naiv gestalteten Menschen auch simple Silhouetten, die scheinbar aus Papierschnitzeln freigestellt wurden.

Es gibt paralogische Perspektivwechsel, Collageelemente und verschiedene Anlehnungen an ungewöhnliche Künstler, beispielsweise an das Illustratoren-Duo Alice und Martin Provensen, die hierzulande Anfang der 1960er Jahre bekannt wurden durch ihre nach wie vor lieferbare Ausgabe von Homers „Ilias“ und „Odyssee“ – seinerzeit übersetzt vom großen Rhetoriker Walter Jens. Der amerikanische Outsider Art-Künstler Bill Traylor hat nach Aussage Haakes ebenso seine Spuren hinterlassen, wie der Baptisten-Maler Howard Finster, Illustratoren wie Saul Steinberg oder auch der Tscheche Miroslav Šašek, einem der charakteristischen Vertreter des „Mid-century modern“.

So ist dieser Band nicht nur ein Kinder-, sondern auch ein Kunstbuch, eine Seereise von Alaska bis Hawaii, vom Kap Hoorn an der Südspitze Amerikas bis zur Küste Kanadas, der mit 202.080 Kilometern längsten Küste unseres Planeten. Erschöpft und glücklich macht diese Reise. Wer an ihr Ende gelangt ist, fühlt sich wie ein Matrose an Landgang und möchte schnell noch einmal in See stechen und „Am Meer – Die Welt der Küste“ ein weiteres Mal kennenlernen. Judith Homoki (Text), Martin Haake (Illustration): „Am Meer. Die Welt der Küste”, Gerstenberg, 64 Seiten, 28 Euro, ab 8 Jahre

Bilderbücher, die auf kreative Weise unsere Welt sortieren, bilden ein eigenes Genre – zuletzt erschien beispielsweise bei Gerstenberg „(K)eins wie das andere“ von Neil Packer. Eine andere Sortierung allerlei seltsamer Tiere bietet „Geniale Nasen“ von Debütantin Lena Anlauf (seit ihrer Kindheit begeistert vom „Taschen-Brockhaus Tiere“, zudem Lektorin im kunstanstifter-Verlag) und Vitali Konstantinov (der bereits in 40 Ländern seine illustrierten Bilderbücher veröffentlicht hat). Kurzohrrüsselspringer, Teledu und Eselspinguin und ihre höchst unterschiedlichen Nasen sensibilisieren für ein Organ, das immer wieder in der Weltliteratur thematisiert wurde, erfassen wir die Welt durchs Riechen doch auf eine ganz besondere Weise, wovon „Zwerg Nase“, „Das Parfüm“, „Pinocchio“ oder „Tristam Shandy“ umfangreich berichten. Das nun erschienene Bilderbuch sammelt allerlei Kuriositäten, berichtet vom Kaninchennaselbeutler (Bilby), der in Australien als möglicher Osterhase gehandelt wird (weil es beinahe ausgestorben ist – der Verkauf von Schoko-Bilbys hat bereits einen 20 Kilometer langen, raubtiersicheren Zaun finanziert), vom Pinocchio-Baumfrosch, dem Langnasen-Nasendoktorfisch oder auch von Tapiren (die sich mit Rülpsen untereinander verständigen). Neugierig macht, dass der nahezu blinde und gehörlose Sternnasenmaulwurf mit seinem Tentakelorgan sternförmige Bilder seiner Umgebung erzeugt. Natürlich fehlen weder Nasenaffe noch der Ameisenbär und der höchst kuriose See-Elefant, der spätestens seit dem dauerklagenden Seele-fant („Urmel aus dem Eis“) seinen Platz in vielen Kinderherzen gefunden hat. Inklusive Glossar. Lena Anlauf (Text), Vitali Konstantinov (Illustration): „Geniale Nasen. Eine kuriose Tiersammlung“, NordSüd, 64 Seiten, 25 Euro, ab 5 Jahre

Pappbilderbücher für die Allerkleinsten sind üblicherweise Sehschule, Ersatz-Beißring und Badewannenbegleitung. Große Flächen, einfache Plots, eine robuste Aufmachung sind oft wichtiger, als die künstlerische Gestaltung. Besonders werden diese Veröffentlichungen, wenn Illustratorinnen, wie die mehrfach ausgezeichnete Clare Youngs ein Projekt realisiert. Im Insel-Verlag sind zwei Bände mit collagierten Tieren, Glanzvignetten und Spiegelfolie erschienen. Kleinkinder suchen hier den versteckten Vogel unterm aufklappbaren Filz, machen gewiss die Geräusche von Eichhörnchen, Kuh und Mäuschen nach – und sehen sich auf der letzten Seite selbst (zwischen 18 und 24 Monaten wird das eigene Spiegelbild erkannt). Nach der Märchenreihe des Italieners Attilio Cassinelli aus dem vergangenen Jahr die zweite Insel-Entdeckung für die allerkleinsten Leserinnen und Leser. Camilla Reid (Text + Konzept), Clare Youngs (Illustration): „Muh, muh, da ist die Kuh!“ und „Schuhu, da ist die Eule“, aus dem Englischen von Vivien Danne, Insel, 10 Seiten, 10,95 Euro, ab 1 Jahr

Seit jeher werden in den USA Geschichten über feindliche Invasionen erzählt. In zahlreichen Science-Fiction-Filmen überfallen Außerirdische die Erde, in Western seit jeher kriegerische Stämme der First Nation die hart arbeitenden Farmer oder Cowboys. Diese obsessive Beschäftigung mit einer plötzlichen Bedrohung ist nur erklärbar durch die nie restlos aufgearbeitete Schuld der europäischen Eroberer, die tatsächlich ein Land an sich gerissen, gemordet, gebrandschatzt, die dort lebenden Menschen unterworfen haben. Das italienische Autorenkollektiv Cornelius und der Illustrator Tommaso Carozzi (seine Werke wurden bereits auf der Biennale in Venedig ausgestellt) erzählen in ihrer unheimlichen Bildergeschichte von der Invasion gigantischer, durch die Luft fliegender Wale, die plötzlich in und über den Straßenschluchten der fiktiven Großstadt Melville auftauchen – man denkt unweigerlich an Moby Dick aus Herman Melvilles epochalem, die US-amerikanische Literaturgeschichte begründeten Klassiker. Majestätisch, doch friedfertig ziehen die Wale über den Köpfen der höchst erstaunten Bevölkerung, und selbstverständlich dauert es nicht allzu lang, bis sie von Militärs angegriffen werden. Doch eine viel unheimlichere Gefahr lauert im Hintergrund. „Der Tag der Wale“ ist eine rätselhafte Parabel über Fremdenhass, Aggression und die Unfähigkeit, das Phantastische anzunehmen – komplett ohne Wörter erzählt. Cornelius (Autoren), Tommaso Carozzi (Illustration): „Der Tag der Wale“, Carl Auer, 50 Seiten, 21,95 Euro, ab 8 Jahre

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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