Das Lyrikgespräch im Mai

An diesem Donnerstagnachmittag spreche ich ab 16:10 Uhr im Deutschlandfunk „Büchermarkt“ mit Helmut Böttiger und Alexandru Bulucz über die Gedichtsammlung „Trapezherz“ der belarussischen Künstlerin Volha Hapeyeva (Droschl Verlag) und über Tomaž Šalamuns „Steine aus dem Himmel“, gerade aus dem Slowenischen übersetzt erschienen im Berliner Suhrkamp-Verlag.

Kein Wunder, dass die promovierte Linguistin Volha Hapeyeva in ihren Gedichten über Sprache nachdenkt. „Trapezherz“ versammelt Texte, die zwischen 2003 und 2020 im Belarussischen erschienen sind. An ihrem Anfang steht geradezu biblisch das Wort: „und sie träumte von dem wort / und sie erwachte / und sie konnte sich nicht daran erinnern“. Die nun folgenden einhundert Seiten können als Suche nach diesem (Zauber-)Wort gelesen werden. Sie, das lyrische Ich, sucht es beispielsweise beim Großvater, der sie stets unheilvoll mit den Worten begrüßt: „hör zu, enkelin, ich werde sterben“.

Schon erwartet die Angesprochene, dass er etwas Wichtiges sagen würde, und wird doch immer wieder aufs Neue enttäuscht. Die Sprache der Menschen: entwertet, „immer seltener / möchte ich sprechen“. Stattdessen ist das Ich fasziniert von Phantasieidiomen: „wie schön wäre es, ein lehrbuch / in spinnensprache zu finden“. Die Sprache ist also etwas, das gesucht und gefunden werden kann.

Die Sprache ist ebenso ein Medium von Verletzungen und falschem Sprechen, auch das ist überdeutlich in diesem Band. Trotzdem bleibt die kindliche Hoffnung, erkannt und richtig benannt zu werden: „vielleicht lieben kinder es deshalb so sehr / verstecken zu spielen / immer noch darauf hoffend / dass man sie eines tages finden möge so / wie sie sind.“ Ursprünglichere Laute der Vögel, Enten, Florfliegen und Sandmücken rücken ihr nahe, viel näher als die Artikulationen der humanen Zeitgenossen: „tschilp-tschilp / verstehe ich besser / als das gespräch am nebentisch / mehr brauche ich nicht“.

Nun wissen wir um die Verhältnisse in Volha Hapeyevas Heimatland, wo Aljaksandr Lukaschenka seit 1994 die letzte Diktatur Europas errichtet hat. Ihre Suche nach dem Zauberwort wird so auch zur Suche nach einer nicht-repressiven Sprache. Unweigerlich denkt man darüber nach, dass es möglicherweise, wie in so vielen Diktaturen, den Rückzug ins Innere braucht, in einen von der Gesellschaft unberührten Ort: „und vielleicht beginnen wir ein leben zu zweit / und werden später sogar kinder haben / die wir nach uns benennen / ganz ohne namen // und liebe wird für uns / ein neutrales geschlecht // bleiben.“

Steine aus dem Himmel

Im Anhang der gerade erschienenen „Steine aus dem Himmel“-Bandes berichtet Tomaž Šalamun (1941-2014) ausnahmsweise, wie seine Gedichte entstehen: „Bei mir ist es eher, als würde sich ein Spalt öffnen oder ein Tonus, eine Spannung, die zerreißt, und es ist, als ob dann ein Strahl aufleuchtet oder ein Satz hervorbricht. Wie Pferdchen, die miteinander losgaloppieren, die da hindurchsausen. Ich schreibe es schnell auf und dann ist es da – oder manchmal kann ich es eben nicht und es verschwindet. Ich erkenne die Öffnung und die Sätze als das, was sie sind, und ich habe nichts damit zu tun. Das ist großartig.“

Der slowenische Dichter war einer der international wichtigsten Lyriker seiner Generation, übersetzt in mehr als 20 Sprachen. Als „Steine aus dem Himmel“ bezeichnete er seine Gedichte – und die Weise, wie sie ihm zufielen. Die nun bei Suhrkamp vorliegende Veröffentlichung versammelt eine repräsentative Auswahl seines lyrischen Spätwerks, das nach einer langen Schaffenskrise entstanden ist. Zwischen 1990 und 1994 glaubte Šalamun, nie wieder Gedichte schreiben zu können. Er arbeitete als Buchhändler in Ljubljana, später als Makler an der Triester Börse: „Ich habe meine Tage in der schrecklichen Angst verbracht, die Sonne / würde nie wieder aufgehen. Dass dies mein letzter Tag sei. / Ich fühlte, wie mir das Licht aus den Händen glitt“ – aus dem Gedicht „Lack“ von 1995 aus dem Band „Ambra“, mit dem Šalamun erneut auftauchte, „schneller, assoziations- und anspielungsreicher“, wie es der Anhang einordnet – es sollten insgesamt 25 weitere Bände folgen.

Sechs dieser Bände hat er vor seinem Ableben ediert, das er offensichtlich immer näher spürte: „Ich habe Angst. / Ich bin nur einen Steinwurf von Gott entfernt. / Er streichelt mir die Nasenlöcher, ich weiß, sein Streicheln ist wie Kokain“, schreibt er im Eröffnungsgedicht seines nun von Matthias Göritz, Liza Linde und Monika Rinck übersetzten Auswahlbandes. Eine unbändige Furcht ist anfänglich spürbar, bis sich Gedichte Jahr für Jahr mehr dem Leben zuwenden, abschließend geradezu kämpferisch wirken: „Ich bin der letzte Landwirt. / Das Maultier wird mich beherrschen. / Spürst du, wie die / Farbe der Meisen ein weiches / Innenfutter sein könnte, spürst du das?“

Hier will jemand die Welt, die er schon bald verlassen wird, noch einmal mit allen Sinnen erfassen – das Gefühl, über das eigene Gesicht zu streichen, das Wüten der Zither in den Löchern des Bauchs, wie es war, Wasser aus einem Graben zu trinken. „Ich überhole in der Dämmerung, weil ich mich umbringen will. / Und dabei bin ich zutiefst dankbar für mein ganzes Leben.“ Das sind berührende, mit surrealistischen Bildern durchsetzte Selbstvergewisserungen, Bestandsaufnahmen, wie sie üblich sind nach einer Krise. „Die Wolken sind wundervoll. / Wieder rauche ich wie ein Idiot.“

Volha Hapeyeva: „Trapezherz“, aus dem Belarussischen von Matthias Göritz, Droschl, 112 Seiten, 20 Euro / Tomaž Šalamun: „Steine aus dem Himmel“, aus dem Slowenischen von Matthias Göritz, Liza Linde und Monika Rinck, Suhrkamp, 244 Seiten, 24 Euro

Zum Nachhören, das Lyrikgespräch über Tomaž Šalamun und Volha Hapeyeva vom 25. Mai 2023

Empfohlene Artikel