Rezension: Die Krankheit zum Tode

Seit zehn Jahren trauert Professor Baumgartner um seine verstorbene Ehefrau. Er versucht, dennoch weiterzuleben, weiterzulieben, weiterzuschreiben. Paul Auster, seit über einem Jahr an Krebs erkrankt, schaut in seinem Roman auf das unwiderrufliche Ende und findet kleinen Trost und übergroße Gefühle.

Nomen est omen, wie Victor Eremita, Johannes de Silentio und Constantin Constantius – jene vielsagenden Pseudonyme des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard, der 1849 in einer seiner Schriften „Die Krankheit zum Tode“ vorgestellt hat. Über Kierkegaard und seine zahlreichen Pseudonyme schreibt der ebenfalls an der „Krankheit zum Tode“ leidende Professor Seymour Tecumseh Baumgartner – noch so ein Name – in Paul Austers neuem Roman, der vom langen Leidensweg des einsamen Witwers berichtet. Auf der ersten Seite sitzt Baumgartner in seinem Arbeitszimmer. Er hält einen Stift in der Hand, ist mitten im dritten Kapitel seiner Kierkegaard-Monographie, als der Schreibprozess jäh unterbrochen wird. Beißender Geruch kommt aus der Küche. Eine kleine Gasflamme brennt sich beharrlich in den Boden eines Aluminiumtopfes. Der Professor will schnell handeln.

„Er stellt das Gas aus und nimmt, ohne groß nachzudenken, das heißt, ohne sich einen Topflappen oder ein Handtuch zu schnappen, den ruinierten, glühenden Eierkochtopf vom Herd und versengt sich die Hand. Baumgartner schreit vor Schmerz.“

Blume, Baum und Garten – ein Biotop

Mit der verbrannten Hand beginnt die Handlung, von einem trauernden Mann berichtend, der vor zehn Jahren seine geliebte Gattin durch einen Badeunfall verloren hat. Auch sie hatte einen klingenden Namen: Anna Blume, wie die Angerufene in Kurt Schwitters Gedicht, das mit den berühmt gewordenen Worten beginnt: „Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!“ Und geliebt mit allen Sinnen hat auch der 70-jährige Emeritus Baumgartner seine schöne, kluge Frau, die schon allein durch ihren Nachnamen mit ihm verbunden ist – Blume, Baum und Garten. Sie wachsen nebeneinander, bis der Zufall – wie so oft in den Romanen Paul Austers – das Idyll zerstört und der zurückgelassene Witwer aus dem gemeinsamen Garten-Paradies vertrieben wird.

„Er ist ein menschlicher Stumpf, ein halber Mann, der die Hälfte seiner selbst, die ihn zu einem Ganzen machte, verloren hat, und ja, die fehlenden Gliedmaßen sind noch da, und sie tun immer noch weh, so weh, dass er manchmal das Gefühl hat, sein Körper sei drauf und dran, in Flammen aufzugehen und ihn zu verschlingen.“

Es ist die Geschichte eines langen Abschieds, einer Trauer, die den Helden in unterschiedliche Gefahrenzonen treibt. Es gibt zahlreiche Unfälle. Der alte Mann stürzt auf einer morschen Kellertreppe, weil er sich nicht abstützten kann mit der verbrannten Hand. Ein Bekannter wird zur gleichen Zeit zwei Finger unter einer Kreissäge verlieren – Sinnbilder, dass hier etwas Nicht-Fassbares, etwas Un-Begreifliches geschieht.

Die Kellertreppe ist morsch

Hilflos steht der malade Baumgartner mit dem Rücken zur Erzählung und schaut stattdessen betrübt auf jene gemeinsamen Jahre zurück, als seine Anna Blume noch lebte, erblühte. Als seien sie ein gemeinsames Biotop. Er akademischer Phänomenologe, sie literarische Übersetzern, Essayistin, Prosa- und Lyrikautorin.

„Gott sei Dank, dachte Baumgartner, und Gott sei Dank für all diese schönen morgendlichen Sonaten, wenn er zum Klang von Annas Fingern auf den klappernden Tasten aufgewacht war, das heißt zum Klang von Annas Gedanken, die ihr durch die Finger in die klappernden Tasten sangen, und nachdem er einen Monat lang allein in dem leeren Haus gelebt hatte, war seine Sehnsucht nach diesen Klängen so groß geworden, dass er manchmal in ihr Zimmer ging, sich an die stumme Maschine setzte und etwas – irgendetwas – tippte, nur um wieder diese Geräusche zu hören.“

Wenig ereignet sich in der erzählten Zeit, während alles erstarrt. Der Garten des Professors verwildert, die Kellertreppe ist morsch, der alte Aluminiumtopf verbrannt. Eigentlich funktioniert das Leben nicht mehr, seit Anna tot ist. Es scheint, als sei der Professor im Palindrom des Namens gefangen – von hinten wie vorne A-N-N-A. Zwar wagt Baumgartner den Liebesanfang mit einer anderen Frau. Doch sieht er durch sie, die – ebenfalls bezeichnend – Judith Feuer heißt, lediglich seine schrecklich vermisste Gattin. Die neue Beziehung, eine offensichtliche Re-Inszenierung der vorherigen glücklichen Ehe – scheitert. „… und weil Anna den deutschen Nachnamen Blume trug, stellte er sich vor, irgendein geheimnisvoller alchimistischer Prozess verwandelte die Blume, die reale Anna Blume, in eine Flamme, die zu Judith Feuer wurde,“

Alles zerbrochen an einem Tag

Das sind erste Anzeichen eines möglicherweise wahnsinnigen, mindestens jedoch magischen Denkens. Der Professor erkrankt an seinen eigenen Gedanken – und arbeitet gegen diese Geistes-Erkrankung tapfer an. Er schreibt Bücher, veröffentlicht eine Auswahl nachgelassener Gedichte Anna Blumes, er sichtet ihr literarisches Archiv, versucht, auf Teufel komm raus „Sinn zu machen“ in seinem so sinnlos erscheinenden Leben, das kaum mehr als ein Nach-Leben ist. Ein großer Teil dieses Buchs besteht aus literarischen Texten der Verstorbenen, aus Anekdoten und Erinnerungen, die eklektisch hintereinandergestellt werden.

„Zerbrochen ist das alles an dem Tag des versengten Topfes und des Sturzes die Treppe hinunter. Bis dahin hatte er nicht begriffen, wie zutiefst gespalten er sich in allem verhielt, was mit Anna zu tun hatte, wie er sie die ganze Zeit von sich weggestoßen und sich zugleich an sie geklammert hatte, wie er alle Spuren von ihr aus dem Haus geräumt und doch ihr Arbeitszimmer unberührt gelassen hatte“

Austers Roman ist ein großes Durcheinander, das die Konfusion seines Helden auf der Formebene wiederholt. Das macht die Lektüre herausfordernd. Doch zumindest literaturwissenschaftlich ist „Baumgartner“ interessant, weil der Roman postmodern angelegt ist, als ein Spiel mit Autobiographie und Fiktion, mit Rätseln, Paradoxien und der eigenen Literatur, denn immer wieder tauchen bereits verwendete Motive auf, darunter ein verwirrender Anruf, der die Handlung vorantreibt. Das kennt man aus Geschichten wie der „New York Trilogie“.

„Er greift nach dem Telefon, doch gerade als er den Hörer abnehmen will, läutet der kleine weiße Teufel schon wieder. Wieder nimmt er an, es sei seine Schwester, und wieder liegt er falsch.“ Es ist immer die Falsche. Nie passiert, was Baumgartner erhofft. Man kann den Roman auch als Abschied vom eigenen Leben verstehen.

Alles tut weh

Man kann in Anna Blume Austers Gattin Siri Hustvedt erkennen. Auch erscheint seine erste Frau Lydia Davis – selbst eine anerkannte Lyrikerin und Übersetzerin – als mögliche Vorlage. Man kann den Roman lesen als dunkle Vorahnung der Krebserkrankung Austers, die im vergangenen März bekanntgeworden ist. In dieser autobiographischen Lesart erscheint ein ebenfalls auftretender Heizungsableser als Diagnostiker, die körperlichen Verletzungen an der Hand und später auch am Knie des Professors als Metaphern für die Krankheit an sich, die Gasflamme brennt sich hartnäckig in den Aluminiumtopf, so wie Krebs weiter und weiter wuchtert.

„Alles tut ihm weh, stellt Baumgartner fest, aber am schlimmsten schmerzt das Knie, es schmerzt so sehr, dass schon der leiseste Druck im Stehen ihm als gellendes Jaulen durch die Knochen fährt, ein Jaulen, das dem schrillen Missklang von vierzig rolligen Rotluchsen gleichkommt …“

Der Roman beginnt im Arbeitszimmer und spielt über weite Strecken im Haus des Professors, der abseits der restlichen Welt durch seine einsamen Tage humpelt. Die Krankheit verbirgt dieser Mann vor sich selbst, auch seine manische Beschäftigung mit Anna Blumes Nachlass akzeptiert der Witwer als philologische Notwendigkeit.

Eine moderne Saga

So wird Baumgartner weit durch seinen intellektuellen Hochmut getragen. Er ist als Phänomenologe seit Jahrzehnten gewohnt, Erscheinungen auf den Begriff zu bringen. Tatsächlich – da sind wir wieder bei der verletzten Hand – ist sein Zugriff auf die Realität beschädigt. Der Professor kämpft argumentativ gegen die gegebenen Umstände an, als sei die Depression ein Sachverhalt, der bloß ausreichend durchdacht werden müsste wie ein philosophischer Text. Irgendwann muss er erkennen, dass er allein keinesfalls weiterkommen kann. „Baumgartner“ ist auch die Geschichte eines Mannes, der nach langjährigen Beschwerden endlich Hilfe annimmt: „Und so, mit dem Wind im Gesicht und einer immer noch blutenden Stirnwunde, macht unser Held sich auf den Weg, Hilfe zu suchen, und als er das erste Haus erreicht und an die Tür klopft, beginnt das letzte Kapitel der Saga von S. T. Baumgartner.“

Baumgartner muss sein Haus, er muss sein bisheriges Leben verlassen, auch wenn so ein letztes Kapitel aufgeschlagen wird. Bekannt ist, dass Paul Auster bereits länger krank gewesen ist, bevor der Krebs bei ihm diagnostiziert wurde. Man kann sich durchaus vorstellen, dass der Roman im verdrängten Bewusstsein dieser zunächst nicht festgestellten Krankheit geschrieben wurde. So ist „Baumgartner“ auch die literarische Überhöhung einer privaten Not, eine „Saga“ ursprünglichen Sinns, wie jene im mittelalterlichen Island entstandenen Prosatexte, die – oft autobiographisch grundiert –, die großen Probleme der Menschheit verhandelt haben.

Der Roman ist der Ringschluss eines Prosa-Werks, das 1982 seinen Anfang genommen hat mit einer Erinnerung an den verstorbenen Vater, mit dem Text über „Die Erfindung der Einsamkeit“, um nun, 41 Jahre später, in diese Einsamkeit zurückzukehren – nicht von außen beobachtet, sondern nun selbst erfahren. So ist „Baumgartner“ möglicherweise das letzte Beispiel einer großen, schriftstellerischen Karriere – und zugleich eine melancholische Erinnerung, dass die Macht der Liebe einen Menschen nicht nur erheben, sondern auch zerstören kann.

Paul Auster: “Baumgartner”, aus dem Englischen von Werner Schmitz, Rowohlt, Hamburg, 208 Seiten, 22 Euro

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