Rezension: Schwer und schweben

Der Lyriker Jan Röhnert ist mal wieder gewandert – durchs Kerbtal am Südhang des Kyffhäusers, über die Ostseeinsel Rügen, ins italienische Friaul. Er hat Gedichte mitgebracht, die – anders als Rolf Dieter Brinkmann – im „Alles macht weiter“ einen Trost finden.

„Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe“, schrieb der Philosoph Walter Benjamin in seiner 1938/39 angelegten Notizensammlung „Zentralpark“. Dieser arg düster klingende Satz bleibt auch im Jahr 2023 gültig. Dass es so weitergeht mit der Umweltzerstörung, mit den Kriegen, dem Kapitalismus, mit den Krisen unserer Zeit lässt Menschen verzweifeln.

Vermehrt erscheinen gegen dieses Katastrophengefühl Bücher, die auf konstruktive Weise Erklärungen und Handlungsvorschläge geben. „Klimagefühle: Wie wir an der Umweltkrise wachsen, statt zu verzweifeln“ der „Psychologists for Future“ Lea Dohm und Mareike Schulze ist so ein Buch – auch „Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft“ des Soziologen Armin Nassehi oder Leona Stahlmanns Roman „Diese ganzen belanglosen Wunder“, der 2022 bei dtv veröffentlicht wurde.

Alles macht weiter. Über diese Katastrophe, die Walter Benjamin meinte, dichtete der Lyriker Rolf Dieter Brinkmann 1975: „Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter“ – in seinem epochemachenden Band „Westwärts 1 & 2“.

Weg hinaus aus der Verzweiflung

Und es ging noch weiter, mit der Popband Blumfeld, die 2003 sang: „Der Alltag macht weiter / Die Probleme und Zwänge / Der Verkehr in den Straßen / Die Einsamkeit in der Menge“. Und zuletzt „Wanda“ aus Wien mit der Hymne „Va bene“ und der Songzeile: „Es muss weitergehn“.

Nun führt Jan Röhnert diese Linie fort in seinem Band „Erdtagzeit“, doch er macht es ein wenig anders als seine Vorgänger, auf den ersten Blick romantischer – und wieder in Anlehnung an Rolf Dieter Brinkmann: „Der Sandstein macht weiter. Der Kalkstein macht weiter. Der Gipskarst macht weiter. Zechstein, Dolomit, Anhydrit, Muschelkalk, Marmor, Carrara, Dornburg Zement: weiter.“

Gipskarst, Zechstein, Dolomit: Nicht nur der superbeschleunigte Kapitalismus, sondern auch die gravitätisch anmutende Geologie macht auf tröstliche Weise weiter – und wird natürlich immer gewinnen. Gegen Steine kommt niemand an. Sie unterliegen einer anderen, einer „Erdtagzeit“ – es sei denn, das Anthropozän schlägt zu wie im Gedicht „Crossen Ort“, da wird „Dolomit für Bitumen“ abgebaut. Im Ganzen erscheint Röhnerts Band hingegen als stoisches Beispiel einer zeitgenössischen Dichtung, die im Draußen auch einen Weg hinaus aus der Verzweiflung sucht: „In dieser Staffel von Wolken / oben im Nachmittagsblau / während du zusiehst / bist du zuhaus // in ihrem Anblick / aufgehoben / wandert der Sand aus den Dünen über das Gras“.

Röhnert hat sich spätestens mit seinem 2021 bei Matthes & Seitz erschienenen Wander-Essay „Vom Gehen im Karst“ als herausgehobener Vertreter des „Nature Writing“ etabliert. Nun beschreibt er das Kerbtal „am Südhang des Kyffhäuser“ oder, den Blick nach oben gereckt, eine schwebende „Staffel von Wolken“, dann wieder, ganz einfach, Mühlen, Fachwerk, das unmittelbar Gegebene, wie den Nil bei Kairo: „Sandsteinwände Rillen quergestreift / Kalkstein Fossilien Korallen Schliff“.

Wie Gäste aus der anderen Zeitzone

Röhnert ist, das zeigt jedes einzelne seiner Stücke, ein Dichter der genauen Landschaftsbeschreibungen: „Schaprode klar im Abendlicht“ oder „Herzweite Horizonte, Brandenburg“, sprachlich einem Flusslauf folgend, dem „Geröll im Sandhang, Strandfunde, / angespült, -geflogen, wilde Rosenzweige, Federn“. Diese Verse treffen zusammen mit dem eingangs abgedruckten Zitat Friedrich Gottlieb Klopstocks – aus der „Frühlingsfeier“-Ode von 1759: „Der Wald neigt sich, der Strom fliehet, und ich / Falle nicht auf mein Angesicht?“ Diesem so erhabenen Zitat hinzugestellt ist allerdings ein zweites vom Franzosen André Du Bouchet aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert: „Alles hebt an mit einem verlorenen Augenblick Erde“.

In Gegenüberstellung der Zitate von Klopstock und Du Bouchet wird deutlich, wohin Röhnert in „Erdtagzeit“ blickt, was ihn interessiert, nämlich in erster Linie das Phänomen des Ereignisses. Er will über die Natur zum momentan Gegebenen, das im Spannungsverhältnis zum Andauernden steht. Der Mensch in der Natur, die einer anderen Zeit unterworfen ist, daher der Titel dieses Bandes: „Wie Gäste aus der anderen Zeitzone, / die Bäume am Wegrand, die // mit unseren Fahrplänen und Prospekten / nichts anzufangen wissen, und doch // haben sie den Stoff hervorgebracht: / Ihre Hingabe unser Material.“

Schon hier, im Portalgedicht, in dieser zweiseitigen Meditation mit dem Titel „In der Sonne ihre Transparenz“, wird deutlich, dass die Natur als eine Erscheinung „aus der anderen Zeitzone“ verstanden wird, die im Gegensatz zur menschlich erfahrenen Zeit „mit unseren Fahrplänen“ steht. Vom Humus ausgehend schweben die Gedanken in die Höhe, „vom leicht / kompostierbaren Grund bis an die Luft, // die den Sirenen gehört. Sie schweben / vom Seil gelassen die Ballons“.

Die Meditationen

Das ist Dichtung in der Schwebe, jenem Zwischenzustand, von dem Dichtung und Philosophie seit jeher fasziniert sind. „Wer sich der Wolke nähert, lässt also das Klare und Deutliche hinter sich; er wird in eine dunkle und verworrene Empirie geleitet, in der die Dinghaftigkeit der Dinge verschwindet“, schreibt der inzwischen emeritierte Germanistikprofessor Joseph Vogl in seiner Akademischen Abschiedsvorlesung „Meteor. Versuch über das Schwebende“ aus dem Sommer dieses Jahres, die sich immer wieder neu dem ephemeren Phänomen der Wolke, Sinnbild des Schwebens, annähert:

„Die Wolke ist kein Gegenstand, sondern ein Werden, sie ist – und das scheint ihre problematische Bestimmung zu sein – ein Ereignis. Sie ist ein Ereignis der Wahrnehmung, das an der Schwelle des Sichtbaren passiert; sie ist ein Ereignis der Natur, das auf unsichtbare, unspürbare Kräfte verweist; und sie ist schließlich ein epistemisches Ereignis, das am Schwebenden, Flüchtigen und Unwiederholbaren alle Kräfte der Darstellung und der Sprache versammelt.“

Die Gedichte Röhnerts versuchen, dieses Werden mit allen Kräften der Darstellung und der Sprache für einen Moment festzuhalten – als poetische Annäherung. So beginnt das Gedicht „Nach Dôgen“ (angelehnt an den japanischen Zen-Buddhisten Dôgen) mit der Zeile: „Die Meditationen finden nicht im Kursraum statt.“ – Röhnert, der als Professor für Neuere deutsche Literatur oft in Kursräumen steht, verlässt als Lyriker das Denken, den Kursraum – und weist, rund 200 Jahre nach der Romantik, noch einmal den Weg zur Empfindsamkeit, zum Fühlen, weg von „unseren Fahrplänen und Prospekten“.

Wir kommen auf nichts Neues

Mittler zwischen diesen beiden Welten sind zahlreiche Vögel, die im „Erdtagzeit“-Band herumschwirren: Bienenfresser, Schwalben, Wanderfalken. Ihr schwebender Zustand wird ersehnt, als ein poetischer Ausweg aus diesem „Alles macht weiter“. – Durch die Luft geht es hinein ins romantische, tröstende Blau. Allein deshalb endet das letzte Gedicht mit einer Hoffnung: „wir sagen Schleusen, sehen Löcher / durchscheinendes Blau über den Gräben“ / in dem Luft und Land verschwinden / und der Zwischenraum der Zäune / und die Schleuse ist ein Wasserlauf // der hinauf reicht aus dem Hintergrund / über Zäune, um dem Sehen Löcher, / im Blau verschwindend einen Weg zu graben.“

Weit ist Jan Röhnert für diese Gedichte gereist und gewandert, nach Schaprode und Sassnitz auf Rügen, durch ein bulgarisches Naturschutzgebiet, nach Istanbul, ins italienische Friaul, stets auf der Suche nach einer anderen Transparenz, – oder vielmehr Transzendenz. Sein „Erdtagzeit“-Band ist ein formidables Protokoll dieser Suche, die am Ende als lyrische Annäherung aporetisch bleiben muss, denn: „Wir kommen auf nichts, nichts Neues, wenn wir bloß in den / Wörtern bleiben, um das, was wir sehen, zu beschreiben.“

Jan Röhnert. „Erdtagzeit“, Edition Faust, Frankfurt a. M., 120 Seiten, 20 Euro

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