Das Lyrikgespräch im Juli

Das Phantastische auf der einen (Andra Schwarz: „Tulpa“), der klare Realitätsgrund auf der anderen Seite (Thilo Krause: „Dass uns findet, wer will“) charakterisieren die Bände des heute laufenden DLF-Lyrikgesprächs mit Maren Jäger und Alexandru Bulucz.

Durch die Fernsehserien „Twin Peaks“ und „Akte X“ ist das „Tulpa“-Phänomen einer breiteren Öffentlichkeit bekanntgeworden. Es beschreibt eine Transformation. Durch Gedanken erhält eigentlich Unbelebtes ein Bewusstsein. Im Band der Leipzigerin Andra Schwarz ist es beinahe andersherum – kaum fassbare Gefühle gegenüber Menschen werden mit Tieranalogien auf den Begriff gebracht: „Du trägst so eine Einsamkeit im Pelz, / rührend, wenn ich dich erblicke“. Dunkel, Totems beschwörend, mäandert eine Stimme durch die seltsam entrückte Welt: „Ich werde vom fremden Summen regiert.“ So erscheinen die Erinnerungen an den Vater (“Es ist nicht mein Vater. Es ist mein Mörder“, Ingeborg Bachmann) lauernd, bedrohlich: „Sein blick blendet mich: ein wolfsjunges in der seele ach / vater tanzt wie ein raubtier um den thron des königs“.

Moiren, Schicksalsgöttinnen aus der griechischen Mythologie, schweifen durch diese Gedichte und deutlich wird, die Gedichte selbst sind Tulpas. In ihnen hat das Alltägliche weissagende Bedeutungen. „Ich glaube Vorhersagen, dem gebrochenen Flügel, / folge Fährten bis zum Ende, den Spuren der Hirschkühe. Es geht hinab in den „Limbus infatium“, Ort für die Seelen der ungetauft gestorbenen Kinder. Es gibt „abgebissene drachenköpfe verbrannte engelsflügel“ und hinter der Menstruation werden nordische Alben vermutet: „Sie prophezeien Schmerzen in Hüfte und Becken. / Unterm Nabel fehlende Erträge, abzustoßendes Gewebe“. Wie im Pantheismus ist die komplette Welt belebt von übersinnlichen Phänomen, die (körperliche) Liebe wird in diesen Gedichten biblisch, erinnert in den Worten Andra Schwarz’ an Psalmen: „Er überschwemmt mich an trüben tagen / öffnet eine ader längs zum meer dahinter klippen / sickert eine lache durch den spalt meiner tür / bildet eine pfütze salz auf den dielen.“ Dieser Band belegt das Normale mit Geheimnissen, bis „da wo es dunkel wird ich nicht mehr bin“. Andra Schwarz: „Tulpa“, Poetenladen, 80 Seiten, 19,80 Euro

Die Tyrannei der Vergangenheit

Ein Satz des Traumaspezialisten Bessel van der Kolk weist zur Psychologie dieses Bandes. „Physical self-awareness is the first step in releasing the tyranny of the past“, ist dem Zyklus „Gedichte mit Körper“ (einem von neun) vorangestellt. Die Tyrannei der Vergangenheit und was man dagegen tun kann ist bestimmendes Thema. Es geht in die DDR, in die Wendejahre. Krause, 1977 in Dresden geboren, erinnert an den Großvater, der im Zweiten Weltkrieg ein Bein verloren hat: „Großvater, mein einbeiniger Sisyphos / der nur morgens entkam / wenn er sich aufmachte, elbaufwärts / lange bevor die Russen den Himmel kaperten.“ Im Lauf des Tages wird sich der Himmel des Traumatisierten erneut mit Kampffliegern füllen, woraus der Enkel ein Spiel macht: „Tief unter den Birnbaum duckte ich mich / als die Russen in Überschall gingen“ (Stichwort: transgenerationale Traumata). Zahlreiche Figuren sind seelisch versehrt – und steuern unbewusst den Körper, das Erleben an. Der Großvater spielt mit dem Enkel Garten-Fußball „in unserem Stadion aus Rosen“.

Der oft abwesend erscheinende Vater, ein Kriegskind, wird als „ewiger Arbeiter“ vorgestellt. Poetisches fällt in dieser kargen Prosa umso deutlicher auf: „in dem Moment, wenn mir eines der Mädchen / den zweiten Ohrhörer lieh, wie um zu fragen: / Was macht die Kirschblüten so leer?“ Im Vordergrund steht die Weltaneignung mit allen Sinnen. Da brennen die Ellbogen. Es gibt harte Körper und weichen Atem. „Mir spiegelt die Welt / ins Gesicht“ aus dem Gedicht „Wo ich mich mit Zagajewski verschwöre“ ist ein weiterer Schlüssel, welch sehr reelle Haltung diese – immer wieder Adam Zagajewski, Johannes Bobrowski und Tomas Tranströmer anspielenden – Verse bestimmen. Klarheit und berückende Dezenz. Selbst das vergiftete Dorfidyll mit Skinheads wird nicht beklagt, sondern ins prägnante Bild gezwungen: „Eh, Idiot. Sie rufen mir zu, streichen / über ihre Schädel, als hätten sie Haare wie ich.“ Die Gedichte des Wirtschaftsingenieurs Krause stehen auf den Boden der Tatsachen. Die zahlreichen Traumata stoppt das lyrische Ich selbst – auch für die Nachkommenden – mit poetischer Kraft. Thilo Krause: „Dass uns findet, wer will“, Hanser, 136 Seiten, 22 Euro

Das Dlf-Lyrikgespräch über Andra Schwarz und Thilo Krause vom 27. Juli 2023 kann hier nachgehört werden.

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