Das 2010er-Archiv: Fukú americanus und T.C. Boyle

Junot Diaz’ Debüt, Bastienne Voss’ „Mann für Mann“ und Arnon Grünbergs „Mitgenommen“ bilden das Jahresarchiv von 2010, als der Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa hieß, Argentinien Ehrengast war auf der Frankfurter Buchmesse und Reinhard Jirgl den Büchnerpreis verliehen bekam.

Candybox in Herzform: Ein großartiger Fotoroman: Die Liebesgeschichte zwischen den beiden New Yorkern Lenore und Harold muss man sich selbst puzzeln, aus über 300 Fotos, die auf 144 Seiten als fiktiver Aktionskatalog zusammengefasst und kommentiert werden. Man stellt sich also vor, ein Ex-Paar verkaufe nach der Trennung alle Habseligkeiten, jede noch so kleine Erinnerung. Zurück bleiben: persönliche Gegenstände, wie zwei Halstücher mit Monogramm, eine Candybox in Herzform, Salz- und Pfefferstreuer mit Abbildungen von Ringo Starr und John Lennon. Sogar eine Sammlung „Strickobst“ ist dabei. Es gibt „Lady Di“-Postkarten mit Liebesschwüren, Fotos, Briefe, Virginia-Woolf- und Henry James-Bücher, Serviettennotizen, Tagebücher, ein „McGill University Athletics“-T-Shirt, BHs von Burberry und Calvin Klein, Mix-CDs („The Fall – Peel Sessions“), weiße Prada-Schuhe, Stofftiere, eine zerbrochene Tasse und selbstgekochte Marmelade. Jedes Foto ist ein Hinweis, ein Puzzlestück dieser vergangenen Liebe und man versteht beinahe wortlos, was Lenore und Harold während ihrer gemeinsamen Zeit erlebt, wohin sie gefahren, welche Feste sie gefeiert, welche Streits sie ausgefochten haben. Diese Erinnerungen sind selbstverständlich ein bisschen traurig, immer wieder auch bizarr, auf jeden Fall voyeuristisch und nebenbei die charmanteste Art, im Jahr 2010 eine große, romantische Liebesgeschichte zu erzählen. (Leanne Shapton: „Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck“, Berlin Verlag, 144 Seiten, 19,90 Euro, übersetzt von Rebecca Casati)
Dass in man in Zeiten nervtötender Kochshows, betulicher Kulinarikkrimis und tränentreibenden Vegetarierpamphleten sinnlich, frisch, derb und hot übers Essen schreiben kann beweist die Südkoreanerin Jo Kyung Ran mit „Feine Kost“. In diesem preisgekrönten Roman verliert die Heldin, eine Anfang 30-jährige Köchin, ihren Geschmackssinn, nachdem sie von ihrem Geliebten verlassen worden ist. Sie schließt ihr kleines Kochstudio, fängt wieder in der italienischen Küche an, wo sie vor Jahren ihr Handwerk lernte… Langsam kommen ihr die Sinne wieder, am Herd, im Rausch. Sie möchte ihren Ex mit Brezelhandschellen fesseln, sich selbst als Torte backen und servieren. Sie bereitet zum Teil kuriose Gerichte vor mit eher unbekannten Zutaten wie gedämpftem Adlerfarn. Sie werkelt und siedet und schneidet und sautiert, sie erzählt von früheren Zeiten: Bevor Eiswürfel maschinell hergestellt werden konnte wurden Fische in Krüge voller Honig angeliefert. Legt man mehrere lebendige Hummer in eine Schüssel fressen sie sich gegenseitig auf. Im alten Ägypten wurden Mumien mit Zwiebeln gefüllt, et cetera: Zubereitet wie ein Fünf-Sterne-Menü: Macht selbst Tage nach der letzten Seite Hunger auf noch mehr Geschichten dieser großartigen Autorin. (Jo Kyung Ran: „Feine Kost“, übersetzt von Kyong-Hae Flügel, Luchterhand, 290 Seiten, 9 Euro)

Beerdigungen, Sterbehilfe, Morde, Meditationen im Beisein verwesender Leichen – der umstrittene französische Autor Michel Houellebeq macht in seinem neuen Roman allen Gerichtsmedizinthrillern der letzten Jahre Konkurrenz. Dennoch ist „Karte und Gebiet“ ein unterhaltsames, an vielen Stellen heiteres Buch: Künstler Jed Martin ist Millionär geworden mit Fotografien, die alte Michelin-Landkarten zeigen und vor allem mit großmäuligen Portraits von Wirtschaftsbossen wie Apple-Chef Steve Jobs und Microsoft-Nerd Bill Gates. Als er den Schriftsteller Michel Houellebecq bittet, ein Vorwort für seinen Ausstellungskatalog zu schreiben, wird Jed Martin mit den depressiven Seiten des künstlerischen Schaffens vertraut gemacht. „Es war allgemein bekannt, dass Houellebecq ein Einzelgänger voller Menschenverachtung war, der sogar Mühe hatte, ein Wort an seinen eigenen Hund zu richten.“ Diese Charakterisierung schreibt sich der reale Houellebecq in seine eigene Geschichte und geht 70 Seiten weiter sogar zum Äußersten. Der Autor wird daheim überfallen und mit einem Laserschneider in blutige Streifen zerschnitten. Ein impotenter Kriminalkommissar nimmt die Ermittlungen auf und versucht, Licht in eine Story zu bringen, die zwischen Wahn und Wirklichkeit, zwischen Party und Depression, zwischen Glamour und Elend hin- und herpendelt. Die Karte ist interessanter als das Gebiet und dieser Roman interessanter als die Realität. Houellebecqs bestes Buch. (Michel Houellebecq: „Karte und Gebiet“, übersetzt von Uli Wittmann, Dumont, 216 Seiten, 22,99 Euro)

Welcher Zusammenhang besteht eigentlich zwischen den englischen Gothic Novels des 19. Jahrhunderts und dem Glam-Rock Marc Bolans? Warum zählen sich ausgerechnet die „Sisters of Mercy“ nicht zur Gothic-Szene? Welchen Stellenwert haben Fetischismus, Okkultismus und Körperbemalungen, die einen mit weißem Gesicht und schwarzen Augen quasi zur „lebendigen Leiche“ schminken? Und was unterscheidet ursprünglichen „Industrial“ vom gleichnamigen Disco-Äquivalent? Der Sammelband „Schillerndes Dunkel“ nähert sich in Bild und Text einem individualistisch geprägten Massenphänomen. Das fängt an bei Camouflage geht über zu schrill-bunten Cyberpunk/Manga-Anleihen bis zum Mittelalter-Style. „Schillerndes Dunkel“ versammelt Portrait, Essays, Bildstrecken von Forschern, Musikern, Szenehelden, als umfassender Rundumschlag, in Übergröße, edel aufgemacht – gewaltiges Projekt. (Alexander Nym: „Schillerndes Dunkel: Geschichte, Entwicklung und Themen der Gothic-Szene“, Plöttner, 432 Seiten, 68 Euro)

Westernshowdowns, Sportspektakel und ganz viel Kommerz, obwohl Coca Cola und Nike noch nicht erfunden sind – Märchen über den Profisport avant la lettre. Tom McNab, einst schottischer Dreisprung-Rekordhalter, erzählt in seinem zweiten Läuferroman „Finish“ von Billy Joe Speed und Buck Miller. In den 1870er Jahren tingeln die beiden Cowboys als Schausportler, Zirkusangestellte und Bühnenmimen durch die Varietés, Spelunken und Festzelte Amerikas. Zwischen Shakespeare-Aufführungen und zeitgenössischen Bühnenmelodramas stellen sich die Jungs so absurden Wettkämpfen wie einem Hochsprungduell mit einem Pferd, oder einem schlachtenähnlichen Todeslauf gegen rachsüchtige Indianer. Das Ganze kommt daher als vorolympische Parabel auf die Entertainmentsportkultur unserer Zeit. Der Roman ist nicht immer mit ausreichender Kondition gesegnet. McNab hat ihn aber mit erzählerischem Biss anständig ins Ziel gebracht, bevor er überhitzt zusammenbricht (die angegebenen Zeiten über 100 und 400 Meter können nicht stimmen, dass es damals Spikes gegeben haben soll glauben nicht einmal Sofa-Olympioniken). (Tom McNab: „Finish“, übersetzt von Verena von Koskull, Aufbau, 450 Seiten, 22,95 Euro)

Zwischen Klosternonnen und Schwimmpriestern wächst Philomena (genannt „Pip“), Tochter eines Fledermausforschers und Hobbyfliegers im langweiligen Kansas auf. Ihr Umfeld ist kaputt. Es gibt Drogenabhängige und Diebinnen, es gibt Todesfälle, Züchtigungen, Schmerz und ein verklemmtes Verhältnis zur eigenen Sexualität. Nur im Wasser fühlt sich Pip schwerelos, zum Anfang zurückgekehrt, wie ein zappelndes Spermium vor der Befruchtung. Diese Urverbundenheit zum Wasser lässt Pip eine der besten Schwimmerinnen aller Zeiten werden, als Star zwischen Dopingschluckern, Mannweibern, psychisch labilen Konkurrentinnen – was zählt ist allein: Schwimmen! Coming-of-Age-Roman mit seltenen Medaillenmomenten, der verfliegt wie ein Kraulrennen bei der Kurzbahn-WM. – Mal spritzig wie Marc Spitz, dann wieder seicht wie ein Babybecken – wechselhafte Lektüre für ambitionierte Badewannentaucher. (Nicola Keegan: „Schwimmen“, übersetzt von Bernhard Robben, Rowohlt, 442 Seiten, 19,95 Euro)

Sieben Literaturauszeichnungen, darunter den renommierten Pulitzerpreis hat Star-Autor Junot Diaz für seinen Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ verliehen bekommen. „Mir fällt kein Roman in letzter Zeit ein, der diesem das Wasser reichen würde“, sagt Nick Hornby („High Fidelity“, „Slam“) und die New York Times schwärmt von einer „der unwiderstehlichsten Stimmen der Gegenwart.“ Sogar Vergleiche mit Kanye West musste sich dieses Buch gefallen lassen – vielleicht, weil ein paar Kraftausdrücke vorkommen. In der Übersetzung von Eva Kemper ist jedenfalls kein HipHop-Einfluss nachweisbar (als der Roman 2008 erschien, war Kanye West noch eine Art Rapper), was seine Durchschlagkraft keinesfalls schmälert. Junot Diaz‘ Erzähler berichtet von einem verfluchten Leben, vom absolut trostlos verpfuschten Dasein des Super-Loosers Oscar Wao. Seine Familie leben als Einwanderer in New Jersey, dem amerikanischen Fluch (fukú americanus) in ihrer Heimat, der Dominikanischen Republik entflohen. Während Oscar als dicker Außenseiter im Kreis seiner Machokameraden aufwächst – hier dem Aussenseiter-Oscar aus Günther Grass‘ „Die Blechtrommel“ nicht unähnlich – zieht Unheil am Horizont hinauf. Der Manga-Freak und Damenschreck verknallt sich in die falschen Frauen, legt sich mit düsteren Gangstern an („Unser Knabe war kein Ringgeist, aber er war auch kein Ork.“) und landet in seinem Heimatland gleich mehrmals im Zuckerrohrfeld, wo er übelst verdroschen wird. Die Geschichte dieses Oscars wird selten direkt, sondern immer über die Geschichte anderer Weggefährten erzählt, der Held des Buch wirkt wie ein schwarzes Loch, das man ebenfalls nicht sehen, aber mithilfe der Bewegungen seiner Nachbarsterne und -planeten finden kann. So erfährt man eine Menge über die (finstere) dominikanische Geschichte der vergangenen Jahrzehnte, über das Leben als Ausgestoßener in den USA und warum man in manchen Momenten die Klappe halten sollte, obwohl man die richtige Antwort weiß.

”Giftige Kleider“ beschäftigen Undercover-Ermittlerin Gina Sonnenfels im ersten Fall der “Fashion Victims“-Krimiserie von Sabine Scholl. Gina ist Ex-Model, Szenegängerin, Miu Miu-Sonnebrillenträgerin, die “schon während der langen Wartereien in ihrem Modeljob und beim vielen Herumstehen auf Partys bemerkt hatte, dass sie gerne zuhörte, Menschen nachforschte, ihre Geschichten sammelte, ihre Verwicklungen studierte.“ Nun soll sie den Mord an einer österreichischen Botschaftsmitarbeiterin aufklären, die während der Berliner Touristikmesse mit ihrem Dirndl in Flammen aufgegangen ist. Und zehn Tage lang geht es quer durch Moderedaktionen, durch In-Gaststätten von Berlin und Wien, zu Treffen bei Trend-Dirndl-Coutiers und Sex-Dates mit charmanten Ökofreaks. Wenn man kaputt nach Hause kommt und eigentlich nur Fernsehserien gucken will, ist dieses leichte, doch nicht oberflächliche Buch zehnmal lohnenswerter. Entspannung par excellence. (Sabine Scholl: “Giftige Kleider“, Deuticke, 280 Seiten, 17,90 Euro)

„Er lebt von Stütze, verflucht noch mal; er kommt frisch aus dem Knast, du weißt nicht das Geringste über ihn.“ Mr. Blond der neue Lover dieser jungen Heldin steht für Gefahr.  Aber er riecht verführerisch nach „nassem Asphalt, Alk und Zigaretten“, und zwingt seine Liebste in erotische „Abenteuer“. Die wird damit kein bisschen fertig. Sie hungert, nicht nur nach diesem seltsamen Kerl, nein: sie wird immer dünner. Sie betrinkt sich bei Blind Dates, die ihre beste und einzige Freundin Alison arrangiert hat, um sie vom bedingungslosen Mr. Blond wegzulocken. Ihre Eltern sorgen sich: Gibt es einen Ausweg, bevor Job, Freunde, Mum und Dad für immer verschwunden sind? Was folgt, kann man getrost „Show-Down“ nennen. „9 1/2 Wochen“ und „Basic Instinct“ im „Working Class“-Ambiente mit „Sex & The City“-Girltalk: das ist eine interessante Mischung. Erotisch. Verwirrend. Krass. (Deborah Kay Davies: „Bedingungslos“, übersetzt von Simone Jakob, Kein & Aber, 222 Seiten 18,90 Euro)

Die Berliner Grafikdesignstudentin Alexandra Klobouk ist nach Istanbul gefahren um dieses wunderschön gestaltete Buch mitzubringen. Eigentlich wusste sie nichts über die Türkei und ihre Bewohner, wie vermutlich den meisten Lesern von „Istanbul mit scharfer Sauce?“ Gute 100 Seiten später kann jeder die ersten Brocken Türkisch („Hey Güzelim“ heisst „Hey meine Schöne“), weiss, wie türkischer Kaffee gekocht wird und dass türkische Studentinnen das Kopftuchverbot an der Uni mit einem karnevalesken Trick umgehen: Sie ziehen einfach eine blonder Perücke über ihre echten, glänzenden Haare. Vom Bürokratiewahn bis zur Verehrung des Staatsgründers Atatürk, von den süßesten Speisen bis zu dem Brotkuss – dieses lässige Büchlein sieht nicht nur gut aus und ist verdammt informativ – es macht auch jede Menge Spass. (Alexandra Klobouk: „Istanbul mit scharfer Sauce?“ Übersetzung der türkischen Passagen: Güler Türker & Pelin Türker, Onkel & Onkel, 114 Seiten, 14,95 Euro)

„Sibylle tat alles, was Hesse verlangte, und das wurde immer mehr.“ Eine DDR-Schülerin verknallt sich in den Ex-Liebhaber ihrer Mutter, der nicht nur heisst wie ein berühmter Nobelpreisträger, sondern sich auch als Steppenwolf fühlt, „tief in seinem Innersten vereinsamt.“ Hesse ist einer von vielen Affären, die Sibylle während ihres Erwachsenwerdens becirct. Darunter sind ein Regisseur, der aussieht wie Chansonnier Jacques Brel, der schmierige Journalist Arndt-Axel und der melancholische Russe Igor. Drei Männer, die ihren ganz persönlichen Weg vom Osten über den Mauerfall, rüber in den freien Westen begleiten – wo die Schauspielerin Sibylle später als intrigante Schmuckdesignerin in der Vorabendsoap „Ebbe und Flut“ semigross rauskommen wird. – Die jüngste deutsche Geschichte als Liebesroman – unterhaltsam, kribbelnd erotisch, perlender als Ostsekt, Mann für Mann eine Amor fou. (Bastienne Voss: „Mann für Mann“, Piper, 248 Seiten, 16,95 Euro)

Hausierer hauen Hessen übers Ohr und rächen sich gewitzt für zwölf Jahre Feigheit, Hetze, Duckmäusertum. Riesenspass! David Bermann, der begnadete Einstein unter den Teilachern (jiddisch für „Hausierer) ist tot. Sein Neffe Alfred sortiert erst die Sachen, dann das Leben dieses Weitgereisten, der mit seinen Wäschepaketen durchs zerstörte Nachkriegsdeutschland tingelte, wo er mit seinen Kollegen Tür für Tür den alten Vorurteilen begegnete. Die Teilacher sind ein zusammengewürfelter Haufen schlitzoriger Holocaustüberlebender, die kurz Kasse machen wollen – und dann ab nach Palästina, wie die anderen Flüchtlinge, was eine hessische Hausfrau zu dem unschuldigen Satz drängt: „Die Judde wisse halt immer, wo‘s schön ist, gell?“. Der Hamburger Drehbuchautor Bergmann beschreibt die Zeit von den 20er bis 70er Jahre melancholisch, actiongeladen, slapstickbestück – gekauft! (Michel Bergmann: „Die Teilacher“, Arche, 292 Seiten, 19,90 Euro)

David Shrigley ist einer der hippsten Künstler Großbritanniens. Sein Werk umfasst Skulpturen, Gemälde, Animationen, Texte und Fotografien, er hat Videos für Blur und Bonnie Prince Billie animiert. 2005 brachte er eine Platte ohne Musik heraus, nur das Cover und Texte, die kurz danach vertont wurden – unter anderem von Hot Chip, Grizzly Bear, Franz Ferdinand, David Byrne, TV on the Radio und Scout Niblett. Die von Shrigley in Zusammenarbeit mit Karsten Kredel und Beeke Hellers konzipierte Best-of-Sammlung stellt Fotos und (Comic-)Zeichnungen auf 352 Seiten zusammen und verspricht eine Stunde unendlich großen Spaß. Das fängt an bei naiven Kommentaren zur sinnlos gehypten Kunstszene, wenn fiktive Künstler über ihre Arbeit faseln: „Ich male meine Bilder nicht selbst, ich lasse sie von ein paar behinderten Kindern malen….“ bis zu: „Ich streife an den Wochenenden durch die Kneipen, fange absichtlich Streit an und lasse mir die Fresse polieren, während ein Freund von mir filmt.“ Es gibt absurde Lebensweisheiten („Ich bin glücklich, du bist glücklich, Totenkopf ist glücklich, wir alle sind glücklich“) bis zu absurden Fotos wie dem roten Schild auf grünem Rasen mit der irre machenden Aufforderung: „Imagine the Green is red.“ Cleverer, als es auf den ersten Blick aussieht. (David Shrigley:  „Äh, was machst du das eigentlich?“ Eichborn, 352 Seiten, 24,95 Euro)

Man soll nicht über das Wetter reden. Das gilt als unhöflich. Heute geht es nicht anders. Der 1980 geborene US-Amerikaner Shane Jones hat mit “Thaddeus und der Februar” einen Debütroman hingelegt, der in einer Auflage von wenigen 100 Exemplaren erschien, dann zum Hit avancierte – und jetzt hat sogar Kultregisseur Spike Jonze (”Being John Malkovic”) zugegriffen und sich die Filmrechte gesichert. In Shane Jones‘ fiktiver Welt herrscht seit mehreren hundert Tagen Februar. Die Menschen leben im ewigen Schnee, unter dichten Wolken: “Es ist von einem Krieg die Rede.” Denn mit dem Februar kamen die ersten Befehle: Niemand darf in den Himmel fahren, niemand darf über die Wolken schauen, Zuwiderhandlungen werden bestraft. Eine Widerstandsgruppe (mit Vogelmasken geschützt, die an alte Pestmasken des 17. Jahrhunderts erinnern) will das nicht länger hinnehmen und versucht, mit langen Himmelsstangen, mit selbstgebauten Ballons und mit aggressiven Demonstrationen gegen den Februar und seine Schergen anzukämpfen. Doch an die brutalen Folgen hat niemand gedacht… Absolut magisches Debüt. (Shane Jones (Autor) Ria Brodell (Illustratorin): “Thaddeus und der Februar”, übersetzt von Chris Hirte), Eichborn, 176 Seiten, 16,95 Euro)

„Auf der Suche nach einem Plan – oder irgendwie sowas“: Wenn an Bewegung nicht einmal zu denken ist wird Faulenzer-Ikone Horst Evers zum idealen Lümmelpartner. In 45 kurzen Geschichten schreibt der aktuelle deutsche Kleinkunstpreisträger über den Wahnsinn seines kleinen Berlin-Wedding-Alltags. Der schusselige Horst scheitert und wir schauen grinsend zu: Wenn er heute beim Bäcker ein Brot von gestern für morgen vorbestellen will, wenn er nach seiner verlegten Mütze im Internet googelt oder wenn er intime Freundschaften mit seinen Krankheiten pflegt. „Mein Leben als Suchmaschine“ ist absurd und immer leicht zu lesen, es ist ein bisschen naiv, ein bisschen bauernschlau – aber hochsympathisch, warm und witzig. Diese Geschichtensammlung erfrischt wie eine Kanne kühler Zitronentee auf Eis. (Horst Evers: „Mein Leben als Suchmaschine“, Eichborn, 144 Seiten, 12,95 Euro)

Nicht jede Kilokalorie kostet das gleiche Geld. Wer sich beim Rucola bedient, zahlt 4,39 Cent je Kalorie, bei der Dr. Oetker Pizza Hawaii sind es immer noch 0,36 Cent und beim Weizenmehl Typ 405 gerade einmal 0,02 Cent. Zahlen wie diese präsentiert „Die grosse Jahresschau – Alles was 2010 wichtig ist (Knaur, 240 Seiten, 12,95 Euro). In doppelseitigen Infografiken zeigen die ZEITmagazin-Autoren Matthias Stolz (der einst den Begriff „Generation Praktikum“ erfand) und Ole Häntzschel (Goldmedaille der Society of News Design) auf einen Blick, dass zum Beispiel: 7000 Todesfälle in den USA jährlich vermieden werden könnten, „wenn Ärzte die Rezepte für ihre Medikamente nicht so unleserlich von Hand schreiben würden“, dass „Super Illu“ die Begriffe „Liebe“ und „Sex“ im Verhältnis 1:11.5 verwendet, der „Playboy“ jedoch nur im Verhältnis 1:1,5. Und wenig später weiss man, dass 2 Prozent der Deutschen länger als 20 Minuten duschen, 3 Prozent den Berliner Bürgermeister Wowereit für ein Idol halten, bereits 43 Prozent Ostereier bemalen, und stattliche 99 Prozent die Marke „Tchibo“ kennen. In bunt ist das alles mehr als beeindruckend. Absoluter Durchblättertipp!

Zwischen Türkei und Deutschland pendeln die kleinen Stories und Prosaminiaturen von Björn Kuhligk, der mit einem entspannten Flug beginnt („Ich lese Robert Louis Stevensons ‚Der Flaschenkobold‘ durch und denke, ach ja, nett.“), dann, krasser Wechsel, von ungewollten Schwangerschaften und Liebesarrangements in Quebec erzählt, von Melancholikern („Er denkt, wie leicht es wäre, für Jahre hier zu sitzen und von der Gegenwart überholt zu werden. Es würde ihn nicht stören.“). Man trifft „Erste-Welt-Idioten“, dann geht es zum „Johnny Cash der Türkei“, der vor 400 Leuten „arabeske Musik“ spielt, die populär wurde zu einer Zeit, als staatliche Radiosender lediglich westlicher Musik spielen durften und große Teile der türkischen Bevölkerung auf arabische Sender auswichen: „Sodass bald eine subproletarische Musikrichtung entstand, die arabesk genannt wird.“ Alles neu. Dieses wunderschön gestaltete Buch glänzt mit allerbesten Sätzen, mit lyrischen Szenen, die sich nicht mit Rilke, Benn, Aichinger messen wollen, sondern für sich stehen können: „Sie winkte. Ihre Hand sah wie ein kleiner Vogel aus.“ (Björn Kuhligk / Illustrationen: Oliver Hummel: „Bodenpersonal“, Verlaghaus J. Frank, 102 Seiten, 18,90 Euro)

Als Michael Bittner auf La Gomera einem Zivilisationsflüchtling begegnet, fragt er sich: „Wenn dieser gute Mann ein Leben jenseits der Zivilisation führen wollte, warum warum war er dann nicht einfach in Schwerin geblieben?“ Wenig später wird man in Max Rademanns Welt Geld ausgeben, sein Konto auf null bringen müssen, um gesellschaftlich zu überleben. Man zahlt keine Miete, sondern bekommt welche und der Lohn wird vom Arbeitgeber an die Firma abgeführt. Das ist ganz nett, wird aber an anderer Stelle unerträglich, wenn Thomas Mann mal wieder für ein Schwulenwitzchen herhalten muss (Julius Fischer), Gedichte wie Kulturfeigenblätter wirken (Stefan Seyfahrth) und Pipischerze einem stellvertretend für Autor Max Rademann peinlich sind. – Lesebühnentexte, live aus der Dresdner „Scheune“ – weniger knackig als die Berliner Konkurrenz, teilweise banal bis an die Beliebigkeitsschmerzgrenze. Sax Royal: „Eine Lesebühne rechnet ab“, Voland & Quist, 126 Seiten und 1 CD (71 Min), 13,90 Euro

„Wir wissen, was du letzte Nacht getan hast“, drohen Axel Lilienblum und Anna Koch auf dem Cover des SMS-Sammelbuch „Du hast mich auf dem Balkon vergessen“. Seit November 2009 sammeln sich auf ihrer Website SMS, die man besser nicht abgeschickt hätte. Das reicht von harmlosen Varianten wie: „19:07 Shit, ich wollte grad Kondome kaufen, da kommt A. plötzlich an mir vorbei“ – 19:10 Supergau! Und jetzt?-  19:15 Jetzt habe ich ’ne neue Zahnbürste.“ bis zu deftigeren SMS-Dialogen der Art: „21:01 was ist los süße bst du irgendwie beleidigt oder so? 21:12 0)… nein ist schon ok bin nur ein bisschen enttäuscht weil du heute auf die sms mit dem welt-kuss-tag nichts gesagt hast … aber ist schon ok bin nicht böse ;-* 21:30 ach schnucki ^^… wenn demnächst welt-blowjob-tag ist bin ich wieder romantischer.“ Was das Buch zeigt, gibt es gleichzeitig auch online. Klingt sinnlos? Ist es aber nicht. Der Band ist eine großartiges WG-Partygeschenk und Homepages können eingehen (wie das nicht mehr verfügbare „ampool“-Netzprojekt von Sven Lager und Elke Naters – das gibt es nur noch als gebrauchte KiWi-Taschenbuchausgabe). Deshalb: zugreifen. Es lohnt sich. (Axel Lilienblum, Anna Koch: „Du hast mich auf dem Balkon vergessen“, Rowohlt, 272 Seiten, 8,95 Euro)

Ab wann ist ein Mensch ein Mensch? Mitfühlend erzählt T.C. Boyle vom Wildem und Edlen, von Sehnsüchten und Obszönitäten. Der 1797 in Südfrankreich gefundene Victor von Aveyron ist ein „Wolfskind“, allein im Wald aufgewachsen. Erst im Alter von neun Jahren wird er mit der Zivilisation konfrontiert. T.C. Boyle erzählt in seiner meisterhaft schlichten Erzählung von einem Jungen, der rohe Kartoffeln gekochtem Fleisch ebenso vorzieht wie spontanes Masturbieren bei Tisch elegant-französischen Umgangsformen. In diesem Bildungsroman avanciert ein scheinbar taubstummes, triebgesteuertes Tier zum bedingt eingliederungsfähigen „Cretin“, zum rudimentär denkenden, mitfühlenden, sich selbst erkennenden Wesen, zum (wenn auch leicht debilen) Bürger. Das ist komisch. Das ist aber auch tragisch. Dahinter steckt vor allem eine große Frage: Ab wann ist ein Mensch ein Mensch – und wie geht man um mit Personen, die nicht so recht in unsere Gesellschaft passen wollen? Eine sehr, sehr mitfühlende Erzählung. Damit verbundene ethische, sprachphilosophische und erkenntnistheoretische Diskurse nerven hier an keiner Stelle – sie verleihen einer kleinen Geschichte humanistischen Glanz. (T.C. Boyle: „Das wilde Kind“, übersetzt von Dirk van Gunsteren, Hanser, 110 Seiten, 12,90 Euro)

Wie sehr beeinflussen uns eigentlich Graffiti mit so unterschiedlichen Aussagen wie „Holy Shit Man“ oder „Kein Mensch ist illegal“? Wie kommunizieren wir mit diesen Texten, die anders als Zeitungsartikel, Blogeinträge, Beipackzettel zufällig in unser Leben treten und meistens ohne direkten Urheber-Hinweis auskommen? Für alle, denen Giwi Margwelaschwilis 2009 erschienener, 800-Seiten-Weltroman „Der Kantakt“ zu umfangreich gewesen ist – dieser Essay ist perfekt als Einstieg ins Werk des georgischstämmigen Schriftstellers. Giwi Margwelaschwili schreibt über Graffities, die andere Graffiti überdecken oder ihnen einen neuen Sinn geben – wie das „nicht“, das zwischen den beiden ursprünglichen Wörtern „Nazis“ und „raus“ eingefügt wurde. Woher kommt das Gefühl, die Mauer selbst könne sprechen? Wieso sind „Tags“ mehr als Unterschriften, sondern gerade wegen ihres ornamentalen Charakters bemerkenswert? Warum gab es in der Sowjetunion keine Graffiti und was fangen wir an mit diesem Spruch: „The best system is a soundsystem“? Ganz davon abgesehen, dass dieser kluge, kryptische Essay inspiriert – das eigentliche Ereignis ist das Alter dieses „Mauerzeitungslesers“. Giwi Margwelaschwili ist stolze 82 Jahre alt. (Giwi Margwelaschwili / Fotos von Alexander Janetzko: „Der verwunderte Mauerzeitungsleser“, Verbrecher Verlag, 80 Seiten 12 Euro)

„Wer eine Vorschrift verletzt, verletzt schnell auch die zweite. War er in einer einzigen Nacht zum Gesetzlosen geworden? So jemand ist nicht mehr als die Summe aller Gesetze, die er gebrochen hat. Letztlich also ein Krimineller. Wäre auch er am Ende nichts anderes? Die Summe der Vorschriften und Gesetze die er gebrochen hat?“ – Der südamerikanische Major Anthony steckt in Schwierigkeiten, seitdem er nach einem Einsatz die Waise Lina mit nach Hause genommen hat. Ihre Eltern wurden „aus Versehen“ von Anthonys Soldaten während eines fadenscheinigen Anti-Terror-Einsatzes erschossen. Aus Barmherzigkeit, und weil sich seine Frau immer ein Kind wünschte, nimmt der Major die Kleine zu sich. In seinem gewaltigen Roman „Mitgenommen“ berichtet der gebürtige Holländer Arnon Grünberg aus einer surrealen Paranoiawelt, in der obskure Terroristen gegen eine Militärdiktatur kämpfen, unschuldige Mädchen zu skrupellosen Waffenhändlerinnen heranreifen, von Volkstribunalen, Folterszenen, hysterischen Ehefrauen, pädophilen Geldwechslern und warum Armut eine Form von Gewalt sein kann. Arnon Grünberg, Jahrgang 1971, erregte bereits mit seinem mehrfach übersetzen Debütroman „Blauer Montag“ Aufsehen. Regelmäßig schreibt er Bestseller, dazu wöchentlich Kolumnen für angesehene Zeitungen, ihm wurden etliche Literaturpreise verliehen – es gibt Kreise, die den Wahl-New Yorker bereits als neuen „Woody Allen“ handeln. Ausnahmeerscheinung. (Arnon Grünberg: „Mitgenommen“, übersetzt von Rainer Kersten, Diogenes, 752 Seiten, 22,90 Euro)

„Alle Lichter“ heisst der erste Gedichtband der Berlinerin Nadja Küchenmeister. Er ist deshalb so verdammt gut, weil die 28-jährige Autorin quasi aus dem Handgelenk über alltägliche Dinge schreibt, von Ameisen, die über Schuhe laufen, über Ananas-Essen im Strandkorb, über Tampons auf der Fensterbank und Ferien an der Ostsee. Stets haben ihre Gedichte eine doppelte Ebene, die man erst versteht, wenn man weiß, worum es eigentlich geht – „Alle Lichter“ erzählt von drei Dingen. Einmal vom Vater einer WG-Mitbewohnerin Nadjas, der aus dem Osten nach Amerika abgehauen ist, und sich später umgebracht hat. In einem anderen Gedichtzyklus geht es um ihren verstorbenen Onkel im Ostseebad Zinnowitz, bei dem Nadja viele Sommer verbracht hat und zuletzt hat sie viele Gedichte geschrieben über die Briefe ihres Vaters, die er, als er so alt war wie Nadja jetzt, ihrer Mutter aus seiner Zeit als NVA-Soldat geschickt hat: Das Buch ist ja ganz dünn, aber man kann es immer wieder lesen, wie man auch Alben immer und immer wieder hört -–denn bei “Alle Lichter“ bleibt es auch beim zweiten, dritten, vierten Mal überraschend. Großartiges Debüt. Nadja Küchenmeister: “Alle Lichter“, Schöffling & Co, 112 Seiten, 16,90 Euro

Unsere Zivilisation hat in naher Zukunft zwei große Probleme. Zum einen sind alle Bienen tot, Pflanzen werden also nicht mehr bestäubt, die Agrarkultur verödet, Saft kann nur noch chemisch hergestellt werden, die Natur kippt – was ungefähr den Voraussagen führender Naturwissenschaftler entspricht, also durchaus nicht komplett an den Haaren herbeigezogen ist. Zum anderen wird, reine Spekulation, die halbe Welt abhängig und lässt sich vom Lieblingsmedikament „Solon“ sedieren, einem Psychopharmakum, das die Zeit schneller vergehen lässt. „Generation X“-Autor Douglas Coupland wirft eine semiwahnsinnige Anti-Utopie auf den Markt, die zwischen „World of Warcraft“, Neurohorror, Gossip, Webcamsodomie und Celebrityhass changiert. Dabei beginnt alles relativ harmlos. Ein junger Typ wird von einer Biene gestochen – allerdings ist er das erste „Opfer“ seit fünf Jahren. Es folgen vier weitere Bienenangriffe, die von mysteriösen Wissenschaftlern untersucht werden, das heisst: Quarantäne für die Gestochenen, die sogenannte „Generation A“. Während diese fünf Helden in der Welt da draußen zu Stars avancieren, erleben sie in absoluter Abgeschiedenheit ihren ganz persönlichen Alptraum-Trip, bei dem geklonte Hirne verspeist, Pest-Geschichten im schaurigen „Decamerone“-Stil aufgewärmt, und Flugzeuge zum Absturz gebracht werden. Wer wissen möchte, wie Ökosysteme, Google-Links und James Joyce‘ Romane zusammenspielen kommt bei Coupland auf seine Kosten. (Douglas Coupland: „Generation A“, übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann, Tropen-Verlag, 340 Seiten, 19,95 Euro)

Ihre Stimme klang im Radio wie ein angelaufener Silberlöffel. “Dido mit den schlanken Hüften. Wer verliebte sich in jenem Sommer nicht in sie?” – Elisabeth Hay erzählt über ein kanadisches Provinzradio, das 1975 von einer jungen, niederländischen Moderatorin durcheinandergewirbelt wird, angefangen beim alten Radiowolf Harry, der nach demütigenden Schleifen über eine abgesetzte TV-Show, den Alkohol, das Leben auf der Straße wieder dort gelandet ist, wo seine Medienkarriere einst begann. Nun verliebt sich Harry in Dido. Er ist ein großer Romantiker, der glaubt, Radio sei Poesie, “zumindest im besten Fall”. Und er hört auf zu trinken, will ein besserer Mensch werden, “um jeden Augenblick mit dieser wunderbaren Frau genießen zu können”. Er gewinnt seine nostalgische Jugend zurück, während draußen die Moderne mit aller Gewalt ausbricht, eine Pipeline durch Kanadas wunderschöne, unberührte Tundra gezogen werden soll, während Indianermädchen mit Alkohol betäubt und zur Prostitution gezwungen werden und das Fernsehen zum finalen Todesstoß gegen das Radio ansetzt (wir sind natürlich der Meinung, es habe nie gewonnen). Harry will, den Problemen zum Trotz keinesfalls aufgeben. Er will sein Glück festhalten, um jeden Preis. Doch dann verschwindet Dido eines Tages, einfach so. “Nachtradio” ist ein stiller Roman für die letzten Wintertage, ein leichtfüßiger Schmöker über verlorene Hoffnungen, Radiokindheiten und ganz viel Liebesmelancholie. (Elisabeth Hay: “Nachtradio”, übersetzt von Anke Caroline Burger, Schöffling, 428 Seiten, 24,90 Euro)

Eine Liebesgeschichte kann man auf viele verschiedene Weisen erzählen. Bei Ryan Boudinot geht es gleich ums Eingemachte: „Sperm & Egg“ heisst sein Roman und ist verdammt gutes Samstagabendkino, kein Klamauk – sondern eine Liebesgeschichte zwischen den Schulkameraden Kat und Cedar, die beginnt, als der Junge zum Mikroskopieren im Biounterricht einen Objektträger mit seinem Kindersperma mitbringt. Die Lehrerin schmeisst ihn raus. Doch von Kat wird er ab sofort bewundert. Sie nimmt den Objektträger mit Cedars Sperma als Erinnerung heimlich mit nach Hause. Das klingt ekelig, kein bisschen nach Liebe, aber es sind eben Samen und Ei, die immer wieder, aus verschiedenen Gründen in diesem Buch aufeinander treffen und zu teilweise katastrophalen Verwicklungen führen. Kat und Cedar kommen zusammen und stehen etliche Stürme ihrer Jugend durch, die mal hochdramatisch, dann wieder eher tragikkomisch sind. Wie die Szene, als Cesar seine geliebte Kat zu einem Treffen mit ihrem lang verschollenen Säuferdaddy begleitet, der sich echt ungeschickt bei ihr entschuldigen will: „Ich erwarte nicht, dass du mich magst oder so, ich weiß, dass ich beschissene Sachen gemacht habe….“ – „Du hast mir den Arm gebrochen“, sagte Kat. „Das war ein Unfall, Katty. Ich … Ja, okay, wie zum Beispiel deinen Arm zu brechen. Was ich überhaupt nicht wollte. Aber was für eine Scheißaktion, ja. Ich weiß, ein paar Worte auf dem Mund eines ehemaligen Säufers sind nichts wert, das weiß ich.“ Die Geschichte, aus mehreren Perspektiven erzählt, mit Zeitbrüchen, Slapstickeinlagen und Actionszenen ausgestattet, ist mindestens so wild wie das Cover. Ab jetzt wird es heiss. Bücher wie “Sperm & Egg“ braucht der Sommer am Strand. (Ryan Boudinot: “Sperm & Egg – Eine Liebesgeschichte“, übersetzt von Silke Jellinghaus, Rowohlt, 214 Seiten, 12 Euro)

Nachdem Esther ihre Schule abgebrochen, ihr ärmliches Zuhause hinter sich gelassen hat, zieht sie nach New York und kommt während des Winters zurück in die Heimat. „Seit ich wieder in Manchester bin, ist mein Leben ein Labyrinth, würde ich sagen: ein Labyrinth ohne Zentrum, aber das ist noch nicht alles.“ Esther hängt mit Donnas Rockband auf Festivals herum, lässt sich treiben, vom einen Mann zum anderen, besucht Galerien, Bars und Partys, lebt sich frei, von ihrer Mutter, die sogar den Behälter eines Toilettenspülsystems hortete, weil der wiederverwendbar sei, obwohl sie schon sechs davon hatte. „Krankmeldungen“ kennt keine Illusionen. Die Liebe ist hier vage, hart oder fern, wie Donnas in regelmäßigen Abständen syphilitischer Matrose „mit imposanter Haartolle.“ Die Zukunft der zwei liegt in irgendeinem Bar-Tresenjob, in Discounteressen, billigen Urlaubswochen in spanischen Bunkern und in viel Gin. Die rührende, kurze Geschichte sucht, und das reisst sie aus der totalen Belanglosigkeit, im grauen Schmutz nach ein bisschen Glanz. Das können ferne Matrosen, weiße Blumen im Haar oder auch rotzige Liebeserklärungen sein: „Wenn ich dich hassen würde, hätte ich nicht mit dir geschlafen. Jedenfalls nicht mehrmals.“ Dichterworte, Anzuglächeln und Gentleman-Manieren, die gibt es bei der 29-jährigen Hype-Autorin Riley nicht. Das sind Illusionen, für Collegefilme erdacht. Gwendoline Riley: „Krankmeldungen“, übersetzt von Sigrid Ruschmeier Schöffling & Co, 204 Seiten

Zusammen sind sie weniger allein, die beiden britischen Schüler Luke und Jon. Der eine hat seine manisch-depressive Mutter durch einen Autounfall verloren und lebt allein mit seinem Dad, einem Holzspielzeugbauer. Der andere, Vollwaise, hat sich in Zweckautismus zurückgezogen und erträgt seine senilen Messie-Großeltern. Die beiden freunden sich an, sind gegenseitig Stützen in einer schwierigen Zeit, die von Mobbing (Sonderling Jon wird von Mitschülern geprügelt, weil er Opaklamotten anzieht) über Alpträume (in Lukes Leben geht es permanent um tödliche Unfälle, Selbstmorde und Selbstmordversuche) bis zu Alkoholismus und Fettsucht reicht – ausreichend Stoff für zwei Dutzend Talkshow-Runden. Ausgezeichnetes Debüt. (Robert Williams: “Luke und John”, übersetzt von Brigitte Jakobeit, BvT, 192 Seiten, 8,95 Euro)

Im norddeutschen Worpswede wird der verstorbene Bildhauer Kück zum „Künstler des Jahrhunderts“ geehrt. Deutsche Helden wie Max Schmeling, Heinz Rühmann oder Martin Luther stehen bereits im Maßstab 1:1 für die Gedenkausstellung bereit. Da taucht das lang versteckte Bronzebildnis vom ersten NS-Reichsbauernminister auf und die weiße Künstlerweste ist befleckt. Spätere Verwicklungen begleiteten unter anderem ein dusseliger „Torfkopp“, der selbstverfassten Minnesang auf fremde Felder wirft und ein eifersüchtiger Ex-Liebhaber, der sich mit Gülle an einer Hochzeitsgesellschaft rächt. Im Dorfbordell blockiert derweil eine Gruppe Parkinsonkranker die besten Damen. Klonschaf Dolly stirbt. Die Geliebte von Gottfried Benn rastet aus. Willy Brandt isst Kuchen. – Großartige Mischung aus Provinzposse und Geschichtsdrama. Ein kluges und zum Versinken schönes Romandebüt aus dem Moor Worpswedes. (Moritz Rinke: „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“, KiWi, 492 Seiten, 19,95 Euro)

Die Gletscher schmelzen, das Bankgeheimnis ist gefallen, die Swissair gehört schon lange zu Lufthansa und Integration ist nicht gerade das Lieblingswort der Eidgenossen: Die schöne Schweiz ist in die Bedrouille geraten. Der großartige Prachtband „Tour des Suisse“ wurde 2010 zur rechten Zeit vom bibliophilen Verlag „Wald + Graf“ veröffentlicht. Er inszeniert die Schweiz als Sehnsuchtsort, mit nostalgischen Tourismusplakaten der 1930er bis 1950er Jahre. Schon im nachgedruckten Vorwort des damals umfeierten Reisebuchautors Eugene Fodor (1905-1991) steht: „Die Schweiz ist das ideale Ferienland und stellt – in mehr als einer Hinsicht – eine Synthese des Besten dar, was Europa zu geben hat. Das Land bietet ein Höchstmaß an landschaftlicher Schönheit und Erholungsorten, an Gelegenheiten zu sportlicher Betätigung und an vielen anderen Reizen. Vor allem aber ist es ein Musterstaat.“ Auf den Plakaten reist man mit dem Schiff über den Genfer See, ins abendliche „Casino Municipal de Montbenon“ von Lausanne, mit der Bergbahn aufs 2045 Meter über dem Meeresspiegel liegende Montreux, dann über Ascona, St. Moritz, Davos. Zürich und durchs reiche Appenzeller Land zum abschließenden Schoppen am Bodensee. Dazwischen gibt es allerfeinste Tipps, zum Beispiel für alle Bern-Reisende: „Die Berner, so heißt es, sind die langsamsten Leute der Schweiz. Erzählen Sie nie einem Berner am Sonntagmorgen einen Witz, er wird die Pointe nicht eher begreifen, als bis er in der Kirche sitzt – und dort lacht er dann aus vollem Halse.“ (Peter Graf (Hg.): Tour de Suisse – Eine nostalgische Reise zu den schönsten Plätzen der Schweiz“, Walde + Graf, 144 Seiten, 73 farbige Abbildungen, 44,80 Euro)

Volker Wieprecht und Robert Skuppin widmen ihr umwerfend lustiges „Lexikon der verschwundenen Dinge“ ihrem „abgeschabten Maulwurf und dem Stoffdackel, der 1971 an der Autobahnraststätte Nürnberg-Feucht liegenblieb.“ Im Lexikon selbst geht es jedoch nicht um persönliche, sondern um gesellschaftliche Sachen, die inzwischen nicht mehr aufzufinden sind, aber durchaus vermisst werden: wie das Einkaufsnetz, Brieffreunde, Jo-Jos, Knasttränen, Stopfpilze und der Taschenrechner. Zu jedem Begriff gibt es einen pseudo-lexikalischen Aufsatz, immer wieder mit passender Bebilderung. Besonders hübsch ist die Schrankwand der Epoche „Gelsenkirchener Barock“, unter der knapp steht: „Teilansicht der Berliner Mauer, vom Westen aus gesehen“ oder auch das Foto eines 70er-Jahre-Models, das verliebt auf ihre Nähmaschine schaut mit dem Satz: „Uschi H. hat jetzt auch ein Notebook.“ Dieses Lexikon ist vielleicht nicht an jeder Stelle politisch korrekt, dabei von Anfang bis Ende unterhaltsam. Dieses Buch wird erstmal nicht verschwinden, das bleibt, mindestens einen Büchersommer lang. (Volker Wieprecht und Robert Skuppin: „Das Lexikon der verschwundenen Dinge“, Rowohlt, 17,90 Euro)

„Drei Sekunden brauchen wir, um uns zu verlieben.“ Die Geschichte dahinter dauert länger. Herzklopfen ist garantiert, wenn sich Annette und Stefan beim Blind Date mit Bindehautentzündung und Silversterverletzung gegenübersitzen, wenn Halbschwedin Tanja „unter den Sternen von Bangalore“ mit einem britischen Gentleman knutscht, wenn „Berufssingles“ unvorsichtige Küsse trotz Hirnhautentzündung austauschen. Eine alte Eiche kommt vor, die seit Jahrzehnten als Partnerschaftsbörse dient: „Der legendäre Baum hat sogar eine eigene Adresse: Bräutigamseiche, Dodauer Forst, 23701 Eutin“. Und der schönste Anfang kommt vom transsexuellen Henrik (37): „Als ich mich vor 12 Jahren in Katka verliebte, war sie noch ein Mann und ich eine Frau. Heute ist es andersherum.“ Nett. Nicht mehr. Flotte Frauenmagazinschreibe trifft auf schmachtend-süßen Mädchenblog-Tratsch. Für Verknallte mit Identifikationsbedarf. (Anna Butterbrod: „Love, Love, Love. 33 Geschichten von der großen Liebe“, Schwarzkopf & Schwarzkopf, 240 Seiten, 9,90 Euro)

Ein heißer Sommer in Holland, eine nymphomanische Femme fatale, zu viel Hitze, zu viel Testosteron und ganz viel Sex ohne (Er)Lösung. Für Sommersüchtige. Für einen „Misfit“, einen Einzelgänger, hat Overeems 18-jähriger Held ein recht umfangreiches Liebesleben. Nach seinem Hilfsjob als Fußbodenabschleifer hängt er mit der sexuell offenen Kaat ab. In einem besonders heißen Sommer wechselt ihre Beziehung zwischen Feuerbrand, Fata Morgana und Dürre. Er glaubt, Kaat sei schwanger. Sie verfüttert Kaviar an streunende Hunde. Es gibt einen psychisch labilen Bruder, der sich von Tiere belauert fühlt. Und zwischen diesem Irrsinn verdrängt der Junge eine zunächst namenlose Katastrophe. Diese aufgeheizte Geschichte kommt ohne adoleszenten Schwulst oder männlichen Bettphantasmen aus. Die langsam schwindende Coolness des Helden wirkt nie aufgesetzt – allein der Vergleich mit Ian McEwan ist etwas zu ambitioniert. (Vincent Overeem: „Misfit“, übersetzt von Christiane Kuby, Berlin Verlag, 242 Seiten, 19,90 Euro)

Eine ganz andere Phantasiewelt stellt die britische Autorin Scarlett Thomas in ihrem neuen Fantasy-Punk-Mystery-Roman “PopCo” vor. Die Hobby-Kryptologin Alice Butler arbeitet als Entwicklerin für einen hippen Spielwarenkonzern und wird zu einem “Inspirations-Camp” eingeladen, um neue In-Games für den westlichen Wohlstandsnachwuchs zu kreieren. Das Treffen auf dem Land, inmitten spielverrückter Kollegen, kippt jedoch ins Surreale, als Alice von einem Unbekannten verschlüsselte Botschaften erhält, die sie in eine düstere Gegenwelt locken. Mit mathematischer Raffinesse, Primzahlen-Spielen und einer anständigen Portion Coolness hetzt Alice durch ein verdammt gut konstruiertes Abenteuer, das ausreichend Spannung für satte 700 Seiten bereithält, mit spirituellen Hypes wie Reiki, Chanting, Qi Gong bis zu Second Life, Guerilla-Mythen, alten Schatzkarten – und moderner Cyberspace-Philosophie. (Scarlett Thomas: “PopCo”, übersetzt von Tanja Handels, Rowohlt, 704 Seiten, 12 Euro)

Der Norweger Bjarte Breiteig, ist in seiner Heimat ein Literaturstar. „Von nun an“ erzählt über junge Typen oder Mädchen, die etwas furchtbar Irritierendes erleben. Seine Texte knallen, und zwar so richtig: Es gibt eine Erzählung über eine Wunderheilung in einem Bibelzelt, ein Wiedersehen während einer Bahnfahrt zwischen zwei Erwachsenen, die als Kinder quasi Feinde waren. Dann gibt es eine Party, die das Ehepaar Jørn und Brit schmeißt – in der er eine seltsame Szene gibt: „Jørn bahnte sich seinen Weg bis zu Brit. Er befreite das Weinglas aus ihrer Hand und stellte es zusammen mit seiner Bierflasche auf den Kamin.“ Und „da fiel ihm auf, dass die roten Flecken wiederaufgetaucht waren. Im Kerzenschein sahen sie aus wie Blutergüsse über Kinn und Hals. Er zog sie näher an sich heran.” Hier sind es Blutergüsse, die wie aus dem Nichts auftauchen und ebenfalls wie aus dem Nichts wird sich die wahre Dimension dieser Verletzungen noch auf dem von Bjarne Breiteig genial beschriebenen Partyabend zeigen. Wie dieser junge Norweger ganz furchtbare Dinge in etwas Beiläufiges und Rätselhaftes verwandelt, ohne groß mit der Sprache oder dem Stil rumzutricksen, ist einfach nur: cool. (Bjarte Breiteig: „Von nun an“, übersetzt von Bernhard Strobel, Luftschacht, 106 Seiten, 14,60 Euro)

„Komm‘ her, Cherie, lass uns den Homunculus tanzen!“ – Kunkels Puppenerzählung schafft zwischen Nazislang und Onaniephantasie die Menschheit ab. „Die westlichen Industrienationen haben den lebenden Tod schon immer vergöttert.“ Deshalb versteht Topspion Kolther nicht, warum er auf den Hersteller täuschend echter Sexpuppen angesetzt wird, um an der Côte d‘Azur geheime Computerdaten von einer Festplatte zu stehlen. Der Kryptologe ermittelt während eines bizarren Aktionärstreffens, bei dem weißgekleidete Herren ihre dickbrüstigen Silikonspielzeuge, als körperlich beeinträchtigte Gattinnen getarnt, im Rollstuhl umherfahren. Gleichzeitig preisen dunklere Kräfte die Sexbots als Alternative zur „emanzipierten Muslima“ an. Welches Spiel wird tatsächlich geboten? Zwischen dem Puppenkabinett des NS-Psychiaters von Eibenwald und Oskar Kokoschkas Puppenfetisch passt bei Kunkel nicht weniger als der Untergang des Abendlandes. (Thor Kunkel: „Schaumschwestern“, Matthes & Seitz, 282 Seiten, 14,80 Euro)

Um Gedichte, im weiteren Sinne geht es auch dritten Buch, allerdings Hip Hop-Rhymes und die ersten DJ-Sets von Oldschool-Stars wie Africa Bambaataa, Grandmaster Flash oder Kid Creole in New York. Auf 200 Seiten sammelt “Born in the Bronx“, Flyer, Konzert-Fotos, ultrarare Werbeanzeigen für die früheste HipHop-Singles, Battle-Tapes und O-Töne der ersten HipHop-Stars. Schon das Vorwort erzählt, wie schwierig es war, so viele Dokumente zusammenzutragen, weil die proletarische HipHop-Kultur, anders als zum Beispiel die größtenteils aus dem Bürgertum kommende Punkkultur mit ihren Fanzines, selbsternannten Szenefotografen- und -sammlern, keine Listen und Archive angelegt hat. Was man hier also in den Händen hält kann man sich nicht mal eben schnell zusammengoogeln. Außerdem sind die Aufsätze sehr gut: Africa Bambaataa schreibt über die Anfänge der Zulu-Culture, Jorge „Popmaster Fabel“ Pabon erzählt von der frühen Hip Hop-Bildsprache, Grandwizzard Theodore erklärt, warum er 1975 das Scratchen erfunden hat. Wer sich für Hip Hop interessiert kommt an diesem guten, sehr liebevoll gestalteten Band kaum vorbei. (Johan Kugelberg (Hg.): “Born in the Bronx – Die Anfänge des Hip Hop“, Edel, 208 Seiten, 22,95 Euro)

Seit Jahrzehnten ist Paulo Coelho auf der „Suche nach Wissen, innerem Frieden und der Bewusstheit für die Wirklichkeit – die sichtbare wie unsichtbare.“ Mit Bekenntnissen wie diesen aus dem aktuellen Bestseller „Aleph“ hat Coelho weltweit über 75 Millionen Bücher verkauft. Bekannt wurde der esoterische Brasilianer mit seinem in über 60 Sprachen übersetzten Roman „Der Alchimist“. Aleph“ erzählt nun von einer Lesereise Coelhos, die allerdings ins Mystische führt. Auf der einen Seite geht es um eine Liebe des Über-60jährigen zu einer 21-jährigen Türkin. Auf der andren um Sufi-Gebete und buddhistische Nonnen, die „spirituelle Orgasmen“ erfahren. Coelo selbst ergötzt sich 310 Seiten lang am Leben als Starautor. Abstrus. Unterhaltsam. Selbstverliebt. In 14 Ländern bereits auf Platz 1 der Bestsellerlisten. Paulo Coelho: „Aleph“, übersetzt von Maralde Meyer-Minnemann, Diogenes, 310 Seiten, 19,90 Euro

Es gibt viele Geschichten, die nur eine Zahl im Titel führen – der Kinofilm „Sieben“ von David Fincher gehört dazu oder „Zwölf“, der neue Short-Story-Band von Franka Potente. Jetzt erscheint ein Buch, das „76“ heißt und Geschichten des Argentiniers Félix Bruzzone präsentiert. 1976 begann die sieben Jahre andauernde Militärdiktatur in dem Land. Der Autor Martín Kohan hat darüber schmerzhafte Bücher geschrieben, die man wegen ihrer Folterszenen kaum aushalten. Félix Bruzzone nähert sich allerdings auf entgegengesetzte Weise der Militärdiktatur, indem er nicht von den Inhaftierten schreibt, sondern über Kinder, Schüler, Studenten, die zwischen 1976 und 1983 deshalb allein aufwachsen, weil ihre Eltern vom Militär ermordet worden sind. Doch auch dieses Verschwinden der Eltern wird nur am Rande erzählt. In einer Story wird ein Kind von seinen Kumpels zum Playboy-Kaufen geschickt. In einer anderen betrinkt sich ein Junge zum ersten Mal in seinem Leben bis zur Besinnungslosigkeit – eigentlich ein typisches Erwachsenwerden-Ding, aber hier ist es ein Betrinken aus Trauer um die verschwundene Mutter. Es könnte lustig sein. Ist aber vor allem tragisch. Schrecken entsteht durch das, was nicht erzählt wird. Im Hinterkopf bleiben immer die Bilder aus den Foltergefängnissen, weshalb „76“ auf den ersten Blick sanfter wirkt als zum Beispiel „Sittenlehre“ von Martín Kohan – aber am Ende nicht weniger schmerzhaft ist. Félix Bruzzone: „76“, übersetzt von Markus Jakob, Berenberg, 142 Seiten, 19 Euro

Zwischen Klosternonnen und Schwimmpriestern wächst Philomena, genannt „Pip“, Tochter eines Fledermausforschers und Hobbyfliegers im langweiligen Kansas auf. Ihr Umfeld ist kaputt. Es gibt Drogenabhängige und Diebinnen, es gibt Todesfälle, Züchtigungen, Schmerz und ein verklemmtes Verhältnis zur eigenen Sexualität. Nur im Wasser fühlt sich Pip schwerelos, zum Anfang zurückgekehrt, wie ein zappelndes Spermium vor der Befruchtung. Diese Urverbundenheit zum Wasser lässt Pip eine der besten Schwimmerinnen aller Zeiten werden, als Star zwischen Dopingschluckern, Mannweibern, psychisch labilen Konkurrentinnen. Was zählt ist allein das Schwimmen! Coming-of-Age-Roman mit seltenen Medaillenmomenten, der verfliegt wie ein Kraulrennen bei der Kurzbahn-WM; mal spritzig wie der Stil von Marc Spitz, dann wieder seicht wie ein Babybecken; wechselhafte Lektüre für ambitionierte Badewannentaucher. (Nicola Keegan: „Schwimmen“, übersetzt von Bernhard Robben, Rowohlt, 442 Seiten, 19,95 Euro)

„Die Letzten werden die Letzten sein“, das hat der New-Economy-Held aus David Pfeifers düsterem Debütroman „Der Strand der Dinge“ verinnerlicht. Derartige, um die sogenannte Jahrtausendwende zirkulierende Wichtigtuersätze begleiteten viele der „digitalen Münchhausen“, Typen, die mit ein bisschen Internet die Realität wegblendeten (im doppelten Sinn). Vom Aufstieg, Fall und neuem Aufstiegskampf weiss der Ich-Erzähler zu berichten, der vom Chef des Start-Ups „Tigerblade“ hinabsinkt in die Welt der Räumungsklagen und Aktien-Notverkäufe, der Pfändungs- und Vollstreckungsbescheide. Aus „Mein Haus, Mein Auto, Meine Frau“, einer der typischen Werbespots dieser Aktionhochphase wird schnell „Mein WG-Zimmer, mein Smart, meine Ex“. Wie es sich anfühlt, von den Mädchen missachten, den Freunden gegängelt, zweitklassigen Agenturchefs mitleidig „angeworben“ zu werden, erzählt David Pfeifer, einst Ressortleiter Unterhaltung und Medien beim „Stern“ überraschend routiniert, erschreckend realitätsnah und, tatsächlich: schonungslos. (David Pfeifer: „Der Strand der Dinge“, Dumont, 290 Seiten, 19,95 Euro)

Deutschland hat sich in der großen Finanzkrise vom Rest der Welt abgeschottet und weil das im globalen Dorf undenkbar ist, kommt es zu Apokalypse: Ein Kunstwerk mit dem Namen „Ohne Titel“ kann plötzlich gehen, kommunistische Stoffhasen fangen an zu sprechen, Bankentürme fliegen durch die Luft, das Gedankengut eines Islamisten setzt sich in einem Dynamitkäse fest, Ausländer lösen sich auf, „und in Deutschland geborene Türken büßten ihre sämtlichen Wassermoleküle ein und rieselten als feiner Staub zu Boden.“ – Ex-„Spex“-Chef Dietmar Dath hat mit seinem illustrierten Endzeitszenario das Gegenprogramm zur Kapitalismusmelancholie von David Pfeifer geschrieben. Am Ende seiner Liebes-Abenteurgeschichte, in der ein schöner Gymnasiast mit seinen skurrilen Begleitern (Hase, neureiche Mitschülerin, ein Kommunist, das Kunstwerk) loszieht, um im geschlossenen Deutschland die Welt vorm bösen Monster Geld zu befreien, bleiben gleich zwei Erkenntnisse – Geld ist nicht alles, Liebe aber schon. (Dietmar Dath, mit Illustrationen von Piwi: „Deutschland macht dicht“, Suhrkamp, 200 Seiten, 17,80 Euro)

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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