Auf dem Rebellenmarkt

„Schiller ist so grausam hohl, da ist die gleichnamige Trancepopband Schiller ein  Geisteshighlight gegen“, schreibt Rainald Goetz in seinem Vanity-Fair-Blog „Klage“. Bei Suhrkamp ist der komplette Internettext als 420-Seiten-Tagebuch erschienen. Ein Rückblick auf 25 Goetz-Jahre: Punk, Netz, Jetzt, RAF und Clubmusik.

„Schaut euch lieber das Fernsehen an. Wir brauchen noch mehr Reize, noch viel mehr Werbung Tempo Auto Modehedonismen Pop und nochmal Pop.“ Das Beben in der Stimme entstammt echter Wut. So war das damals, im Klagenfurter Sommer des Jahres 1983. Ein blondgefärbter Punk betritt die Bühne des Ingeborg-Bachmann-Lesewettbewerbs. Unruhe im Saal, die Ordner bitten um Ruhe, der Autor wolle lesen. Und der Autor liest Punk eine halbe Stunde lang. Er liest den „Nullenkritikern“ im Juryhalbrund seine Haßtirade „Subito“ vor. Es geht um „Blödel“, um „Riesenscheiße“, um „blääde Sensibilität“, um Künstlerhinrichtungen: „Blaff Blaff Vlaff. Mit einem gescheiten Maler mußt keinen gezwirbelten Schmarren daher reden, damit du die Welt verstehst, du sagst es 119mal, er so etwa 120mal, nämlich das Wort Scheiße, und schon ist alles Sagenswerte über Klagenfurt gesagt.“

Kurz vor Schluss greift Goetz zur verdeckten Rasierklinge und schneidet sich in seine Stirn, dorthin, wo das „Hirn“ sitzt („Hirn“ wird 1986 Titel seiner Geschichtensammlung, in der „Subito“ als Eröffnungstext erscheint). Während 1983 das echte Blut auf den erdachten „Subito“-Text tropft, schimpft der Punk vorm ersetzten Publikum über den „Hardcoreschwachsinn der Titel Thesen Temperamente Und Akzente Sendungen.“ Zum Schluss lädt er alle in Hamburgs bekannte Szenekneipe ein: „Und jetzt, los ihr Ärsche, ab ins Subito.“ Gewonnen hat der Punk beim Wettbewerb nicht. Aber nach dieser Inszenierung kannte jeder seinen Namen: Rainald Goetz.

Rainald Maria Goetz, 1954 in München geboren, Doktor der Geschichte und Medizin, Freund von Sven Väth und Westbam, einer der ersten Internetblogger, einer der letzten RAF-Anhänger, ein hoch begabter Chronist. Für Goetz bedeutet das Modeschimpfwort „Pop“ weiterhin großer Aufstand, das hört nicht auf. Pop ist bei ihm keine Massen-Anbiederung, kein Stumpfsinn-Freibrief, sondern immer wieder Grund genug, um weiter zu denken: „Lieber geil angreifen“, heißt es in Subito, „kühn totalitär roh kämpferisch und lustig, so muß geschrieben werden, so wie der heftig denkende Mensch lebt.“ Goetz hat diese Forderung erfüllt. In seinem Punk-Psychiatrie-Romandebüt „Irre“ verirrt sich der junge Assistenzarzt Raspe zwischen Wave-Nächten und wahnsinnigen Tagen in der geschlossenen Psychiatrieabteilung in Münchens Uniklinik. Bereits hier ist alles da: UK Subs, Titanic, Sounds, James Joyce, Popeye, Palais Schaumburg, Bilder, Fotos, Comics. Monarchie und Alltag, das Leben als Chaos, Feier, Chance. „Irgendwann einmal werde ich DANTE lesen“, steht auf der letzten Seite. Aber vorher wir getanzt.

Die Achtziger entwickeln sich hedonistisch, glattglänzend, discoid. Der dreckige Punk weicht sauber gebürstetem Elektropop und Goetz vertieft sich in ein spätes, aber fruchtbares Privat-Philosophiestudium. Die Raspe-Figur, namentlich angelegt an den RAF-Anarchisten Jan-Carl Raspe (geboren 1944, am 18. Oktober 1977 mit Kopfschuss in seiner Stammheimer Gefängniszelle aufgefunden), zeigt die Richtung an, in die Goetz erst einmal gehen wird. Der Deutsche Herbst inspiriert die Stücke-Sammlung „Krieg“ (1986) und den „Irre“-Folgeroman „Kontrolliert“ (1988), bei dem Raspe erneut als Figur auftritt: „Ich erzähle hier die Geschichte des Jahres neunzehnhundert siebenundsiebzig. Heute ist Montag, der siebzehnte Oktober, kurz vor zwölf, nein, null Uhr zwei.“ Auf der Rückseite von „Kontrolliert“ steht fettgedruckt, in Rot: „Fight for your right.“ Diese Losung wird noch im Veröffentlichungsjahr konsequent ergänzt, hier den New Yorker „Beasty Boys“ folgend, die einst Hardcorepunks waren, jetzt HipHop-Stars sind: „(You Gotta) Fight for Your Right (To Party!)“. Während im politisch-öffentlichen Leben mit Mauerfall, Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Golfkrieg im Februar 1991 die große Ernsthaftigkeit aufkommt, steht Goetz feiernd im Club.

„Am Samstag, den 3. September, war in den Oberföhringer Klinik Übungsräumen die Party SOUNDS of Ecstasy from HIP HOP to HOUSE mit allem, Nebel, Partybreakern, Schlägerei, Polizei, zusammengebrochener Anlage, Sprayern. französischen Spontanrappern und dazwischen mit wirklich echter Acid House Musik. Ich war soo glücklich. D.J.: mix master G. HELL. Das vergesse ich dem nie. Incipit vita nova.“ Rainald Goetz wird Technohouse-Anhänger. Er tourt mit Sven Väth durch die Welt, veröffentlicht die „Word“-CDs beim Technolabel „Eye-Q“, schreibt mit Westbam „Mix, Cuts & Scratches“ und veröffentlicht seine brillante Gegenwartserzählung „Rave“ (1998): „Er schaute hoch, er nickte und fühlte sich gedacht vom Bum-bum-bum des Beats. Und der große Bumbum sagte: eins eins eins – und eins und eins und – eins eins eins – und – geil geil geil geil geil …“

Rainald Goetz wird Blogger, schreibt zuerst, auf Papier, den Materialienband „1989“. „Ich sammelte weiter Namen, Orte, Sätze, Worte, in langen Spalten und Kolonnen.“ Der Autor erinnert sich an die Veröffentlichung: „Die Kritik war natürlich begeistert. Halt, nee, es war umgekehrt: sie waren enttäuscht; gelangweilt, genervt. Ich hatte gedacht, man schlägt >>1989<< auf und SIEHT sofort, dass das ein Text zum ANSCHAUEN ist, nicht zum Lesen, kriegt allein davon schon auf der Stelle gute Laune.“ So viel Euphorie: „Dieser Text ist eine weite Welt.“ Der Mann hat Selbstbewusstsein, während das Feuilleton alle deutschen Schriftsteller anhält, doch bitte endlich über die Städte, über das Urbane zu schreiben. Dabei war das alles längst da! Ende der Neunziger Jahre geht Goetz ins Netz, bietet auf www.rainaldgoetz.de „Abfall für alle“.

Gedruckt werden es 850 Seiten: „Los gehts. Mittwoch, 4.2.98, Sonnentag, Berlin.“ Und es endet mit den Worten: „Luhmann Alltagsplausibilität Gesellschaft ja das wars alles alles Licht.“ Dazwischen: Panik, Wirrniss, „Scham und Schönheit“, Galeriebesuche, ein „Rave“-Verriss im WDR, Techno, H&M, die große Mitschrift von Goetz‘ Wirklichkeit. Es ist ein epochales Wortblockunterfang-en. Es geht im Dr. Motte, Heike Makatsch, um „Liebe bei Nacht“, Wired, mojo, NME, ein Westbam-Set, um Max Goldt und „Tschakka“! Das Ding ist schnell, bruchstückhaft wie die Welt nun einmal ist. Alles drin: Mode und das große „Ich“, immer wieder Pop, Postmoderne, eine Party in Worten. Auf der Rückseite steht, ganz schlicht das kleine Wörtchen „Licht“. Jetzt ist „Klage“ erschienen, die Abschrift von Goetz‘ gleichnamigen Vanity-Fair-Blog, vom 1. Januar 2007 bis zum letzten Eintrag vom 21. Juni 2008. Das Buch ist mehr als die Neuauflage einer zehn Jahre alten Idee. Die Form ist die gleiche, es ist wieder „Abfall für alle“. Aber Goetz, inzwischen dienstältester Technoanhänger Deutschlands, blickt auf 25 Jahre Arbeit zurück. „Klage“ erzählt wieder vom Punk, von der RAF, vom Rave. Selbstverständlich bleiben viele Anspielungen unverständlich, aber. „die Welt ist auch so.“ Ist das Buch lesenswert? Ja! Denn es ist unterhaltsam, Goetz‘ beim großen „Textschimpfen“ zuzusehen, wie er Geschäftsmänner im ICE an-herrscht, leiser auf dem Laptop zu tippen: „TONE DER BLÖDHEIT, da mache ich demnächst mal eine Sammlung.“

Das ist toll und nur manchmal peinlich, wenn der Autor zum Beispiel einer Biermarke für den schönen Abend dankt. Goetz ist das egal. Lieber lässt er sich anpöbeln, von der Kritik nerven. Er will mutig sein und ohne Schere im Kopf schreiben. „Klage“ ist ein frei atmendes Werk, eines seiner besten. Quintessenz: Sein Debüt heißt „Irre“, der Autor ist es nicht. Oder, anders gesagt: Goetz ist nur ein wenig „irre“, was er in einem Interview mit den Spiegel-Journalisten Volker Hage und Wolfgang Höbl erklärt, nach der Frage, weshalb seine Bücher durchnummeriert seien, „von 1. ‚Irre‘ bis zu 5.1. ‚Rave‘ und 5.2.’‚Jeff Koons‘. Dabei sagte Thomas Mann schon 1951, er sei vielleicht der Letzte, der überhaupt weiß, was ein Werk ist‘.“ Goetz antwortete darauf, weiterhin selbstbewusst: „Ja, rührend. Wie jeder der Alten immer denkt, er wäre der Letzte. Natürlich schreibt jeder Autor an einem Werk. Und als wirrer Mensch fühlt man sich von Systematisierungen angezogen. Auf reichlich komische Art, und insofern haben meine Opus-Bezeichnungen natürlich auch einen starken Hau ins voll Lächerliche. Das finde ich lustig, die Art Ernsthaftigkeits-Lächerlichkeit. ‚Alle Ordnung ist wahnhaft‘: Das murmelt man dauernd. Und macht dabei Ordnung wie verrückt.“ Konsequent ist auch „Klage“ im Blocksatz gedruckt. Es ist ein Pop-Ereignis, in jeder Hinsicht.

Rainald Goetz: „Klage“, Suhrkamp, 428 Seiten, 22,80 Euro

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