Interview: Karl und Corona

In seinem sehr lesenswerten Buch berichtet der Historiker Steffen Patzold von Listen. Das klingt unscheinbar und vielleicht nur dann etwas aufregender, wenn man sich an Jorge Luis Borges’ „Die Ordnung der Dinge“ aus seinem Band „erinnert: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörende, i) die sich wie Tolle gebärden, j) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, k) und so weiter, l) die den Wasserkrug zerbrochen haben,  m) die von Weitem wie Fliegen aussehen.“ Die Art und Weise, wie Patzold aber die Listen Karls des Großen beobachtet, ist schlichtweg aufsehenerregend. Sie lässt zudem beunruhigende Schlüsse zu auf unsere Coronazeit – und den Umgang mit ihr.

Steffen Patzold, Ihr Buch trägt den schlichten Titel „Wie regierte Karl der Große“ – und es beansprucht für die Klärung dieser Frage knapp 80 Seiten zuzüglich eines Anhangs – so kommen wir zusammen mit zahlreichen Fragen, und bevor wir uns dem Untertitel widmen, der da lautet „Listen und Politik in der frühen Karolingerzeit“, zum Einstieg gefragt: Wer war dieser Karl der Große, welches Reich beherrschte er damals, wie müssen wir uns das Umfeld, in dem sich Ihre Fragestellung entfaltet, vorstellen? Karl der Große ist sicherlich einer der wenigen Könige des Mittelalters, die heute noch in einem allgemeinen Geschichtsbewusstsein bekannt sind. Armin Laschet zum Beispiel, das habe ich im September gelernt, fühlt sich auch auf Karl den Großen in seiner Familie zurück. Das heißt nicht unbedingt, dass man wissen muss, wo dieser Karl der Große und wann er regiert hat. Wenn man das zeitlich einordnen möchte, dann ist man in der Zeit um 800, etwas genauer zwischen 768 und 814. Dieses Reich, das Karl der Große jedenfalls am Ende seiner Regierungszeit beherrscht, ist ausgesprochen groß für die damalige Zeit. Es reicht von dem heutigen Nordspanien, der Gegend um Barcelona, bis an die Elbe. Es reicht von der Nordsee bis Rom. Karl der Große selber hat einen erklecklichen Anteil daran gehabt, dass das Reich diese Ausdehnung erlangte, weil er im Laufe seines Lebens eigentlich in einem fort Krieg geführt und auf diese Art und Weise große Teile hinzu erobert hat. Dazu gehören Norditalien und Sachsen, dazu gehört Bayern, das er nicht auf reinem militärischen Wege anschließt, sondern in einem politischen Schauprozess (mehr dazu hier) und auf diese Art und Weise entsteht ein Großreich im Frühmittelalter auf Augenhöhe mit dem Byzantinischen Reich, das im Osten weiter existiert und in der Tradition des Römischen Reiches steht.

Nun schaut Ihre Arbeit auf eine spezielle Kommunikationstechnik, nämlich auf die Form des Regierens vermittels von Listen, die im Auftrag Karls des Großen erstellt worden sind. Listen sind uns noch heute wohlbekannt, von der Einkaufsliste bis zur Bestsellerliste, die insbesondere bibliophil geneigte Menschen interessiert. Was listeten die Schriftstücke Karls des Großen auf? Wir haben ganz unterschiedlichen Listen, die eine Rolle gespielt haben. Es geht im hohen Maße um ökonomische Interessen. Wir haben immer wieder Anordnungen, die von Karl dem Großen, die vom Hof ausgehen an seine Amtsträger im Reich und sie dazu auffordern, Besitzstände und Einkünfte aufzuzeigen aus den Gütern, die dem König unmittelbar zustehen, den sogenannten Fiskalgütern, aber auch aus Gütern, die im Besitz der damals ausgesprochen reichen Kirchen waren. Das sind Listen, in denen beispielsweise ausgezeichnet wird, welche Ländereien zu diesen Gütern gehören, aber auch, wie diese Ländereien ausgestattet sind, also was dort im Einzelnen an Zubehör vorhanden ist, wie die Häuser aussehen, was es an Arbeitsgerät gibt, welches Vieh dort vorhanden ist. Das ist sehr kleinteilig und beeindruckend detailliert, was der König eigentlich alles wissen will, bis hin zur Zahl der unterschiedlichen Beile, die vorhanden sind, der Töpfe aus Eisen usw. Gerade solche ökonomischen Angaben spielen eine sehr große Rolle. Daneben gibt es z.B. auch ein sehr faszinierendes Verzeichnis, das Karl der Große in seinen letzten Regierungsjahren anfertigen lässt. Das ist ein Rotulus, also eine vertikale Pergamentrolle, die heute in Basel aufbewahrt wird – und dort sind Kirchen im Heiligen Land verzeichnet. Das ist insofern interessant, weil das Heilige Land gar nicht zum reich Karls des Großen gehörte. Trotzdem hat er dorthin einen Boten entsandt, der auflistet, welche Kirchen dort sind, wieviele Geistliche an den Kirchen leben und beten, wie diese Kirchen ausgestattet worden sind; zum Teil bis hin zur Größe der Dächer, zur Anzahl der Stufen und sofort.

Es gab Listen, die die einzelnen Güter eines Hofs aufgestellt haben. Es gab Listen, in denen jene vermerkt worden sind, die den Treueid auf Karl den Großen abgelegt haben. Die Zahl derjenigen, die diesen Eid zu schwören hatten, war groß. Die Bischöfe, Äbte, Grafen, Königsvasallen; deren nachgeordnete Amtsträger, die Vicedomini, die Archidiakone und die Kanoniker usw. – was insbesondere deshalb kurios ist, weil die Menschen im Mittelalter lediglich Vornamen hatten, weil sie zudem nicht amtlich registriert waren – zu welchem Zweck sind also diese Listen erstellt worden? Zunächst einmal ist der Treueid tatsächlich ein ganz wichtiges politisches Bindemittel, jedenfalls aus Sicht der Zeitgenossen. Das ist etwas, was man aus dem römischen Militär geerbt hatte. Karl der Große verpflichtet alle freien Einwohner seines Reiches, ab dem 12. Lebensjahr einen solchen Eid zu schwören und er will Listen mit allen, die geschworen haben. Man muss sich nun nicht vorstellen, dass er die vielen hunderttausenden von Namen kontrolliert. Das hätte auch gar keinen Sinn gehabt, weil dort ein Hugo nach dem anderen, ein Adalbert nach dem anderen steht und man das gar nicht einem einzelnen Individuum zuordnen kann. Ich meine, dass diese Listenführung die Funktion hat, vor Ort diesen Eid verbindlicher zu machen. Wenn man sich eine Gruppe von Menschen vorstellt, die gemeinsam schwört, bleibt das ein bisschen kollektiv und unverbindlich. Aber wenn ein Amtsträger des Königs dasteht und diese Namen auf Pergament niederschreibt, dann ist das ein Akt, der Verbindlichkeit herstellt und der noch einmal andeutet, dass diese Information auch direkt an den Herrscher gesandt werden kann. Das Aufschreiben selber schafft Verbindlichkeit.

Wenn wir uns kurz von den Listen selbst entfernen – Sie fragen auch nach der Verfasstheit der Regenten dieser Zeit. Dürfen wir heute die politische Ordnung der Karolingerzeit als ›Staat‹ begreifen? Aus welchem Ordo-Bewusstsein heraus regierte Karl der Große? Das ist eine riesengroße Frage, über die Historiker schon sehr lange nachdenken und sehr kontrovers diskutieren. Was man, glaube ich, deutlich und schnell sagen kann ist, dass die Vorstellungen, die sich Karl der Große und seine Ratgeber bei Hof gemacht haben über die Ordnung ihres großen politischen Gebildes, ganz sicher anders aussahen, als das, was wir heute politikwissenschaftlich als Staat bezeichnen würden. Es gibt keine Vorstellung von einem Gewaltmonopol, das der Staat habe. Es gibt keine Vorstellung davon, dass es ein bestimmtes Staatsgebiet und Staatsvolk geben müsse. Das ist eine Lehre, die erst um 1900 herum entstanden ist. Was ich versuche, in dem Buch zu zeigen und wovon ich auch fest überzeugt bin, ist, dass wir uns deswegen diese politische Ordnung der Zeit und die auch die Vorstellungen der Zeitgenossen nicht zu archaisch, dunkel und einfach vorstellen können und sollen. Sondern, das sind Menschen, die schon sehr differenziert darüber nachdenken, wie ein guter christlicher Ordo auf Erden durch den König, durch die anderen Großen des Reiches verwirklicht werden soll. Ob wir das dann einen Staat nennen wollen oder nicht, das ist nochmal eine andere Frage.

Nun interessierte sich die Sendung „Büchermarkt“ vor allem für schriftlich über uns kommende Zeugnisse, und aus diesen erfahren wir immer wieder, dass das Mittelalter vor allem oral geprägt war, man sprach miteinander, die Alphabetisierung war überschaubar, um es dezent zu formulieren. Wie sah das Kommunikationsgefüge damals aus, wie lange brauchten Nachrichten für welche Strecke? Das ist tatsächlich etwas, was man sich erst einmal klarmachen muss, dass dieses Riesenreich von Barcelona bis zur Elbe über kein einziges Telefon, keinen Telegraphen verfügt, dass Nachrichten nur langsam reisen können, auf dem Rücken von Pferden. So ein Pferd schafft, wenn man es nicht zu Tode reiten möchte, etwas 30 Kilometer am Tag. Wenn man mit wechselnden Pferden Nachrichten überbringt, dann kann man etwas schneller sein, auch auf Flüssen geht das zum Teil schneller. Aber richtig brennende Nachrichten – breaking news – schaffen es vielleicht einmal mit 50 bis 60 Kilometern pro Tag. Wenn man das ausrechnet, braucht eine Nachricht vom Papst in Rom nach Aachen schon mehrere Wochen. Selbst für kürzere Strecken, etwas aus Orléans nach Aachen – die Residenz der karolingischen Könige – braucht es mindestens eine Woche. Das macht politisches Handeln, das macht das Regieren sehr viel komplizierter, als wir uns das erst einmal vorstellen können.

Sie schreiben: „Um 800 war der Große Bruder technisch nicht in der Lage, Dich zu sehen. Aber sein Bote stand mit Feder und Pergament in Deinem Haus und zählte Speckseiten …“ Welchen Eindruck hat die Art der Listenerstellung auf die Untertanen gemacht? Ich glaube, dass das eine der Wirkungen ist, die man mit diesen Listen verbinden muss. Natürlich dienen sie dazu, jene Informationen zu erheben, die der Hof auch braucht, wenn der König, was er fast jedes Jahr tut, einen Kriegszug unternehmen möchte. Dann muss er wissen, wieviele Männer, wieviele Ochsenkarren er zu Verfügung hat. Er muss ökonomische Informationen bekommen. Dafür sind diese Listen wichtig. Gleichzeitig kann man sich fragen, warum nicht einfach nur Summen angefordert werden. Er hätte seine einzelnen Amtsträger beauftragen können: „Nennt mir, wieviele Pferde, wieviele Ochsen ich von dem Fiskalgut in Annappes bekommen kann!“ So funktionieren diese kleinteiligen Listen aber nicht. Da werden einzelne Speckseiten aufgezählt, die Würstchen, die vorhanden sind. Ich glaube, dass damit die Amtsträger gezwungen werden einen Fahrplan abzuarbeiten, wenn sie auf dem Gut stehen. Das führt dazu, dass die Kontrolle des Königs vor Ort spürbar wird. Es ist ein Unterschied, ob man eine allgemeine Angabe machen muss – „wir haben so und so viel Pferde“ – oder ob jemand vor Ort eine Liste durchgehen und aufschreiben muss, wieviele Eimer, Beile, Pferde, wieviele Würstchen vorhanden sind. So wird königliches Regieren unter komplizierten Kommunikationsbedingungen vor Ort spürbar.

Das Ende Ihres Buchs ist bemerkenswert, Herr Patzold, denn Sie extrapolieren den Überwachungsstaat Karls des Großen auf unsere technologische Gegenwart. Welche Warnung hinterlässt die Beobachtung dieser mittelalterlichen Regierungstechnik für den Historiker? Das ist etwas, worüber wir als Historiker immer nachdenken. Wir sind vorsichtig. Ich bin auch selber vorsichtig zu sagen, die Zeit Karls des Großen entspricht unserer – Gott bewahre. Aber wenn man von den Listen her auf diese Zeit schaut und auch von dem Anspruch her, den der Hof hat, eine christliche Gesellschaft zu generieren, dann sieht man Parallelen, die mir sehr interessant erscheinen. Um es ein bisschen zuzuspitzen: Es gibt in dieser karolingischen Welt die Vorstellung, dass der König die Aufgabe habe, die Christen, die ihm vom Gott anvertraut sind, zum Heil zu führen. Das ist ein wesentlicher Antrieb für königliches Handeln, gerade zur Zeit Karls des Großen. Dahinter steckt die Idee, dass der König jeden Einzelnen mithilfe seiner Amtsträger kontrollieren und dafür sorgen muss, dass er sich wie ein guter Christ benimmt. Das ist auch ein hochmoralisch aufgeladenes Unterfangen. Das hat die interessante Wirkung, dass man im Grunde genommen versuchen muss, lokale Solidarität aufzubrechen. Das heißt, die Nachbarn müssen gucken, was ihre Nachbarn jeweils tun, ob sie sich gut benehmen, ob sie das tun, was der König aus diesem christlichen Impetus heraus von ihnen verlangt. Das schafft eine merkwürdige Situation, in der der Einzelne verantwortlich ist für das Wohlergehen des Kollektivs. Nur wenn alle sich gut benehmen, nur wenn sich alle an die christlichen Gebote halten, wird Gott gnädig auf das Frankenreich und die Regierung Karls des Großen schauen. Das ist Denkfigur, die dahinter steht. – Das erinnert nun in ganz interessanter Art und Weise an Dinge, die ich noch nicht wissen konnte, als ich das Buch geschrieben habe, etwas an das, was wir gerade in der Corona-Pandemie beobachten; die Vorstellung, dass nun plötzlich private Feiern von den Nachbarn überwacht werden sollen aus der Idee heraus, dass dadurch ein Problem für die Gesellschaft insgesamt entstehen kann. Diese Phänomene erinnern mich in erschreckender Weise an das, was wir im Frühmittelalter gesehen haben. Erschreckend auch deshalb, weil dieses gesamte christliche Qualitätsmanagement, was unter Karl den Großen in Gang gesetzt und unter seinen Nachfolgern noch verbessert und zugespitzt wird, relativ bald in eine gewaltige politische Krise und in den Bürgerkrieg geführt haben.

Steffen Patzold: „Wie regierte Karl der Große?“, Greven Verlag, 128 Seiten, 10 Euro

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