Ficken mit Blick aus Meer

„Hier.“ Airen zeigt auf seinen Ellbogen. „Hier“. Er zeigt auf sein Kinn. „Und hier“, am Handgelenk. „Das sind die Narben, die zurückgeblieben sind vom Feiern.“ Hier hat es geblutet, dort war etwas gestaucht, dort etwas gebrochen, und hier tut es noch weh. Das Nachtleben kann gesundheitsschädlich sein – Airen ist der Beweis. Bis vor drei Monaten war der Mann, der eigentlich ganz anders heißt, eine Leuchtfigur der Berliner Technogemeinde, weil er in einem Blog akribisch seine Abstürze in den Hauptstadtclubs beschrieb.

Dann kam „Axolotl Roadkill“, das Debüt der inzwischen 18-jährigen Helene Hegemann. Die Feuilletons feierten es, manche hysterisch und einige auch noch, nach dem sich herausstellte, dass Hegemann an vielen Stellen aus Airens Blog abgeschrieben hatte. „Strobo“, versteckt beim kleinen Sukultur-Verlag, stand schlagartig im Rampenlicht. Airen, dessen Pseudonym, chinesisch geschrieben „jemanden lieben“ heisst, war plötzlich selbst ein heiß geliebter Star. – Der aber Angst haben musste, enttarnt zu werden. Airen ist scheu, das Interview mit ihm eine Ausnahme. Er möchte auf jeden Fall unerkannt bleiben. Wir treffen uns in den neuen Räumen des Blumenbar-Verlags, drei Stunden vor Beginn einer groß angekündigten Lesung um Berliner In-Club „WMF“. Airen selbst wird nicht auf der Bühne stehen. Das übernehmen für ihn Schauspieler Tom Schilling („Elementarteilchen“) und Blogger Deef Pirmasens, der den Plagiatsfall aufgedeckt hat. Bei Blumenbar ist gerade sein zweiter Roman erscheinen, in dem der Autor seinen alten und neuen Jüngern auf dem Titel verkündet: „I Am Airen Man“. Der Titel ist ein Zitat der Metallband „Black Sabbath“. Und als Airen- oder „Iron Man“ bedeutet Feiern: Exzess. Bedeutet Nacht: Entgrenzung. Bedeutet Sex: eine Gefahr, die man gern eingeht.

Das neue Buch beginnt, wo das vorhergegangene endet – in Mexiko. Airen hat dort im Auftrag einer Unternehmensberatung gearbeitet. Doch statt sich tiefer mit Marktchancen europäischer Firmen in Südamerika zu beschäftigen (Airen ist studierter Betriebswirtschaftler), nutzte er die Zeit in Mexico-City und Veracruz, um seinen sexuellen, stark betäubten Horizont zu erweitern: „Du bist definitiv schwul“, sagt Iris nur einen Tag später und schiebt mir ihren Schwanz noch ein Stück tiefer rein. Und das ist ein ziemlich großes Ding für eine Transe.“ Dazwischen gibt es: „Scheißen mit Blick aufs Meer. Ficken mit Blick aufs Meer. Kiffen mit Blick aufs Meer. Viel Meer gesehen, diese Woche.“ Dass er zwischendurch seine jetzige Frau kennengelernt hat (der gemeinsame Sohn ist acht Monate alt), dass er geschrieben hat, die ganze Zeit – das verrät der Roman nicht. Ebenso er lässt wenig vermuten, dass Airen nun treu ist, beinahe clean, im „Rehab“-Modus. Gestern: Party. Heute: Pampers. „I Am Airen Man“ ist ein unmittelbar erzähltes Glanzstück, herausgetrennt aus seinem Blog, schnell, aber gut lektoriert und dazu schön gebunden. „Hier“, zeigt Airen einem Kumpel, „siehst du die Fadenheftung? In der gleichen Farbe wie das Cover. Schon krass.“ Airen schenkt original mexikanischen Mezcal ein, den seine Schwiegermutter in einem großen Plastikkanister mitgebracht hat. Dazu gibt es Bier und Kräuterlikör. „Betrunken kann ich besser reden.“

Sehr vorsichtig gestikulierend, sitzt er da, im langärmeligen Shirt und Jeans, dazu freundliche Sneaker. Wären die Narben nicht, man könnte ihn für einen Studenten halten. Wir rauchen, trinken, reden, immer wieder kommen neue Leute, es wird sieben, halb acht, acht. Gäbe es seine Romane nicht, würde dieser junge Mann weiterhin Hartz-IV beziehen. Jetzt ist er aus der Nummer raus. Später werden über 400 Fans im WMF sitzen. Die Lesung beginnt. Der Saal ist dunkel und still. Die großen Boxen haben einen noch größeren Bass. Rainald Goetz steht vorn, notiert irgendwas. Deef Pirmasens sitzt hinterm Mikro. Auf der Leinwand blitzt es auf. „Das große Bumm Bumm“, um Goetz zu zitieren, beginnt mit dem düsteren Techno-Hit „Moob“ vom Berliner Star-DJ Kalkbrenner. Kalkbrenner hat sich im Kinofilm „Berlin Calling“ beinahe selbst gespielt, einen schizophrenen, zwischen Psychiatrie und Party wandelnden Elektromusiker. Er ist, kann man sagen, die musikalische Entsprechung zu Airen. Airen hat Kalkbrenner oft live gesehen, in seiner wilden Clubphase, während „Strobo“ entstand. Kennengelernt haben sie sich nie.

„Ich war immer nur Konsument, im Verborgenen“, sagt Airen. Auch im Berghain wird er bis heute nicht erkannt. Dabei hat er diesem Club, in dem es keine Spiegel, keine Handys und keine Tabus gibt, eine Art Denkmal gesetzt. Der Beat zieht an. Die Leinwand zeigt einen Kiffer, und Deef liest: „Ich habe mindestens zwei Kilo Gras geraucht, dutzende Bongs zerbrochen, unzählige Joints gebaut, stundenlang gekotzt, nächtelang geschwiegen“, den Anfang von „Strobo“. An der Bar bestellt Rainer Schmidt, neben Goetz und Airen der dritte Techno-Schriftsteller im Raum, einen Gin-Tonic. Schmidt, seit Kurzem „Rolling Stone“-Chefredakteur, kam mit seinem Loveparade-Roman „Liebestänze“zeitgleich zu „Strobo“ im Herbst 2009 heraus. Er wurde im Feuilleton ohne, in den Internetforen im Doppelpack mit Airen besprochen. Rainald Goetz lacht später viel und klopft dem schüchternen Airen auf die Schulter. Er spricht von Literatur, die er immer langweilig fand, wenn sie nicht die Wirklichkeit erzählte, „ist doch so“, und Airen, selbst der allergrößte Fan von „Rave“, versucht ihm schüchtern nickend zu erklären, dass er dazu also jetzt nun wirklich nichts antworten … aber Goetz winkt bereits ab, sagt, er wollte jetzt hier auch „nicht rumstressen“, und dann lacht er wieder. Es wirkt wie die reine Freude. Tatsächlich: Nach der großen Post-Popliteratur-Dürre gibt es endlich wieder einen jungen Autor in Deutschland, der ganz intuitiv versteht, worum es bei Literatur im Sinne von Goetz geht, im Sinne von Büchern wie „Irre“ oder „loslabern“.

Airen ist wahr, so wahr, dass höhere Töchter von ihm abschreiben und allein auf diese Weise der Wirklichkeit nahe kommen, während ihr eigenes Leben erstmal nur ein Dabeisein ist. „Notwendig ist das einfache Abschreiben der Welt.“ Das stammt von Goetz. „In Rave schafft er, dass du dich so fühlst, als wärst du im Club, während du eigentlich nur ein Buch liest“, schwärmt Airen. Exakt das ist ihm in „Strobo“ geglückt. Sein neuer Verlagskollege Alexander Schimmelbusch, heute ebenfalls zugegen, meint, „Strobo“ sei vermutlich der erste funktionierende Berlin-Absturz-Roman „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Zweimal in seiner wilden Phase hat Airen einen HIV-Test machen lassen. Beide Male hat bis zum Testergebnis zwei Wochen lang gezittert. „Ich stand am Strand in Mexiko, mit den Füßen im Wasser, die Vögel flogen vorbei, das war total schön, aber ich konnte es nicht genießen, weil ich dachte: Vielleicht bin ich tödlich erkrankt.“

Airen hatte Glück. Solche Ängste sind weit entfernt von den Feuilletondebatten der vergangenen Monate. Hier ging es nicht um Leben oder Tod, sondern um Verteidigungsstrategien, mal für die eine, mal für die andere Seite, um die Frage, was Intertextualität bedeutet, um den seitenlangen Quellenanhang, der nun in jeder Ausgabe von „Axolotl Roadkill“ steht. Durs Grünbein ironisierte die Debatte zuletzt, als er in der FAZ unter dem Titel „Plagiat“ über den Fall schrieb und erst einen Tag später zugab, dies sei ein von ihm leicht veränderter Text Gottfris Benns, der sich auf einen ganz anderen Plagiatsfall bezog. „Das Ganze sollte ein heilsamer Schwindel sein.“ Airens Schwindel muss dagegen erst noch geheilt werden. Er wird das selbst in die Hand nehmen: „Ich möchte mit meiner Familie nach Mexiko gehen und uns irgendwo in Chiapas am Strand ein ganz kleines Häuschen mieten, mit Kokospalmen, Hühnern und einem Ventilator“. Was er dort machen will? Seine Ruhe finden. Und Zeit, „um zu schreiben, Musik zu machen, um wieder anonym zu bloggen: von einer neuen Seite aus.“

Airen: I am Airen Man, Blumenbar, 176 Seiten, 17,90 Euro

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1 Kommentar

  1. […] „Axolotl Roadkill“. Die interessantesten Stellen hat sie eins zu eins aus „Strobo“ des Raveschriftstellers Airen kopiert. Als der Münchner Journalist Deef Pirmasens das Plagiat aufdeckte, waren die Lobeshymnen […]

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