Rezension: Zauberer des Nichts

Annika Scheffel wurde für ihren Debütroman abgefeiert (hier im Blog). Jetzt erzählt sie von einem märchenhaften Ort, der überflutet werden soll. Was geschieht, bevor alles verschwindet?

Annika Scheffel war gerade auf dem Drehbuchempfang neben der FDP-Parteizentrale in Berlin. Es ist Berlinale. 1LIVE-Kinomann Tom Westerholt twittert Tag und Nacht vom roten Teppich: Dass es Zander mit Rote Beete am Buffet abzugreifen gibt, dass Anna Maria Mühe und Hannah Herzsprung zusammen feiern gehen. James Franco wartet als Zauberer von Oz im Regent Hotel Berlin. Irgendwo dazwischen ist auch Annika Scheffel, die nicht nur sehr kluge Romane, sondern auch Drehbücher schreibt, ausserdem tanzt und choreographiert. In wenigen Tagen erscheint ihr zweiter Roman „Bis alles verschwindet“ bei Suhrkamp. Annika Scheffel: das Multitalent. Was macht man auf so einem Drehbuchempfang? Die Autorin lacht: „Rumstehen und viel zu früh Wein trinken.“ Sie befindet sich nahe der Friedrichstraße. Durchs Handymikrofon zischt Berliner Wind. „Wunder, Wunder, Wunder“, flüstert sie, weil drei eine gute Zahl ist, und in Märchen funktioniert das immer. – Der letzte Satz ist aus dem neuem Roman, und doch beschreibt er ganz gut, wie in Annika Scheffel das Magische in ihre Geschichten einbaut. Es ist unvermittelt da. „Dabei bin ich eigentlich kein Märchenfan“, sagt sie, und lacht.

Ihre Figuren müssen sich im Buch damit abfinden, dass ihr Leben radikal verändert wird. Sie leben in einem kleinen Dorf, unterhalb eines Sees. Über ihnen wacht ein goldenes Kreuz. Babys werden stets in der gleichen Traufe untergetaucht, auf diese Weise in die Gemeinschaft aufgenommen. Es gibt einen Bürgermeister, einen Postboten, ein Kindergärtnerin, den Bäcker. Doch eines Tages tauchen merkwürdige Gestalten auf. Sie vermessen das Land und das Leben dieser Leute. Sie malen bunte Striche auf ihre Häuser. Sie kommen von der „Poseidon Gesellschaft für Wasserkraft“, und teilen den Dorfbewohnern mit, dass sie wegziehen müssen, um einem Wasserkraftwerk Platz machen. Sie würden entschädigt, könnten an anderer Stelle ihre Heimat neu aufbauen. Die Bewohner sind entsetzt. Man hatte diese Katastrophe kommen sehen, aber es für absolut unmöglich gehalten: dass ihr Leben einfach so ausgelöscht werden kann.

51ZOVjehg6L._SY344_BO1,204,203,200_Jedenfalls wenn es um das Leben geht, das sie bisher kannten. Es bleiben lediglich ein paar Monate, um sich zu verabschieden. Kurz vor dem Ende ist eine Jahrhundertfeier geplant, was an das 40-jährige DDR-Jubiläum im Spätsommer 1989 erinnert. Kurz danach fiel die Berliner Mauer. Schaut man sich die Bilder vorbeifahrender NVA-Panzer an, die herausgeputzten Soldaten mit ihren geschulterten Gewehren, den heiligen Ernst im Gesicht des DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, ist man gerührt. „Wenn die nur wüssten“, denkt man. Die Menschen in Annika Scheffels Roman wissen es dagegen genau. Sie fühlen die Leere vor ihnen. „Jeder Tag bringt ein neues Verschwinden.“ Sie versuchen, das Verschwundene zu ersetzen. Sie erfinden einen blauen Fuchs, der angeblich durch die Wälder streift. Es beginnt eine Liebesgeschichte zwischen einem Poseidon-Beauftragten und einem Mädel aus dem Dorf. Reporter protokollieren das Elend der Bewohner. Ein steinerner Löwe erhebt sich vom Podest und streift nachts durch den Ort. „Meine Figuren verweigern die Realität“, sagt Annika Scheffel, „weil sie damit gegen eine Zukunft protestieren, die sie sich nicht selbst ausgesucht haben. Sie leben, wie so viele heute, unter einem Glücksdiktat, das sie aber nicht verwirklichen können.

„Bevor alles verschwindet“ erzählt mehr als ein Untergangsmärchen mit erfundenen Tieren. Der Roman ist ein Gleichnis auf uns, bedroht von Insolvenzen, Finanzmarktkrisen, Immobilienzusammenbrüchen, die ein Angstklima erschaffen. „Einerseits haben wir so viele Möglichkeiten wie nie zuvor“, sagt Annika Scheffel, „gleichzeitig wissen wir nicht, wie wir uns entscheiden sollen, weil jederzeit das Nichts droht.“ Diesem Druck sind die Bewohner des bald in den Fluten untergehenden Dorfes genauso ausgesetzt. Noch blühen die Blumen. Noch gibt es ein Dorfleben. Viellicht wird alles nicht so schlimm. Aber sicher kann keiner sein. „Jetzt treffe ich erstmal eine Freundin zum Kaffee“, sagt Annika Scheffel – und überquert die Friedrichstraße.

Annika Scheffel: „Bevor alles verschwindet“, Suhrkamp, 414 Seiten, 19,99 Euro

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