Rezension: Ode ans tote Tier

Uwe Timm ist einer der wichtigen deutschsprachigen Schriftsteller der vergangenen 50 Jahre, Sein Werk gehört zur engagierten Literatur, die noch lange unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges stand. Seine berufliche Laufbahn hat Timm begonnen als Kürschner. Über die Zeit mit den toten Tieren erzählt er nun in seinem Erinnerungsbuch „Alle meine Geister“.

Die Genieästhetik hat der Welt sehr folgenreich eingeredet, die Literatur komme als Vision und Naturgewalt über die Dichter.“ Dass die Schriftstellerei auch ein profaner Handwerksberuf sein kann, zeigen nicht nur Schreibstudiengänge, die im deutschsprachigen Raum von Biel bis Leipzig angeboten werden. Sehr persönlich resümiert nun auch der 1940 in Hamburg geborene Uwe Timm, wie seine Literatur aus dem Geist des Handwerks entstanden ist. „Alle meine Geister“ berichtet ausgehend von der Flucht ins bayrische Coburg während des Zweiten Weltkriegs über die Rückkehr ins zerstörte Hamburg, über Timms erste Berufsjahre und über jene Schwierigkeiten des zunächst erfolgreichen Vaters – einem Tierpräparator – der in den Trümmern der Stadt eine Pelznähmaschine findet, und im Keller kurzerhand eine Kürschnerei eröffnet.

„Das war der Gründungsmythos der Selbstständigkeit: Pelze Timm. Freier Herr auf freiem Land, wobei das Land nur gemietet war. Ein Auto wurde angeschafft, ein Chauffeur eingestellt, Kürschner und Näherinnen arbeiteten in Überstunden.“

Uwe Timm erzählt auf 288 Seiten die Geschichte eines privaten Wirtschaftswunders, ausschweifend, jede einzelne der damals auftretenden Personen umfangreich porträtierend – und er berichtet auch darüber, wie er selbst Mitte der 1950er Jahre in die Fußstapfen seines Vaters getreten ist. „Den Beruf des Kürschners hatte ich mir nicht ausgesucht, so wie auch der Vater ihn nicht für sich ausgesucht hatte. Sein Wunsch war wohl gewesen – er sprach nicht darüber –, Künstler zu werden.“

Das versteckte Kind

Diese Nähe von künstlerischer Ambition und handwerklichem Können belebt Uwe Timms Erinnerungsbuch, das gleichzeitig eine Poetik des Hamburger Schriftstellers ist. Das hier vorgestellte Vierteljahrhundert zeigt nicht nur, wie Timm die Handwerkskunst des Kürschners erlernte, sondern berichtet auch von den früh beschrittenen Parallel-Lesewegen. Daher der Titel „alle meine Geister“, der sowohl auf die vielen Weggefährten jener Jahre anspielt, auf die Kindheitsfreunde, Gesellen, Näherinnen und Meister, als auch auf die literarischen Begleiter: von den Märchen der Brüder Grimm über Ernest Hemingway, ausgeliehen im Amerikahaus, bis zu Fjodor Dostojewskis „Der Idiot“, der im heimischen Bücherschrank stand.

„Das Lesen von Der Idiot wurde und wird von der Erinnerung an zwei Kinder begleitet. Karlchen, ein Junge, der von seinen Eltern zwölf Jahre lang in einer Wohnung im vierten Stockwerk eines Mietshauses im Eppendorfer Weg versteckt worden war, ein Kind mit Downsyndrom, das herangewachsen war, leise auf Socken gehend, damit die darunter Wohnenden nicht hörten, dass über ihnen nicht zwei, sondern drei Menschen lebten. Haben sich die Eltern Schuhe mit kräftigen Absätzen angezogen, um ihren Tritt deutlicher werden zu lassen? Wussten einige der Mitbewohner von dem Versteckten und haben geschwiegen? Hätten sie geschwiegen, wäre es ein jüdisches Kind gewesen?“

Dem Toten neues Leben eingehaucht

So beginnen die ersten Spekulationen, quasi als Vorboten der späteren schriftstellerischen Tätigkeit. Uwe Timm schnappt schon in dieser Zeit zahlreiche Erzählungen auf, die er nun in plastische Schnurren verwandelt. – Dieses aneignende Verfahren ist typisch für die Literatur des mittlerweile 83-Jährigen. So berichtet die Legende „Der Mann auf dem Hochrad“ 1984 vom Großonkel, der Tierpräparator mit ebenfalls künstlerischem Anspruch war. Nachgesagt wird, dass er dem Toten neues Leben einhauchen konnte, so realistisch waren seine Präparate. Im Laufe des Erinnerungsbuchs „Alle meine Geister“ wird deutlich, dass Uwe Timm auf ähnliche Weise Tier und Kunst, also Natur und Kultur, miteinander verbindet: eine Rückverwandlung des Tiers sozusagen, ein pragmatischer Animismus.

„Ich war nie mit der Tötung der Tiere oder mit dem Abziehen ihrer Felle in Berührung gekommen. Das Gewerk der Zurichtung habe ich nur einmal anlässlich eines Besuchs in einer Gerberei gesehen. Die räumliche Form des Lebens war in eine Fläche verwandelt worden, die nur noch von fern an das Tier erinnerte.“

Unendlich viel Mühe

Die Schlachter und Gerber mussten am Rande der mittelalterlichen Dörfer und Städte leben, „zu nahe waren sie mit ihrer Tätigkeit dem Tod und dem Gestank.“ Die Kürschner hingegen lebten inmitten der anderen und schufen die schönen Mützen, Stolen und Pelzmäntel, die noch in der Nachkriegszeit ein Zeichen des Wohlstands waren. Dieses Verhältnis von Material und künstlerischer Anverwandlung ist bei Timm ein poetisches Prinzip – eines von zahlreichen. An anderer Stelle zitiert er den schottischen Essayisten und Historiker Thomas Carlyle, der bereit im 19. Jahrhundert erkannt hatte, dass die Fähigkeit, sich unendlich viel Mühe zu geben, bestimmend fürs Genie sei.

„Tatsächlich ist genau das die Voraussetzung für jede gelungene, perfekte handwerkliche, wissenschaftliche und künstlerische Arbeit“, schreibt Uwe Timm und bekennt sich zu einem hanseatischen Durchhaltevermögen, ohne das kein Pelzmantel geschneidert, kein Roman geschrieben würde. Viele der hier erzählten Geschichten kennt man in strafferer Form aus Büchern wie „Am Beispiel meines Bruders“. Bereits dort berichtete Timm vom Fund der ersten Pelznähmaschine, vom gefallenen größeren Bruder, dem Lieblingskind des Vaters, der 1958 – hoffnungslos überschuldet – an einem Herzinfarkt stirbt.

Summa des Werks

Die neuerliche, üppig verlängerte, überaus realistische Darstellung dieser geisterhaften Erinnerungen erinnert noch einmal an die vielen, seit den 1970er Jahren entstanden Texte Uwe Timms. Es ist ein Buch für Kenner des Werks, einladend, erneut Romane wie „Rot“ oder „Kopfjäger“ in die Hand zu nehmen, wo gescheiterte Alt-Achtundsechziger ebenso wie Yuppie-Headhunter in Literatur verwandelt werden – mit einem nie veränderten Anspruch:

„Die gesellschaftlichen Probleme sollen so anschaulich und unterhaltsam dargestellt werden, daß auch jene sie wiedererkennen können, über deren Köpfe bisher meist hinweggeschrieben wurde.“ Dieser Satz stand eröffnend in den Büchern der AutorenEdition, wo 1974 Uwe Timms erster Roman „Heißer Sommer“ erschien. Dass sich diese Anschaulichkeit nicht nur entlang der Lektüren Hemingways und Dostojewskis herausgebildet hat, sondern auch an den Zweckplatten, Nähmaschinen und Schreibtischen der Kürschnerei entstanden ist, das zeigt „Alle meine Geister“ und ist damit Zeugnis eines Werks, das seit jeher Inspiration und Handwerk auf norddeutsch unaufgeregte Weise miteinander verbindet. So kann dieses Buch als „Summa“ des Timm’schen Werks gelesen werden – und zugleich als möglicher Anfang einer gewiss weiter zu verfolgenden Autobiographie.

Uwe Timm: „Alle meine Geister“, KiWi, Köln, 288 Seiten, 25 Euro

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