“Die verlorene Ehre der Katharina Blum”

Ausgerechnet Heinrich Bölls „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ hat Helmut Aiwanger, Bruder des stellvertretenden bayrischen Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger empfohlen – ausgehängt im Schaufenster seines Waffengeschäfts. Doch wovon erzählt Bölls Erzählung aus dem Jahr 1974, die weiterhin in verschiedenen Zusammenhängen zitiert wird?

Als „verkorkst“ wird das Leben der 27-jährigen Hauswirtschafterin Katharina Blum bezeichnet. Der Vater stirbt, als sie sechs ist, an einer Lungenverletzung, die er im Krieg erlitten hatte. Früh muss sie der Mutter helfen, eine glückliche Kindheit hat Katharina Blum offensichtlich nicht erlebt. Ihr Bruder sitzt im Gefängnis. Eine Ehe mit einem oft zudringlichen Arbeiter wird nach kurzer Zeit geschieden. Nachbarn behaupten, Katharina Blum habe danach ebenso regelmäßigen wie wechselnden Herrenbesuch empfangen. Sie besitzt trotz ihrer spärlichen Einkünfte eine Eigentumswohnung und fährt einen privaten PKW, zudem gibt es teuren Schmuck, über dessen Herkunft die junge Frau schweigt. Dann lernt sie während einer privaten Karnevalsfeierlichkeit den zwielichtigen Ludwig Götten kennen, und nimmt ihn mit nach Hause.

„Vier Tage später (…) klingelt sie an der Wohnungstür des Kriminaloberkommissars Walter Moeding, der eben dabei ist, sich aus dienstlichen, nicht privaten Gründen als Scheich zu verkleiden, und gibt dem erschrockenen Moeding zu Protokoll, sie habe mittags gegen 12.15 in ihrer Wohnung den Journalisten Werner Tötges erschossen, er möge veranlassen, daß ihre Wohnungstür aufgebrochen und er dort ‚abgeholt’ werde; sie selbst habe sich zwischen 12.15 und 19.00 Uhr in der Stadt umhergetrieben, um Reue zu finden, habe aber keine Reue gefunden (…) “

Das angebliche Räuber Liebchen

„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ fragt, wie diese zunächst als bieder charakterisierte Frau zur Mörderin geworden ist, Untertitel: „Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann.“ Die Karnevalsbekanntschaft Ludwig Götten war ein Verbrecher, möglicherweise sogar ein Mörder. Deshalb wird die junge Frau vor den Augen der Öffentlichkeit zur angeblichen Komplizin. Ein immer nur ZEITUNG genanntes Boulevardblatt bezeichnet sie als „Räuber Liebchen“. Binnen weniger Tage wird aufgrund der Zeitungsberichterstattung nicht nur ihr Ruf, sondern auch der ihres Umfeldes diskreditiert, bis Katharina Blum aus einer ohnmächtigen Wut den dafür verantwortlichen Journalisten Werner Tötges erschießt.

„Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich.“

Diese Zeilen sind der Erzählung vorangestellt. Wer zurückdenke, schreibt Böll zehn Jahre später, der würde gewiss erinnern, wie einst „eine ZEITUNG Verleumdungen und Verdächtigungen ausstreute, dieselbe ZEITUNG, die dutzendweise Menschen als Mörder bezeichnete, denen noch kein Mord nachgewiesen worden war.“

Die machen das Mädchen fertig

„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ dokumentiert die öffentliche Zerstörung einer vollkommen unbescholtenen Person. Die erschienenen Artikel, angeblichen Vernehmungsprotokolle und Recherchen geben Einblicke in äußerst verwerfliche Praktiken der Boulevardpresse. „Es wird nie mehr so sein, nie mehr. Sie machen das Mädchen fertig. Wenn nicht die Polizei, dann die ZEITUNG, und wenn die ZEITUNG die Lust an ihr verliert, dann machens die Leute.“

Schon beginnen die Unterschiede zur sogenannten „Flugblatt“-Affäre um Helmut und Hubert Aiwanger, von denen zumindest einer eben nicht unschuldig ist. Das inkriminierte, den Holocaust grotesk instrumentalisierende, zum Anlass geschmackloser Witze nehmende Flugblatt existiert nachweislich. Auch hat nicht eine Zeitung grob verzerrend berichtet, die gesamte Medienlandschaft reportiert umfassend seit dem 25. August, seit die Süddeutsche Zeitung die Causa öffentlich gemacht hat.

Zudringlich- und Zärtlichkeiten

Dennoch gibt es den rätselhaft raunenden Zettel im Schaufenster des Waffengeschäftes Helmut Aiwangers, der „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ als Lektüre empfiehlt. Der Schaufensteraushang fokussiert die Tötung des Boulevardjournalisten, dabei ist der Roman aus einem anderen, eher auf der Metaebene verhandelten Grund aktuell. Nach ihrer ersten polizeilichen Aussage kontrolliert Katharina Blum „mit erstaunlicher Pedanterie jede einzelne Formulierung“.

„Zudringlichkeiten waren erst als Zärtlichkeiten ins Protokoll eingegangen (…) wogegen sich Katharina Blum empörte und energisch wehrte. Es kam zu regelrechten Definitionskontroversen zwischen ihr und den Staatsanwälten (…) weil Katharina behauptete, Zärtlichkeit sei eben eine beiderseitige und Zudringlichkeit eine einseitige Handlung, und um letztere habe es sich immer gehandelt.“

Tatsächlich ist „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ eine Erzählung, die über Sprache selbst nachdenkt; wie schnell Wörter sinnentstellend ausgetauscht, verdreht, mal aus Versehen, dann wieder boshaft missinterpretiert, in den falschen Zusammenhang gestellt werden. Es kommen Versprecher, Verhörer, Weglassungen und Ausschmückungen vor, sodass dieses Buch mehr ist als eine Auseinandersetzung mit den boulevardjournalistischen Volten der damaligen BILD-Zeitung.

Was der Autor sagen will

In den vergangenen zwei Wochen wurde sehr viel Textarbeit geleistet, das Aiwanger-Flugblatt mit hermeneutischer Akribie analysiert, jede Aussage der bayrischen Brüder seziert und gewichtet, als gelte immer noch die alte Deutschunterrichtsfrage: „Was will uns der Autor damit sagen?“ Bölls Erzählung bleibt vor diesem Hintergrund eine notwendige Einübung in Textproduktion und –verständnis.

Um sich in der Aiwanger-Affäre als Opfer darzustellen, dessen Ehre durch eine Medienhetze Schaden nimmt, taugt „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ hingegen nicht. Der Schaufensteraushang im Waffengeschäft des Bruders schließt mit dem süffisanten Hinweis: „Keine Sorge, nur Heinrich Bölls Prosa endet dramatisch.“ Seit gestern ist bekannt, in welcher Weise dieser Satz gültig ist: Hubert Aiwanger bleibt – zumindest bis zur nächsten Landtagswahl am 8. Oktober dieses Jahres – stellvertretender bayrischer Ministerpräsident.

Heinrich Böll: “Die verlorene Ehre der Katharina Blum”, dtv, München, 160 Seiten, 10 Euro

Empfohlene Artikel