Rezension: „Mendel Rosenbusch“

Im Bundestag wurde am 27. Januar 2020 am Ende der Gedenkveranstaltung zur Befreiung von Auschwitz das Schlaflied „Wiegala“ vorgetragen, das die Jüdin Ilse Weber (gebürtig Herlinger) geschrieben hat. Berühmtheit erlangte die 1944 ermordete Schriftstellerin mit ihren Gedichten aus dem KZ Theresienstadt. Doch schon zuvor war die Schriftstellerin erfolgreich unter ihrem Mädchennamen Ilse Herlinger. 1929 erschien der kleine Band „Mendel Rosenbusch – Geschichten für jüdische Kinder“, der neu aufgelegt wurde vom Berliner Gans-Verlag.

Seinen gesamten Besitz hat der brave Rabbiner Mendel Rosenbusch an die Armen verschenkt und sein Leben der Gutherzigkeit verschrieben. Der scheinbar uralte Mann wohnt in einem kleinen Häuschen hinter der Synagoge, wo er jeden Sabbath Kinder empfängt, um mit ihnen zu plaudern. Es ist das bescheidene Leben eines Menschen, der jedoch eine herausgehobene Gabe besitzt. Mendel Rosenbusch kann sich unsichtbar machen.

„Das war eine wunderbare Eigenschaft, die Gott ihm zum Lohne für seine Gutherzigkeit verliehen hatte. (…) Als er nun selbst arm geworden war, erschien ihm eines Nachts der Engel Rafael und legte ihm eine seltsame alte Münze auf die Bettdecke. ‚Wenn Du diese Münze zu dir steckst, Mendel’, so hatte die Erscheinung gesprochen, ‚dann wird deine Gestalt unsichtbar werden, und solange wird die Münze ihre Zauberwirkung behalten, solange dein Geheimnis nicht von Menschen erraten worden ist.’“

Der gerade erschienene Band mit „Geschichten für jüdische Kinder“ berichtet in zehn kurzen, in sich abgeschlossenen Erzählungen, welche Wunder Mendel Rosenbusch Dank seiner Unsichtbarkeit bewirkt. In eine Familie, der es nicht gelingt, anständiges Sabbatbrot zu backen, schmuggelt er besseres, nicht benötigtes Brot eines anderen Haushalts. Er sorgt mit unsichtbarer Hand, dass die Armut abnimmt, der Geiz zurückgedrängt, dass die allgemeine Verzweiflung weniger wird in seiner Nachbarschaft. Mendel Rosenbusch ist also kein gewöhnlicher, er ist ein Wunderrabbi und damit steht das Buch der 1930 im tschiechischen Wittkowitz geborenen Ilse Herlinger in größeren Traditionszusammenhängen. Ulrich Leinz, Gründer des Berliner Gans-Verlags sagt:

„Wenn man die Geschichten liest, die sie da geschrieben hat, denkt man, das ist so ein kleines Schtetl irgendwie, ländlich, ein bisschen provinziell, aber das Gegenteil war das eigentlich. Wittkowitz, da wurde Stahl gekocht, da wurde Eisen gekocht, da lagen überall Kokshaufen herum, für die große Eisenproduktion. Es stank und es war dreckig und da gab’s wahrscheinlich kaum Natur. Im Buch ist auch ein Bild von einer Postkarte aus der Zeit abgedruckt, da sieht man die Hochöfen und die Schlote und kann erkennen, wie der Himmel hell erleuchtet ist über der Stadt.“

Zum ersten Mal sind die Geschichten um Mendel Rosenbusch ins Hebräische übersetzt worden, was höchst kurios aussieht mit dem deutschen Text auf der je linken und den hebräischen, fremdschön anzusehenden Zeichen auf der je rechten Seite. Und damit ist dieses Buch direkt an jenen jüdischen Kulturkreis* angebunden, auf den die Geschichten dieses Buchs permanent verweisen. Ulrich Leinz:

„Ich denke, das hat durchaus einen Zusammenhang mit dem Chassidismus und auch mit den Chassidischen Geschichten, die Martin Buber herausgegeben hat. Es gibt da eine Geschichte, in der eine ganz ähnliche Figur wie der Mendel Rosenbusch zu den Menschen kommt und Gutes tut. In den Chassidischen Geschichten bringt ein Rabbiner Holz zu einer armen Frau, die dann sagt: ‚Aber ich habe doch gar kein Geld, ich kann’s nicht bezahlen.’ Aber das macht ihm gar nichts, darum geht’s ja nicht.“

Bei Ilse Herlinger wird diese Erzählung variiert. Auch hier gibt es eine alte Frau, sie heißt Rebekka, die üblicherweise ihr Essen in den verschiedenen jüdischen Häusern der Stadt abholt. Als sie einmal aufgrund einer Krankheit daheimbleiben muss und zu hungern droht, hilft der unsichtbare Rabbi. Mendel Rosenbusch macht Feuer, kocht Kaffee, deckt den Tisch. Anfänglich beobachtet Rebekka mit Ehrfurcht, welche Wunder sich vor ihren Augen vollziehen.

Diese Ehrfurcht verliert sie sehr schnell und sagt dann auch: ‚Da in der Ecke, da ist es auch noch ein bisschen dreckig.’ Wenn man bedenkt, dass ungefähr zur gleichen Zeit, ein paar Jahre vorher von Rudolf Otto das Buch „Das Heilige“ erschienen ist und da erzählt Rudolf Otto vom Religiösen und dem Tremendum der Ehrfurcht vor diesem Nicht-Erkennbaren. Das erzählt hier einen ganz anderen Zugang zur Religiosität, nämlich einen sehr, sehr partnerschaftlichen fast. Da hat die alte Frau also kaum Sorge und hat keine Angst vor dem Unerkennbaren, vor diesem engelsgleichen unsichtbaren Wesen

Für die vorlesenden Erwachsenen sind derlei Hintergrundinformationen gewiss interessant – für das Verständnis der zuhörenden oder selbst lesenden Fünf- bis Neunjährigen braucht es selbstverständliche keine näheren Erläuterungen. Das vorzügliche Nachwort von Annegret Völpel bietet einen biographischen Abriss der Lebensgeschichte Ilse Herlingers, ordnet die Erzählungen um Mendel Rosenbusch in die Kinderliteratur des frühen 20. Jahrhunderts ein, insbesondere in jene jüdische Tradition, die sich aus dem Geist der Reformpädagogik entwickelte.

Zusammen mit den düsteren Zeichnungen von Özgür Erkök Moroder ist „Mendel Rosenbusch – Geschichten für jüdische Kinder“ ein empfehlenswerter, leicht verständlicher Einstieg in eine Welt von Armut, Einsamkeit und Wohnungsnot, die uns sogar 90 Jahre später erschreckend nahe ist.

Ilse Herlinger: „Mendel Rosenbusch“, aus dem Hebräischen von David Abramov, Zeichnungen von Özgür Erkök Moroder, Nachwort von Annegret Völpel, Gans-Verlag, Berlin, 194 Seiten, 18,90 Euro

* Es gab einen Hinweis darauf, dass der Begriff „Kulturkreis“ missverstanden werden kann. Dabei wurde Bezug genommen auf diesen Text von Eric Anton Heuser, der die ursprüngliche Verwendung des Begriffs auf die heutige Zeit überträgt. Gemeint sind in meinem Text jedoch jene Repräsentanten des jüdischen Kulturkreises, die nicht an den Staat Israel gebunden sind.

 

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