Rezension: Geld statt Hirn

Die Frau ist aus dem Haus. Die Party beginnt. Christoph Höhtker erzählt in seinem edelstahlgebürsteten Debüt von einem Vollidioten im wunderschönen Genf.

„Ich erwache, weil jemand meinen Penis im Mund hat.“ Auch so kann ein Kapitel beginnen, warum nicht? Aber zunächst: Was macht man als mäßig begabter, des Deutschen mächtiger Schreiber mit einem Intelligenzquotienten von 98, wenn man dennoch sehr viel Geld verdienen will? Man zieht nach Genf, heuert als PR-Mann im Finanzsektor an und kassiert ein Monatsgehalt, das für Abendessen in teuren Cocktailbars, für Sapporo-Bier zu zehn Franken und eine ehemals wunderschöne, nun leider gealterten Superschönheit mit blonden Haaren reicht. So ähnlich hat es sich Frank Stremmer, grenzdebiler, großmäuliger und promiskuitiver Held von Christoph Höhtkers Debütroman „Die schreckliche Wirklichkeit des Lebens an meiner Seite“ gedacht.

Man muss nur zwei erste Sätze vergleichen, um direkt auf der richtigen Fährte zu sein. „Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke. Fisch-Gosch, das ist eine Fischbude, die deswegen so berühmt ist, weil sie die nördlichste Fischbude Deutschlands ist. Am oberen Zipfel von Sylt steht sie, direkt am Meer, und man denkt, da käme jetzt eine Grenze, aber in Wirklichkeit ist da bloß eine Fischbude.“ So begann 1996 die deutsche Popliteratur mit Christian Krachts Debüt „Faserland“. Bei Christoph Höhtker klingt es ganz ähnlich: „Zum Beispiel: Ich sitze auf diesem gigantischen Sofa und trinke Wodka-Orangensaft, und allmählich, ganz allmählich, beginne ich, mich von der Parkplatzsuche zu erholen, die uns vorhin durch halb Petit-Saconnex und bis an den Rand des Wahnsinns geführt hat.“

Während bei Christian Kracht ein Barbourjacken tragender Jüngling von Sylt nach Zürich reist, bleibt Frank Stremmer einfach daheim – er ist schließlich längst in der Schweiz, dem Gegenort zum „Kartoffelland“, wo eben keine „superscharfe Verkäuferinnenmodels und superscharfe, kryptohomosexuelle Überzeugungsdienstleister“ abhängen, sondern lediglich: deutsche Frauen. Genf ist dagegen: das totale Paradies.

Was gibt es für einen Adam besseres, als ohne seine Eva im Paradies zu sein? „Wo, so rätsele ich jedes Mal aufs Neue, werden in dieser Stadt die Missratenen, die von der Vorsehung in Fettklumpen, schielende Fleischquader oder haarige Eichenfässer verwandelten Normalsterblichen gehalten?“ Frank Stremmers Lebenspartnerin ist für eine Woche verreist. Sturmfreie Bude. Die nutzt der dämliche Typ, um fremdzugehen, mit einer japanischen Kellnerin, die in etwa so heisst wie Freundin Marion – nämlich „Mari“, ohne „on“ also. (Sie wird nicht der einzige Fehltritt dieser Woche bleiben.)

Ebenso wie in „Faserland“ rastet ein Held also aus, und ebenso wie in „Faserland“ erkennt er mit der Zeit die Melancholie seiner geballten Lebenslügen. Im Bett scheint Frank ein echter Versager zu sein, glaubt man den Klagen aus Marions Tagebuch, das er heimlich liest (wer lauscht an der Wand, der hört die eigene Schand‘.) Sie schreibt: „Jetzt ist es drei Uhr nachts, ich kann nicht schlafen, ich muss das hier einfach noch aufschreiben: WARUM TRENNE ICH MICH NICHT VON IHM??? Das sollte doch wohl die Frage sein.“

Bei Christian Kracht sinniert der Held über das Wort „Neckauerauen“ und wie schön Deutschland sein könnte, wenn es den Zweiten Weltkrieg, Hitler, den Holocaust nicht gegeben hätte. Frank Stremmer dagegen denkt: „ich hoffe inständig, dass geschichtliche Themen vermieden werden. Irgendwann muss einfach auch mal Schluss sein, irgendwann muss man auch mal nach vorn schauen dürfen.“ Irgendwann fällt sogar der Begriff „Nazi-Auen“.

Allerdings gibt es diese titelgebende „schreckliche Wirklichkeit des Lebens an seiner Seite“. Frank Stremmers Abscheu gegen schwächere Menschen mag an den mordenden Karrieristen aus Bret Easton Ellis „American Psycho“ erinnern, sein Wertesystem ist verrutscht wie das Werberpersonal von Frédéric Beigbeders „39,90“. Er steht allerdings noch wackeliger am Abgrund. Die Kommunikationsabteilung wird vom CEO angezählt. „They want us to go upstairs at 2:30. This cunt Hofstadt was here. Apparently senior management is … not too happy with the overall achievement of the communications department.“ (viele Romandialoge aus der Weltstadt Genf sind auf Englisch wiedergegeben, darin den Texten Thomas Meinekes nicht unähnlich.)

„Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki hat sich einmal im „Literarischen Quartett“ beschwert, dass die Hauptfiguren etlicher deutscher Romane entweder Kinder oder Dummköpfe seien, dass er es leid sei, minderbemittelte Sichten auf die Welt kennenzulernen. Das war freilich bevor Daniel Kehlmann die Genies Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß in „Die Vermessung der Welt“ portraitierte und in Folge des Mega-Bestsellers deutsche Romane erschienen über die Physiker Paul Dirac (Dietmar Dath) und Michael Faraday (Ralf Bönt), über Philosoph Hans Blumenberg (Sibylle Lewitscharoff, gerade mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet), den Polarforscher Alfred Wegener (Jo Lendle), über Mozart (Alissa Walser) und Goethe (Martin Walser).

Mit „Die schreckliche Wirklichkeit des Lebens an meiner Seite“ betritt dagegen ein durch und durch tumber Mensch das literarische Feld, ein Geld und auch alle anderen Werte vernichtender Schelm im Maßanzug. Zum Glück sind wir nicht so, wollen wir nicht so werden: wie der. Helden, die so viel Ablehnung ernten, können nur von wirklich guten Autoren erdacht werden. Dieses Debüt ist nicht nur wegen seiner Verortung in den „Park de la Nymphe“, in Grillrestaurants mit Namen „Les Paquis“ und der „überraschend ruhigen Rue du Rhône“ im besten Sinne: wertvoll.

Christoph Höhtker: „Die schreckliche Wirklichkeit des Lebens an meiner Seite“, Berlin Verlag, 248 Seiten, 17,99 Euro

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