Loreley: Über „Godwi“ und „Der Felsen“

Alles kann in irgendeiner Form allem anderen ähnlich sehen, so wie den Leuten auf der Straße das Baby im Kinderwagen immer der Mutter aus dem Gesicht geschnitten erscheint, selbst wenn es von einem Kindermädchen begleitet wird. Spoiler! (Beitragsbild: Filmstill aus „Der Felsen“)

Diese Worte schreibt der Romanist Gèrard Genette lakonisch in seiner 1982 bei Éditions de Seuil erschienenen Untersuchung „Palimpsestes. La littérature au second degré“. Ich möchte, stets mit Augenmerk auf Genette, nach der schlüssigen Verbindung zwischen Texten fragen. Ein Beispiel für diese schlüssige Verbindung sind Dominik Grafs Kinofilm „Der Felsen“, der ein Hypertext ist zu Clemens Brentanos verwildertem Roman „Godwi“, insbesondere des dort erstmalig auftauchenden Lorley-Motivs. Der Text ist 2007 im Studium entstanden, doch weil er sich auch beschäftigt mit Ovids Mythos vom Narziss, also eine Brücke schlägt zu „Sandbergs Liebe“, veröffentliche ich ihn erstmalig (und behutsam bearbeitet) im „Lesen mit Links“-Blog.

Clemens Brentanos Roman „Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter“ erschien 1801 und 1802 in zwei Teilen bei Friedrich Wilmans in Bremen. Dieser Text beinhaltet, nach heutigem Forschungsstand, die erste Fassung des Loreley-Stoffs. Eine der weiblichen Hauptfiguren, ihr Name ist Violette, singt im eingebetteten Lied „Zu Bacharach am Rheine“ von der verführerischen Zauberin „Lore Lay“, die „viel Herzen“ hinriss, und die „Männer rings umher“ stets ins Verderben lockte.

Lore Lay, die für ihre Verführungen büßen will, wird vom Bischoff wegen ihrer Schönheit vor der Inquisition geschont. Lore Lay hat einen Wunsch: Man möge sie töten, weil sie von ihrem „Schatz“, dem Einzigen, den sie jemals liebte, betrogen wurde. Dieser Wunsch wird ausgeschlagen. Stattdessen lässt der Bischoff drei Ritter holen, die Lore Lay ins Kloster bringen sollen. „Du sollst ein Nönnchen werden“, befiehlt er. Die drei Ritter reiten auftragsgemäß los: „Und traurig in der Mitten / Die schöne Lore Lay.“

Auf ihrem Weg bittet Lore Lay ihre Begleiter, einen Rheinfelsen zu besteigen, denn sie wolle noch einmal sehen, „Nach meines Lieben Schloß“. Sie gelangt, was der Text nicht näher erläutert, scheinbar mühelos aufs Plateau, während ihr die Ritter kraxelnd folgen.  Dort angekommen erkennt Lore Lay ihren Liebsten, der „in einem Schifflein“ auf dem Rhein fährt. Sie lehnt sich hinab und stürzt ins Wasser. Die Ritter aber verharren am Felsen, „sie konnten nicht hinab.“

Dieses bekannte Lied schließt mit dem Hinweis, es sei von einem „Schiffer auf dem Rhein“ gesungen worden. Außerdem wird erwähnt, dass seit Lore Lays Sturz der Felsen jedem, der ihn anruft als Echo das dreimal hintereinander gesetzte, erinnerungsstiftende Lore Lay, Lore Lay, Lore Lay wiedergibt. Das ist ein interessanter, für das klassische Echo unmöglicher Fall, da dieses nicht den immergleichen Ruf wiedergeben kann.

Beobachtungen zum Roman

„Godwi“ ist in mehrfacher Hinsicht spiegelbildlich konzipiert. Formal zunächst in den zwei Teilen des Werks begründet. Der erste bildet Briefwechsel zwischen verschiedenen Figuren ab. Eine dieser Figuren ist der titelbezeichnende Godwi senior. Der zweite Teil schließt an die Editionsgeschichte des ersten Teils an und führt selbige fort. In diesem Teil ist auch Zu Bacharach am Rheine eingebettet. Inhaltlich werden die Spiegelungen fortgeschrieben. Ein Beispiel soll dies illustrieren: Godwi junior, der Sohn von Godwi senior, büßt im zweiten Teil für die Vergehen seines Vaters, der einst aus Liebesgründen ein Mädchen in den Tod trieb. Godwi junior kann, angelehnt an die mittelalterlich-hermeneutische Figuraldeutung, als Antityp seines Vaters interpretiert werden. Ähnliche Beziehungsmuster sind bei anderen Figurenkonstellationen des „Godwi“ belegt.

Hinzu ist die Erzählsituation, in der „Zu Bacharach am Rheine“ vorgetragen wird, von Bedeutung, da die drei wichtigsten, weiblichen Figuren des Godwi – Violette, Flametta und die Gräfin – geradezu lebensmüde (wie Lore Lay) in einem morschen Kahn fahren, während das Lied angestimmt wird. Der todesnahe Moment, in dem Lore Lay ihren Liebsten erkennt, scheint hier nachgezeichnet. Das Spiegelmotiv kann als visuelle Entsprechung des akustischen Echos angesehen werden. Hier wie dort werden Wellen reflektiert.

Beobachtungen zum Lied

Beim Lied fällt auf, dass es einige Punkte des später kolportierten Loreley-Klischees nicht nennt. Die Lore Lay im „Godwi“ ist nicht blond, was auch verwundern würde, weil begehrenswerte Frauen in der Literatur (siehe „Schneewittchen“) einst schwarzhaarig waren. Es war der Jude Heinrich Heine, der mit seiner ironisch gebrochenen Jungfrau Lore-Ley 1882 den deutsch-arischen Mustertypus des blonden Mädchens entworfen hat.  Die Lore Lay Brentanons kämmt sich nicht, während sie auf dem Felsen sitzt. Sie sing kein Lied, es gibt keine „Gewaltige Melodei“.  Es wird nicht erwähnt, dass Lore Lay auf dem Felsen wohnt; er wird als Aussichtsplattform erwähnt, es gehört zur Entwicklungsgeschichte dieses Mythos, dass der Loreley-Felsen in St. Goarshausen zu eben jener Aussichtsplattform wurde, der er zunächst nur fiktiv gewesen ist.

Der Sprung ins Wasser wird oft als Selbstmord Lore Lays erkannt, weil sich die Geliebte von Godwi senior ebenfalls durch einen Sprung ins Wasser tötete; nachdem sie ihren wahren Geliebten, der auf einem Boot steht, erkannt hat. Aber Suizid? Plausibel im Sinne Gènettes ist nur diese Beobachtung: Spiegel und Echos gehören zu den wichtigsten Erscheinungen des „Godwi“, und wer zum Kern der Geschichte vordringen möchte, vor allen Dingen zum Kern des Films von Dominik Graf, der kommt ohne Echos und Spiegel nicht sehr weit.

Beobachtungen zu „Der Felsen“

Spiegel und Echos verstärken die dramatische Handlung im „Godwi“. Durch ihren autohypertextuellen Anspielungshorizont leuchten einzelne Binnentexte im changierendem Licht, werden mehrdeutig. So gewinnt auch Dominik Grafs 2001 erschienener Kinofilm „Der Felsen“ an Bedeutung, oder an Bedeutungen, wenn er als Hypertext des „Godwi“ gelesen wird.

Die verführerische Blondine Katrin wird in Calvi (auf Korsika) von ihrem Geliebten Jürgen verlassen, weil dessen Frau ein Kind erwartet. Jürgen spiegelt vor, nach Deutschland abzureisen, bleibt jedoch auf der Insel und vergnügt sich mit einer einheimischen Gelegenheitshure. Katrin, der es nicht vergönnt ist, selbst Mutter zu sein, lässt sich nun treiben, geht ein bezahltes, sexuelles Abenteuer mit zwei Hotelangestellten ein und verliebt sich wenig später in Malte, der in einem Resozialisierungscamp untergebracht ist.

Der 16-jährige Berliner hat im Streit den eigenen Vater erstochen, wurde verurteilt und wird begleitet von Kai, seinem jüngeren Bruder. Kai nutzt die Zeit am Strand, um sich eine neue Familie zu suchen. Er lernt ein deutsches Ehepaar kennen, das ihn eventuell adoptieren will. Nach mehreren Vergehen, alle motiviert durch die Liebe zu Katrin, soll Malte nach Deutschland zurückkehren, ins Gefängnis. Er flieht mit Katrin und fährt in die Berge, wo er auf Kai trifft, der seinen Bruder zur friedlichen Rückkehr bewegen soll. Im Ausgleich für diesen Dienst verspricht einer der Sozialarbeiter, mit dem deutschen Ehepaar zu reden, um eine Adoption in die Wege zu leiten.

Malte gelingt es jedoch erneut zu fliehen, weiterhin mit Katrin, im Schlepptau Kai. Die drei gelangen an einen Felsen, wo sie in bacchantischer Ausgelassenheit feiern, trinken, wo die beiden Liebenden in derselben Nacht miteinander Sex haben. Am kommenden Morgen verlässt Katrin die Brüder, kehrt nach Calvi zurück und versucht vergeblich, eine Schiffsfahrkarte zu kaufen.

Die Brüder gelangen ebenfalls nach Calvi. Malte überfällt Jürgen, den Exfreund Katrins, am Strand und schlägt ihn krankenhausreif. Weil er vorher Kais Adoptiveltern erpressen wollte, rücken sie von der Idee einer gemeinsamen Familie ab. Beim letzten Wiedersehen zwischen Kai und dem Ehepaar fällt der Junge, nachdem er die Frau gebissen hat, ins Hafenbecken. Er wird in jenes Krankenhaus eingeliefert, wo bereits der schwerverletzte Jürgen liegt.

Katrin trifft Malte. Sie weiß, dass er Jürgen zusammengeschlagen hat. Dennoch verabredet sie sich mit ihm in einem Café. Sie möchte mit Malte die Insel auf einer Privatyacht verlassen. Den Zugang erwirbt die Verführerische in einer Edel-Diskothek, wo sie in hurenhafter Art und Weise reiche Bootsbesitzer umgarnt. Malte wartet nachts im vereinbarten Café. Hier wird er von den Sozialarbeitern des Camps überrumpelt. Er versucht zu fliehen, stürzt in eine Fensterscheibe und verblutet vor Ort. Zurück bleiben in dieser Geschichte Katrin und Kai, der aus dem Krankenhaus entwischt ist. Katrin geht mit ihm frühstücken, lässt den Yachtbesitzer ohne sie ablegen. Jene Frau, die nicht Mutter sein durfte, wird zur Beschützerin des Jungen. Die letzte Einstellung zeigt eine Terrassenbrüstung, weit über dem Meer, dazu das Wasser und ein Boot, das vorüberfährt. Das Bild verharrt, niemand springt hinab; anders als in allen anderen, zuvor so komponierten Einstellungen; worauf ich später eingehen werde.

Schon bei knapper Vergegenwärtigung dieser Handlung werden hypertextuelle Bezüge zum Godwi augenfällig. Der Film ist voller Spiegel, auch im konkreten Sinn, weil fast jede Szene durch Spiegelungen kommentiert wird. Nur der letzte Spiegel, eine Fensterscheibe, ist eine Falle. Wie das spiegelnde Wasserbild in das Narziss in Ovids „Metamorphosen“ schaut, birgt dieser den Tod. Das letzte Spiegelsymbol zerfällt in Scherben, an denen der narzisstische, und narzisstisch liebende Malte qualvoll stirbt.

Malte, der „jeden Horror“ zu schlucken bereits ist, um mit Katrin zusammenkommen, wird als Antityp Jürgens dargestellt Der Jüngere rächt den Betrug des Älteren und sühnt dessen Taten mit dem eigenen Leben. Sein Glaube, die Verletzung des Älteren abwenden zu müssen, stößt Malte ins Verderben. Durch diesen Charakterzug ist er, der aus ähnlich mitfühlenden Gründen seinen prügelnden Vater erstach, auf die Insel gelangt. Durch diesen Charakterzug, der Katrin (das, was er liebt), erlösen will, löscht Malte sich selbst aus dem Leben, ohne das Leben anderer zu retten.

Ist es demnach sein jüngerer Bruder Kai, der die letzten, von Jürgen nicht erfüllten Sehnsüchte Katrins erfüllt, indem er als „Sohn“ mit ihr flieht? Kai versucht bereits in den Bergen, zu sühnen, jedoch nicht für Jürgen, sondern für die neuerlichen (Liebes-)Vergehen des älteren Bruders: Du kommst mit ins Camp, ich komme in eine neue Familie. Er scheitert. – Der jeweils Jüngere ist hier mit den stets gleichen Wesenserkmalen charakterisiert, die Godwi junior von Godwi senior absetzen: Sühnebereitschaft, echte Liebe, dieses Erfüllt-Sein vom Glauben, das Unrecht des Älteren könne rückgängig zu machen.

Domink Graf setzt seine Figuren in ein ebenso verwirrendes Gefüge, wie Clemens Brentano seine „Godwi“-Helden. Er stattet sie, augenscheinlich in Anlehnung an Brentano, mit gleichen Motivationen und ähnlich fatalen Handlungsmotivationen aus. Allein aus formalästhetischen Gründen kann „Der Felsen“ als Hypertext des „Godwi“ gelesen werden. Hinzu kommen etliche inhaltliche Spiegelungen und Echos, die eine direkte Verbindung vom Film „Der Felsen“ zum stichwortgebenden Roman „Godwi“ belegen.

Schönheit, Betrug und Leid

Verführerisch sein und trotzdem an der Liebe leiden zu müssen, ist die Grunderfahrung der Loreley“, schreibt Lentwoijt. Dieser Satz trifft auch auf Katrin zu, die Malte am zweiten Abend in der Küche zu erklären versucht, warum sie nicht begeistert ist, dass er durch die Balkontür in ihr Apartment eingestiegen ist: „Ich versuche bloß, keinen Ärger zu kriegen. Das ist alles. Aber das gelingt mir irgendwie nicht.“

Katrin kriegt Ärger, weil sie begehrt ist. Jürgen, ihr Exgeliebter, hat sie begehrt; und im Streit verlassen. Malte, der Junge, begehrt sie; und er lässt die Unbescholtene zur Fluchthelferin werden, zur Verführerin eines Minderjährigen (Malte ist 16!). Und als Katrin in der Edeldiskothek einen Bootsbesitzer umgarnt, „Mein Sohn müsste auch noch mit“, sagt, anbietet, die Passage zu bezahlen, antwortet der Angesprochene: „Du wirst hier kaum jemanden finden, der dich nur wegen des Geldes mitnimmt.“ Katrin entgegnet: „Tanzen sie?“

Diese zwei Sätze zeigen Katrins Dilemma zusammen. Sie wird als Schönheit wahrgenommen, sie nimmt das hin und weil sie es hinnimmt, ist ihrer Schönheit das Leid immanent eingeschrieben. Sie müsste ihre Schönheit verleugnen, wie Brentanos Lore Lay zum „Nönnchen werden / Ein Nönnchen schwarz und weiß“,  um Erlösung zu finden. Ihre Schönheit ist zugleich eine Währung, wie Geld. Und Katrin erscheint selbstbewusst genug, um das zu wissen. Sie ist schön und streng. Sie vereint diese beiden Extreme in sich. Ihr Nachname „Engelhardt“ deutet das an.

Wenn Lore Lay bei Brentano spricht: „Ich selbst muß drin verderben“ , dann bezieht sie diesen Satz direkt auf die vorhergegangene Strophe, in der sie sich mit folgenden Worten beschreibt: „Die Augen sanft und wilde, / Die Wangen roth und weiß / Die Worte still und milde / Das ist mein Zauberkreis.“

Lore Lays Schönheit bringt ihr Verderben. Auch hier steht ein Spiegel vorm Motiv, denn Lore Lay ist nicht nur eine Schönheit, sondern auch eine Hexe, die Schreckliches vermag: „Sie war so schön und feine / Und riß viel Herzen hin / Und brachte viel zu schanden / Der Männer ringst umher, / Aus ihren Liebesbanden / War keine Rettung mehr.“

Schon zu Beginn des Lieds werden, wie beim ersten Beispiel, Lore Lays Schönheit und das Verderben miteinander verbunden. Im Film ist es nicht anders: Auf ein Begehren folgt die Beschädigung jedes Mannes, dem Katrin begegnet: Malte stirbt, Jürgen stirbt beinahe, ebenso Kai, nachdem er mit Katrin und Malte auf dem Felsen war. Maltes Sozialarbeiter wird mehrfach verletzt, geschlagen, er fällt hin, als Katrin mit Malte flieht.

Allein das Schicksal der beiden Hotelangestellten, die Katrin verführen, wird nicht verfolgt. Die netten Wachmänner, die Katrin überreden, in die Wohnung eines Freundes zu kommen (der sich dort auch im Hintergrund aufhält), besitzen eine andere, auf Brentanos „Zu Bacharach am Rheine“ verweisende Funktion:

Die ritterlichen Herren, die angeben, sie seien „da für ihren Schutz“, die Katrin abführen, in die Höhle des Löwen (sie geben an, dass sie im Hoteltheater beim Musical „Der König der Löwen“ mitspielen) stehen für jene drei Ritter, die Lore Lay im Lied abführen. Im Film sieht die Szene so aus: Nach dem gemeinsamen Sex – der Freund, als Dritter im Bunde, schaut zu – verschwinden die Herren und Katrin ist endgültig gefallen. Von da an geht es abwärts und alle Handlungsstränge, die zuvor lose herumlagen, verweben sich langsam, streben zum fatalen Ende hin. Der Sex mit den Schutzmännern markiert den ersten Plot Point von „Der Felsen“ und damit den Übergang von der Exposition zur Konfrontation.

Oft wirkt Dominik Grafs Film wie eine Weiterführung des Lieds, wie ein neuer Anfang, der nicht nur behauptet, dass die Zauberin Männer rings umher zu Schanden bringt, sondern das auch immer wieder zeigt, belegt. Wenn Katrin, die Verlassene, die Liebeskranke, von Malte unbändig geliebt wird, folgt das Handlungsmuster der Beobachtung von Lentwoijt der betont: „Von der Liebe dieser Liebeskranken erhoffen sich ihre Bewunderer Erlösung von ihrer durch sie verursachten Liebesqual. (…) Wie der Liebhaber der späteren Loreley-Dichtung findet schon Godwi nicht wirklich Erlösung, sondern allenfalls die Hoffnung auf sie.“

Jürgen wird nicht erlöst. Als er beschließt, von der Gelegenheitshure zurückzukehren, nicht zu seiner Frau, sondern zu Katrin, ins Hotel, wird er von Malte am Hotelstrand zusammengeschlagen. Er kommt von Katrin nicht los, obwohl er sich getrennt hat, obwohl seine Frau schwanger ist. Und dieses Nicht-Loslassen-Können, dieses unbedingte Zurückkehren-Müssen, bringt ihn beinahe um. Gleiches gilt für Malte. „Er riskiert alles.“  Er vertraut, gutgläubig, ungerechtfertigter Weise. Zu Beginn des Films spekuliert der Erzähler, der späteren Handlung vorausgreifend, aus dem Off: „Was, wenn sie wahr würde. Wenn die Sehnsucht des Jungen sich dabei beinahe erfüllt?“ Seine Sehnsucht erfüllt sich, allerdings fatal.

Hure und Mutter

Brentanos „Godwi“ verhandelt im zweiten Teil, wenn Violettes Denkmal errichtet wird, das Verhältnis von „käuflicher Erotik“ und „idealisierter Kunst“. Die von ihrer Mutter zum leichten Mädchen erzogene und unter Godwi juniors Augen zum Soldatenliebchen avancierte Violette wird nach ihrem Tode mit einem idealisierten Standbild geehrt, das Godwi junior bußfertig zur Schau stellt. Dieses Standbild korrespondiert mit jenem, das Godwi senior von Marie hat anfertigen lassen; es ist das im Untertitel des „Godwi“ gemeinte „steinerne Bild der Mutter“. Marie ist vom älteren Godwi unwissentlich zur Betrügerin ihres (tot geglaubten) Mannes herabgewürdigt worden. Die Mutter des jüngeren Godwi, ertrinkt im ersten Teil, als sie ihren doch noch lebenden Ex-Mann im Kahn erblickt.

Das Marmorstandbild verdeckt aufgrund seiner heiligen Stilisierung den eigentlichen und doppelten Betrug, jenen des Godwi senior an Marie, und den von Marie an ihren Mann. Die Mutter als unfreiwillige Dirne, bzw. das Thema Mutter und Dirne sind Bilder, die im Lied en passant angesprochen bzw. durch Auslassungen markiert werden. Lore Lays‘ Liebesbanden zerstören die „Männer rings umher.“. Hier wird deutlich der Akt (Liebe) und eine vage Menge (durch Angabe eines Radius) Männer erwähnt. Nur bei sehr leichten Mädchen kann Ähnliches behauptet werden. Lore Lay ist eine Dirne.

Ferner liebt Lore Lay einen Mann, der sie verstößt. Wer ist jener, der sich weigert, Lore Lay zur Mutter zu machen? Ist es vielleicht der im Zölibat lebende Bischof selbst, von dem sie errettet werden möchte, der aber Lore Lay, deren Schönheit er preist, fortschickt? Immerhin steigt Lore Lay auf den Felsen um nach „meines Lieben Schloß“ zu schauen, nachdem der Bischof ihr zuvor ein letztes Liebesgeständnis gemacht hat: „Ich kann dich nicht verdammen, / Bis du mir erst bekennt, / Warum in diesen Flammen / Mein eigen Herz schon brennt.“

Der Bischof ist die einzige, wirklich greifbare, männliche Figur in diesem Lied. Es gibt nur ihn; und Lore Lay. Er lebt vermutlich, wie fast alle Bischöfe jener Tage, in einem Schloß. Die Liebesbeziehung zwischen Lore Lay und dem Bischof wäre ebenso illegitim wie jene zwischen Katrin und ihrem verheirateten Chef Jürgen.

„Der Felsen“ verhandelt beständig die beiden Positionen Mutter und Dirne und kennt ein Spannungsverhältnis, das jenem im „Godwi“ behandelten ähnelt.  Katrin, die im „Wettlauf“ unterliegt, „wer zuerst schwanger wird, sie oder ich“, Jürgens Frau oder eben sie, schreibt, nachdem Jürgen sie verlassen hat, eine Karte an ihre Mutter. Sie kommt über die Anrede „Liebe Mutter“ nicht hinaus und wirft die Karte in einen öffentlichen Abfalleimer, wo sie Maltes Bruder Kai, der ebenfalls eine Mutter sucht, wenige Sekunden später rausfischt.

Diese Karte spielt in der letzten Szene des Films eine Rolle, als Kai sie aus der Tasche packt und vor Katrin, die sich mütterlich um ihn kümmert, vorlegt. Dort versteht sie. Sie akzeptiert, mimisch ausgedrückt, ihr Schicksal: als Mutter. Davor hatte Katrin noch protestiert. Malte flüchtet mit ihr ins Bergdorf, wo er mit ihr schlafen will. Sie fragt: „Wie haste dir das hier denn vorgestelllt, dass die mich wegen Verführung Minderjähriger hopps nehmen oder was?“ und er kontert: „Wieso, wir können doch sagen, du bist meine Mutter.“ Sie macht ihn darauf aufmerksam: „Danke, sowas hören Frauen gerne.“

Ich gebe diese Beispiele deshalb in zeitlich vertauschter Reihenfolge an, weil mit dem letzten eine direkte Verbindung zwischen Mutter und Dirne gezogen wird. Das Dirnenmotiv ist ebenfalls vielfältig vorhanden und mit Katrin ursächlich verknüpft, und nicht nur hier mit dem Mutter-Sein kombiniert, es gehört zur Loreley, es gehört zum Film „Der Felsen“. Das beginnt in dem Moment, als der packende Jürgen Katrin Geld geben möchte und sie sagt, auf die Bezahlung ihrer Liebesdienste anspielend: „Ist das der Inseltarif, wenn man seine Frau dalässt?“ Später wird sie von dem Freund der beiden sie verführenden Hotelangestellten für ihre Liebesdienste bezahlt: „Er gibt dich Geld, er wird dich auch Geld geben.“ Sie hat Gefallen daran gefunden und Katrin ruft ihren Jürgen daheim an, und ihm auf den Anrufbeantworter sprechen, dass sie so „tausend Mark“ braucht. Als sie dann mit ihrem angeblichen Sohn aufs Festland flüchten will, bietet Katrin ihre Schönheit in der Edeldisco feil. Sie ist deutlich als Mutter und Dirne in einem angelegt, wie Marie im „Godwi“.

Lentwoijt betont, die Motivkreise Mutter und Dirne seien direkt und bedeutsam mit der Loreley-Figur verbunden. Diese Verbindung taucht, allerdings komplizierter, ein zweites Mal im Film auf. Es gibt nämlich eine zweite Dirne: die schwarzgekleidete Kellnerin und Gelegenheitsprostituierte, mit der sich Jürgen vergnügt, während Katrin denkt, dass ihr Ex-Geliebter daheim mit der werdenden Mutter schmust. Die Dirne, die im Blick der Nebenbuhlerin die Position der Mutter einnimmt ist eine interessante Figur, weil sie als Spiegelbild Katrins gesehen werden kann. Durch geschickte Transmodulation gibt es plötzlich zwei Figuren, die dem Loreley-Bild entsprechen.

Dies begründe ich nicht aufgrund der simplen Tatsache, dass die Dirne auf der Insel Katrins Position gegenüber Jürgen einnimmt. Nein, die Dirne greift wesentlich in die Handlungen von Katrin und Malte ein. Die Kamera mag hier in einer Szene Zeuge sein. Zu Beginn des Films taucht ein Straßenhändler auf, bei dem Jürgen einen Ring für seine Frau kauft, den Katrin bei Jürgens Abreise stiehlt, und der ihr wiederum von Malte entwendet wird.

In der Mitte des Films geht Katrin auf diesen Straßenhändler zu und möchte den entwendeten Ring für sich nachkaufen. Die Kamera zeigt zunächst Katrins Sicht. Sie beobachtet, wie eine Frau bei dem Händler etwas kauft. Sie weiß nicht, dass diese Frau Jürgens Dirne ist. Katrin geht auf den Händler zu und der teilt ihr mit, dass er den gewünschten Ring gerade verkauft hat, morgen könne er ein neues Exemplar besorgen. Katrin wendet sich enttäuscht ab, die Kamera geht in die Totale und zeigt, wie sich Katrin und Dirne begegnen (aber natürlich nicht erkennen), einander passieren, die Kamera schwenkt Richtung Dirne, folgt ihr nach und zeigt, wie sie bei Jürgen ins Auto steigt.

Weil der Straßenhändler den Ring verkauft hat, wird das Schmuckstück später bedeutsam sein. Warum das so ist, erläutere ich weiter unten. Wichtig ist, dass Jürgen dieser Dirne im Schlußteil des Films Geld gibt, dabei von Malte beobachtet wird und dass die Dirne den am Boden hockenden Jungen passiert, ihm ein Geldstück spendet und sein Blick (auf den roten, signalwirksamen Stein) auf den Ring fällt, der ihn wiederum an Katrin erinnert.  Daraufhin folgt Malte in der anschließenden Szene Jürgen zum Strand, bietet sich dort als Lustknabe an, wird abgewiesen und überfällt den Mann daraufhin.

Das der Loreley zugeschriebene Dirnen-Motiv wird durch ein transstilisierendes Verfahren auf drei Figuren verteilt. Ist nun Katrin die Mutter (von Kai) oder ist sie nur eine Dirne? Ist Katrin, als Figur, ursächlich mit dem Jungen und deshalb mit dem Mutter-Sein verbunden? Kai und Katrin gehören allein aus phonetischen Gründen zusammen und Dominik Graf wird später explizit darauf hinweisen, wenn Malte den Namen Katrins in den Sand schreibt, und dort zunächst „KAI“, dann „KAT“, dann „KATR“ steht. Der Name Kai ist ein kleinerer Teil des Mutternamens.

Katrin muss keinen Vater vorweisen, weil sie, wie Godwis Marie, eine Heilige ist: Und zwar ab dem Augenblick, als sie gewahrt, Kai beschützen zu müssen. Katrin erfährt in jenem Café, in dem sie sich mit Malte zur Flucht verabredet hat, dass der Junge nachts zuvor verblutet ist. Während sie das erfährt, sucht Kai im Unrat nach Verwertbarem. Er findet, bestimmt kein Zufall, eine kleine Marienfigur, steckt sie ein. Tatsächlich wird Alles, was dieser Junge aufhebt, in der Geschichte bedeutsam. Dieses Prinzip wird zu Beginn bereits vorgestellt, mittels der durch Kai gespiegelten Figur des Straßenhändlers, der erläutert, dass es im Sengal ein Spiel gibt, bei dem Menschen Dinge, die wahllos in den Sand gelegt werde, zu einer Geschichte verbinden muss.

Kai findet die Marienfigur nicht, weil der Film aussagen will, dass Katrin fortan eine Mutterrolle einnehmen wird. Sondern: weil Kai die Maria findet, wird Katrin zur Mutter. Oder, weiter oben: Die Dirne wird zu Katrin, weil der Straßenhändler den Ring verkauft. Die Dirne entfaltet eine ebenso fatale Wirkung wie Katrin, weil ihr der Ring zugeschrieben worden ist. Das Gleiche kann für Brentanos „Godwi“ belegt werden. Marie avanciert zur Dirne, eben weil Godwi senior sie dazu macht. Anschließend wird Marie zur Heiligen, weil Godwi senior ein Standbild von ihr anfertigen lässt. Das gilt auch für Vioelette. Ihr Standbild ist eine Idealisierung, ein Bild, das Godwi junior von ihr macht! „Der Felsen“ beschreibt, ebenso wie „Zu Bacharach am Rheine“, eine Suche nach dem Weg aus dem Dirnen-Dasein. Und er formuliert, ob mit Katrins abgebrochener Karte, Jürgens Dilemma oder Kais Bemühungen, die ständige Suche nach der absenten Mutter.

Die Loreley-Landschaft und der Sprung

Die Loreley-Landschaft wird im Lied kurz umrissen: Zu ihr gehören der Felsen und das Wasser. Lore Lay steht auf dem Felsen und schaut aufs Wasser, in das sie später fallen wird. – Im Film gibt es, landschaftlich bedingt, etliche Einstellungen, die Felsen und Wasser kombinieren. Außerdem taucht der Sprung ins Wasser mehrfach auf, wie bei Kais Sprung ins Hafenbecken. Der Filmtitel spricht für sich. Er markiert einen architextuellen Verweis, der als Überschrift einen paratextuellen Hinweis auf die taxonomische Zugehörigkeit des Films zum Loreley-Ort darstellt. Zugleich ist der Felsen jener Ort, der in Film (wie im Lied) einen Wendepunkt markiert. Katrin schläft mit Malte auf dem Felsen, obwohl sie das zuvor abgelehnt hatte.

Ich möchte mich an dieser Stelle auf ein Beispiel beschränken, das eine überaus faszinierende Transmodalisierung belegt und deutlich auf „Zu Bacharach am Rheine“ verweist, obwohl kein Felsen und kein Wasser gezeigt werden. Im Lied möchte Lore Lay noch einmal auf den Felsen steigen. Dort angekommen erspäht sie ihren Liebsten auf dem Wasser. Infolgedessen stürzt Lore Lay ins Wasser.

Katrin wartet vergeblich auf Malte, der sie zum Tauchen eingeladen hat. Sie geht zurück, ins Dorf und steht auf einem Festungsturm. Aus dem Off sagt die weibliche Erzählstimme: „Sie verabschiedet sich von der Insel. Einmal wollte sie hier oben stehen. Das hatte sie eigentlich mit ihrem Freund geplant. Das Rückflugticket in der Tasche fühlt sich jetzt an wie ein kleines Gewicht, das ihr Vertrauen gibt. Morgen ist sie zu Hause, denkt sie.“

Katrin steht auf dem Turm und schaut, nachdem sie eine Lichtreflexion wahrgenommen hat, hinab auf den in Meereshöhe angelegten Parkplatz. Dort sieht sie eine Frau in das Auto von Jürgen, ihrem Geliebten, einsteigen. Als Reaktion sprintet Katrin hinab. Der Turm im Film entspricht dem Felsen im Lied. Der Parkplatz wird in dem Augenblick zum Rhein, als Katrin auf diesem ihren Geliebten erkennt, der nicht mit dem Boot, aber mit seinem Auto vorüberfährt. Es folgt kein Sprung (dann wäre der Film an dieser Stelle vermutlich beendet), sondern Katrins Sprint hinab.

Das Echo

Das Echo ist die vermutlich bekannteste, mit dem Loreley-Mythos verwobene Erscheinung: „Und immer hats geklungen / Von dem drei Ritterstein: / Lore Lay / Lore Lay / Lore Lay / Als wären es meiner drei.“ – Mit diesen Zeilen endet „Zu Bacharach am Rheine“, jenes Lied, das Violette im „Godwi“ singt. Lentwoijt bezieht sich auf W. Bellmanns kanonisch gewordenen „Lore Lay / Echo-Aufsatz“, wenn er als wesentlich erkennt, dass „das Echo nicht zu einem toten Felsen wird, sondern zu einem Felsen der die Stimme desjenigen erwidert, der ihn anruft.“

Das Echo ist eine anthropologische Erscheinung, „bei der der reflektierte Schall getrennt vom Originalschall wahrgenommen wird. Das menschliche Ohr vermag zwei Schallereignisse nur dann als getrennt voneinander erkennen, wenn zwischen beiden ein Zeitunterschied von mindestens 0,1s besteht.“

Allein das wahrgenomme Echo ist eines. Damit es wahrgenommen werden kann, muss jemand rufen, die Luft zum Schwingen bringen. Im Film geschieht das an mehreren Stellen. Nachdem Malte mit Katrin auf dem Felsen geschlafen hat rollt er morgens Katrins Auto den Felsen hinab. Somit gibt es wieder die Kombination „Felsen / Sturz“. Das Echo folgt zwei Minuten später, als Malte ins Gebirge brüllt, wie ein Tier, und mehrere Echos ihm entgegenschallen. Durch eine Transmodalisierung wird hier die Situation des Liedes aufgegriffen.

Mit diesem knappen Echobeispiel schließe ich meine Argumentation, die ohne den direkten Sprung der Loreley vom Felsen, ohne Bischof, ohne Lore Lay-Echo, ohne Inquisition und Rhein auskommen musste. Und doch möchte ich behaupten, die Loreley ist das eigentliche Thema des Films, bzw. die Frage: Was würde passieren, wenn Loreley heute leben und nicht springen würde?

Kurz nach „Der Felsen“ sendete die ARD am 23.10.2002 einen weiteren Film von Dominik Graf. Dieser ist ebenfalls mit einer Digicam gedreht, daher ästhetisch mit „Der Felsen“. Er hat den Titel „Die Freunde der Freunde“, und ist ebenfalls angelehnt an ein Stück Literatur. Angelehnt heißt: Der Hypotext wurde durch eine pragmatische Transformation nicht direkt adaptiert, sondern zeitlich versetzt, mit neuem Personal und allenfalls von der Hypotext-Handlung zaghaft kontaminiertem Plot versehen. Der Autor heißt Henry James und Graf bearbeitete dessen gleichnamige Erzählung „The Friends of the Friends“ aus dem Jahr 1896. Aufzuzeigen, welche Verbindungen zwischen Der Felsen und Die Freunde der Freunde existieren, wäre ein Thema für weitere Arbeiten über D. Graf und seine augenfällige Liebe zur Literatur.

BRENTANO, Clemens (2007): „Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter“. Behler, Ernst (Hg). Stuttgart. / BRENTANO, Clemens: „Rhein-Märchen“, Frankfurt 1949 / EICHENDORFF, Joseph von: „Gedichte“. Frankfurt 1988 / GRAF, Dominik: Der Felsen. München 2001 / HEINE, Heinrich: „Buch der Lieder“. Frankfurt 1975 / BELLMANN, Werner: „Brentanos Lore Lay-Ballade und der antike Echo-Mythos“. In: Clemens Brentano – Beiträge des Kolloquiums im Freien Deutschen Hochstift 1978. Hrsg. Detlev Lüders. Tübingen 1980. S. 1-9 / BÜRGER, Gerhard: „Im Zauber der Loreley. Eine kleine Monographie“, St. Goarshausen, 1952 / KITTLER, Friedrich: „Draculas Vermächtnis –Technische Schriften, Leipzig 1993 / KLUGE, Manfred: „Die Rheinmärchen“. In: Kindlers Neues Literaturlexion, München 1988 / LENTWOJT, Peter: „Die Loreley in ihrer Landschaft. Romantische Dichtungsallegorie und Klischee; ein literarisches Sujet bei Brentano, Eichendorff, Heine und anderen“. Frankfurt a.M. 1998

 

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