Linkradar: Bestseller 2016, Lyrik hassen, arme Poeten

Das neue Jahr hat begonnen, der Linkradar kommt zurück, ab sofort wieder jede Woche hier im „Lesen mit Links“-Blog, ab Ende Januar auch wieder mit der Konsuminventur. Gerade sind die Jahresbestseller für 2016 ermittelt und in der aktuellen Ausgabe des Börsenblatts vorgestellt worden: „Das Bestsellergeschäft scheint sich, zumindest auf den ersten Blick, weder in großem Stil zu verengen, noch auszudehnen. Mit Blick auf die Top 25 wirkt die Lage recht stabil: 417 Titel ergatterten zwischen Januar und Dezember einen Platz in den drei ausgewerteten Kategorien – etwas weniger als 2015 (minus 4,8 Prozent, Basis 438), aber mehr als vor fünf Jahren (2011: 400).“ Erfolgreichster Belletristik-Verlag ist Blanvalet (11 Titel), im Sachbuch C.H. Beck (7 Titel). Juli Zeh lieferte mit „Unterleuten“ den erfolgreichsten deutschsprachigen Roman. Unangefochten auf Platz 1 der Belletristik-Hardcover: Joanne K. Rowling mit ihrem Theaterstück (das Original kam auf Platz 3), Platz 2 geht an den Thriller „Das Paket“ von Sebastian Fitzek. Außerdem neu: Unsere Deutschlandfunk-Buchredaktion twittert hier unter @DLFbuch.

Der arme Poet: Gerade fand der erste „Branchentreff Literatur“ in der Lettrétage Berlin statt und die Meldungen von dort klingen ganz anders als das Bestsellerfest. Sieglinde Geisel, Gründerin des Literaturmagazins „tell“ berichtet in der NZZ (hier) und kommentiert auf Facebook: „Mein heutiger NZZ-Artikel betrifft mich auch selbst: Auf Ende 2016 hatte mir die NZZ mein Fixum gekündigt, nach über zwanzig Jahren. Bin also wieder freischaffend, frisch gebacken sozusagen!“ Was sie von ihrem Berliner Termin an Erkenntnis mitgenommen hat? „Auch wenn die Autoren als Unternehmer in eigener Sache alles richtig machen, wird das den Markt nicht heilen. Die Gesellschaft muss sich darüber verständigen, welchen Wert öffentliches Schreiben haben soll und kann. Denn dieser Strukturwandel betrifft nicht nur Autoren, sondern auch die Leser.“

Augenblick: Am Montag ist John Berger im Alter von 90 Jahren gestorben. Der Brite war nicht nur Romancier, Theaterautor, Maler, Lehrer und Kunstkritiker, er engagierte sich auch politisch: 1972 spendete der Booker-Preisträger die Hälfte des Preisgelds für seinen Roman „G“ der „Black Panther“-Bewegung. „Wenn Walter Benjamin ein langes Leben gehabt hätte, dann wären die beiden die besten Freunde gewesen, weil sie einerseits so ein marxistisches Interesse an der Zukunft haben, ein Verlangen danach haben, dass etwas morgen geben muss, um unser Heute zu verstehen.“, sagte der Übersetzer Hans Jürgen Balmes hier im „Büchermarkt“-Gespräch.

Lyrik hassen: Walter Delabar bespricht hier bei Fixpoetry die „Neue Rundschau“, die unter dem von Ben Lerners Mittelpunktsessay abgeschauten Titel „Why I Hate Poetry“ erschienen ist. „Der Ausgangspunkt ist die provozierend gemeinte Frage, welche Kunstform ihre eigene Verachtung derart in den Mittelpunkt ihrer Existenz stellt wie die Lyrik. Alle paar Jahre erscheine ein Essay in einer Publikumszeitschrift, in der der Untergang der Lyrik attestiert und ihr selbst auch noch die Mit- wenn nicht Hauptverantwortung dazu zugeschrieben werde. Mit dem Effekt, dass sich kurz darauf in der Blogsphäre ein Gewitter von Ehrenrettungen erhebt, das allerdings auch wieder nur von kurzer Dauer ist.

Seitenwechsel: Marcel Hartges, Entdecker der beiden BestellerautorInnen Charlotte Roche und Ferdinand von Schirach (der zu Luchterhand wechselt), verlässt Piper und wird nun als Agent tätig. Angelika Klammer vom Literaturmagazinagazin Volltext gab er jüngst ein Interview und berichtete auch über die veränderten Arbeitsabläufe in Verlagen – die sich mehr und mehr den Verkaufscharts unterwerfen. „Verleger wie Siegfried Unseld oder Michael Krüger standen über Jahrzehnte hinweg an der Spitze ihrer Häuser. Sie waren die personifizierte Kontinuität und Verlässlichkeit für den Autor. So etwas findet sich heute nicht mehr. Die Verleger gleichen heute eher den Fußballtrainern, Fluktuation ist eher die Regel als die Ausnahme. Nehmen wir die Verlage, für die ich gearbeitet habe: Bei Piper gab es in den letzten fünfzehn Jahren vier Verleger, bei DuMont in dieser Zeit fünf.“

Zum Abschluss

„Der Pfau“ wird bereits als heißestes Debüt dieses Frühjahrs gehandelt. Isabel Bogdan ist Übersetzerin (u.a. Nick Hornby, Jonathan Safran Foer), Veranstalterin in Hamburg (Bar 4.0, Trilili) und Bloggerin – zum Beispiel über die Serie „Downton Abbey“, was passt, spielt doch auch „Der Pfau“ in Großbritannien, genauer in den schottischen Highlands. Dort hat der spleenige Lord McIntosh mehrere Cottages in Ferienhäuser verwandelt, um etwas Geld zu machen und aus reinem Übermut fünf Pfauen angeschafft, denn „er stellte es sich hübsch vor, wenn die Männchen auf der riesigen Rasenfläche vor dem Wohnhaus umherstolzierten und Räder schlugen.“ Leider rastet einer der Tiere aus und wird aggressiv. Der Pfau muss weg, zumal sich das Management einer Londoner Privatbank für ein verlängertes Wochenende angemeldet hat – Teambuilding. Eitle Businesskader, Pfauentiere der menschlichen Art, treffen auf die ungezügelte Natur. „Der Pfau“ ist ein tierisch-trivialer Mix aus „Immer Ärger mit Harry“, dem makabersten Teil von Giovanni Boccaccios „Decamerone“ und Werbebildern verschiedener Single-Malt-Spots. (Isabel Bogdan: „Der Pfau“, KiWi, 256 Seiten, 18,99 Euro)

Der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic löste im Dezember 2014 eine „Nacktwelle“ auf Facebook aus, nachdem er sich unbekleidet in seinem Profil gezeigt hatte. Dort konnte man ihm bereits in den vorhergegangenen Monaten wöchentlich beim Betrinken, Ausnüchtern und Nicht-mehr-Klarkommen zusehen, bei der schonungslosen Selbstbeschau, die irgendwo zwischen Karl Ove Knausgård und Charles Bukowski mäanderte. Aus dieser trunkenen Befindlichkeit ist nun mit „Der Jonas-Komplex“ ein (hoffentlich fiktives) Tagebuch des Jahres 2015 entstanden, mit fehlgeleiteten SMS („Willst du mir den Schwanz rasieren, oder soll ich es vorher machen?“), Jugenderinnerungen und mahnenden Nachrichten vom Vater an den längst erwachsenen Sohn: „Mir wurde berichtet, du hast einen Schottenrock angezogen. Das ist dir aus noch zu viel, du ziehst ihn aus und läufst nackt über den Naschmarkt. Statt Autogramme zu geben, wirst du nächstes Mal bei deiner Lesung deine Eier bemalen. Ich habe aufgehört mich zu wundern.“ Mit dem brillanten Schachroman „Carl Haffners Liebe zum Unentschieden“ (1998) oder dem medienkritischen, mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichneten Krimi „Der Kameramörder“ schrieb sich Glavinic einst in die erste Liga, wo er sich Dank kräftigster Feuilletonunterstützung seines Freundes Daniel Kehlmann („Die Vermessung der Welt“) etablieren konnte. Das neue Buch zeigt, anders als die maßgeblichen, als die früheren Bücher, keine kunstvolle Verdichtung, es wirkt mühevoll und doch schluderig, setzt zwar permanent Links in das übrige Romanwerk (Schach, pubertierende Babys usw.), wirkt aber wie ein ausgekippter Setzkasten, der eiligst zusammengekehrt und auf ausreichend viele Seiten verteilt wurde. (Thomas Glavinic: „Der Jonas-Komplex“, Fischer, 750 Seiten, 24,99 Euro)

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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2 Kommentare

  1. Lyrik mit Gedichten gleichzusetzen heißt, sich geistig einzusperren. Texte, Lyrik ist eine besondere Gattung, haben alle ihren Hintergrund in der Erfahrungswelt dessen, der schreibt. Um meine Texte zugänglicher zu machen, ergänze ich sie durch einen ersten „Diskussionsentwurf“, der zumeist auf die Grundsätzlichkeit hinweist.

    Muster: http://lyriker.eu/2017/07/09/ein-wort-im-kopf/

  2. Das mit der Lyrik hassen hat ja auch seinen Hintergrund. Gedichte können wundervoll sein, sind es a in der Regel aber nur für den Autor. Das ist keine Kritik, lediglich eine Feststellung.

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