Wir leben in Zeiten des Abschieds – darauf hat bereits Andreas Reckwitz hingewiesen mit seiner soziologischen Studie, die den Verlust als Phänomen der Moderne gelesen hat. Die französische Philosophin Claire Marin denkt nun über „Brüche“ nach und fragt nach dem richtigen „Umgang mit den Krisen des Lebens.“ Kommt sie damit weiter als Hiob im Alten Testament?
Wie passend, dass dieses Buch über Brüche und Krisen von einer Französin geschrieben wurde. Schließlich ist die einst stolze „Grande Nation“ hinabgesunken in staatspolitische Scharmützel, sie verschleißt Premierminister am laufenden Band, während einer ihrer Präsidenten – Nicolas Sarkozy – im Herbst dieses Jahres spektakulär verurteilt wurde. Unsere Nachbarn kennen die Krise noch besser als wir – möglicherweise ist so der Verkaufserfolg des Buchs von Claire Marin erklärlich, die ihr Thema zunächst aus der Totalen betrachtet.
„Vielleicht sind wir in einer Ära oder einem Augenblick der Brüche angekommen. Auf ökologischer und somit ökonomischer und politischer Ebene müssen wir dringend unsere Art zu leben, zu kommunizieren, zu reisen, unsere Gewohnheit, Reichtümer anzuhäufen, überdenken und aufhören, das Schwinden der Ressourcen, zu dem unser Verhalten geführt hat, zu leugnen. Den Bruch zu akzeptieren wäre demnach ein Zeichen von Reife angesichts der Notwendigkeit einer existenziellen Veränderung, ob auf individueller Ebene oder der des gemeinsamen Überlebens.“ Das schreibt Claire Marin in „Brüche. Vom Umgang mit den Krisen des Lebens“, eine lose an den Duktus von Roland Barthes angelehnte Betrachtung über verschiedene Arten des Einschnitts, die allerdings weniger dramatisch erscheinen als die Klimakatastrophe.
Keine tiefe Philosophie
Es geht in diesem Buch entgegen der eben gehörten Ankündigung überwiegend um das Ende von Liebesbeziehungen. Verhandelt werden zudem der Bruch mit der eigenen Familie, Vertragsbrüche allgemeinerer Art und jenes zunächst unmerkliche Verschwinden in die Demenz, das hier kurioserweise ebenfalls als „Bruch“ charakterisiert wird. Rasch drängt sich bei einem so disparaten Setting der Eindruck auf, dass das Thema allein aufgrund seiner vermeintlichen Gegenwartsrelevanz gewählt wurde. Wer also in die Tiefe gehende Philosophie erwartet von einer Dozentin, die immerhin an den Grandes Écoles ihres Landes lehrt, der wird schon auf der zweiten Seite enttäuscht:
„Alles, was in unseren Leib, unsere Gedanken, unsere Art, Dinge zu begreifen und zu sein, eingesickert ist, was Engramme hinterlassen hat. All das, was an uns hängen bleibt, der nicht klar begrenzte Schweif des Kometen, all das, was fortbesteht, was gegen unseren Willen stattfindet. Mit einer wirklich neuen, weißen Seite zu beginnen, ist nicht möglich, denn wenn man sie gegen das Licht hält, sieht man alles, was zuvor geschrieben wurde, das vorherige Leben bleibt als unauslöschliches Wasserzeichen zurück.“ – Gut, auch so kann man das wesentlich griffigere Bild des Palimpsestes neu fassen und danach fragen, weshalb ein sogenannter „Bruch“ nie vollständig verheilt – eine Annahme, die übrigens allein aus psychologischer Sicht bezweifelt werden kann.
Erfahrungen des Herausreißens
Claire Marin rubriziert im angehängten Glossar die Großen ihrer Profession, von Henri Bergson über Gilles Deleuze und Friedrich Nietzsche bis Spinoza und Paul Valéry – erreicht jedoch nie deren Gedankenhöhe. Es liegt an einer permanenten Ungenauigkeit ihres Blicks, hinter der eine fast obsessive Bildhaftigkeit der Sprache steckt. „Der Bruch ist die Erfahrung eines Herausreißens. Ein Herausreißen dessen, was wir für unser Eigen hielten, was wir buchstäblich in unser Wesen aufgenommen hatten. Nicht nur entfernt sich der andere und nimmt ein Stück von mir mit, er häutet mich, zieht mir die Liebeshaut ab, die schützende und beruhigende Hülle, seine Präsenz und Aufmerksamkeit, er nimmt mir seine verführerischen, stolzen oder gutmütigen Blicke. Eine Haut aus Worten, aus Blicken, aus Liebkosungen.“
Abgesehen vom schiefen Bild des Bruchs als eine „Erfahrung des Herausreißens“ zeigt diese Stelle exemplarisch, wie hier alles hinsichtlich eines bestsellertauglichen Themas – pardon – „übers Knie gebrochen“ wird. Es ist aber auch schwer, Verlust, Abschied, Traumata und Liebeskummer unter eine Überschrift zu bringen – daran ist bereits Roger Willemsen mit „Der Knacks“ gescheitert. „Brüche. Vom Umgang mit den Krisen des Lebens“ fällt selbst dahinter zurück. Das ist nicht einmal TedTalk-Niveau, eher TikTok für Hoffnungslose, denen eh alles egal ist – und die erst bei der Lektüre erfahren werden: Es kann immer noch schlimmer kommen, als gedacht.
Claire Marin: „Brüche“, aus dem Französischen von Sina de Malafosse, dtv, München, 176 Seiten, 20 Euro
