Kommentar: Zum Friedenspreis

An diesem Sonntagabend schloss die Frankfurter Buchmesse ihre Tore – und so endete eine Woche, in der wie selten zuvor um die Sprache gestritten wurde, also um den Kern aller Literatur.

„Viele Dinge, Phänomene und Begriffe bedürfen derzeit, wenn nicht einer Erklärung, so doch mindestens einer Erwähnung, einer neuen Darstellung, einer neuen Akzeptanz“, sagte der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan am heutigen Vormittag in der Frankfurter Paulskirche, wo er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde.

Zhadan ist Popmusiker, Lyriker und Romancier, ein Mann der Kunst, ein Mann der Sprache. Seit vielen Jahren, seit der völkerrechtlichen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim, fragt er, welche Sprache der Brutalität eines Krieges angemessen ist. „Die Sprache lässt dich im Stich, die Sprache genügt nicht, die passenden Worte müssen erst noch gefunden werden“, sagte er heute in seiner Paulskirchenrede, die er treffend mit einem sprachlichen Missverständnis eröffnete.

Zhadan berichtete, dass er vom Fahrer einer ukrainischen Brigade um einen Kühlschrank gebeten wurde. Diese Bitte habe ihn verwundert. Denn wofür, das habe er sich sofort gefragt, braucht man einen Kühlschrank, ausgerechnet an der Front? „Ihr habt mich falsch verstanden“, soll der Fahrer daraufhin gesagt haben, er benötige ein Fahrzeug mit einem Kühlschrank, genauer einen Kühlwagen, um die Gefallenen abzutransportieren. Manche Leichen lägen seit Wochen unentdeckt in der Sonne.

Daraufhin habe Zhadan einen Kühlwagen organisiert, also nicht nur zugehört, sondern auch gehandelt. Seit Beginn des Krieges wechselt dieser bemerkenswerte Künstler zwischen tatkräftiger Unterstützung und sprachlicher Reflexion. Er tritt als Musiker bei Benefizkonzerten auf. Er bringt lebenswichtige Medikamente aus dem friedlichen Teil Europas an die Front. Er evakuiert Menschen. Und gleichzeitig sucht er nach einer angemessenen Sprache für das, was nachgerade monströs erscheint.

„Inwieweit reicht unser Vokabular – also das Vokabular, mit dem wir gestern noch die Welt beschrieben haben“, fragte Serhij Zhadan am heutigen Vormittag und dachte darüber nach, inwieweit dieses Vokabular ausreicht, „um über das zu sprechen, was uns schmerzt oder stark macht?“ Schließlich befänden sich heute alle, Zitat, „an einem Punkt des Sprechens, von dem aus wir früher nicht gesprochen haben, wir haben ein verschobenes Wahrnehmungs- und Bewertungssystem, veränderte Bedeutungsbezüge, veränderte Maßstäbe für Angemessenheit.“

In ihrer Laudatio bekräftigte Sasha Marianna Salzmann, dass Zhadans Texte bestimmt seien, „von der Haltung des Dialogs“. Seine Dichtung sei an keiner Stelle in sich verschlossen. „Ein Auge schaut immer hinaus in die Welt, eine Hand scheint ausgestreckt und bereit, die Lesenden mit ins Gespräch zu ziehen.“

Auge, Hand und Sprache gingen bei der gerade zu Ende gegangenen Frankfurter Buchmesse ineinander. Es war eine Buchmesse, die auf vielfältige Weise nach einer literarischen Sprache suchte, nach einer Sprache, die die veränderten gesellschaftspolitischen Verhältnisse angemessen zur Geltung bringt.

Ja, es stimmt, viele Dinge, Phänomene und Begriffe bedürfen derzeit, wenn nicht einer Erklärung, so doch mindestens einer Erwähnung, einer neuen Darstellung, einer neuen Akzeptanz. In Frankfurt sind wir dieser neuen Akzeptanz ein gutes Stück nähergekommen.

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