Hartmut Lange: Literatur der Krise

Über fünfzehn Jahre Lektüre und zwei Corona-Lockdowns später habe ich alle Novellen des herausgehobenen Berliner Schriftstellers Hartmut Lange durchgearbeitet – gerade ist mein Band „Literatur der Krise: Das Novellen-Werk von Hartmut Lange“ im Arco-Verlag erschienen. Es ist ein Handbuch geworden, ein Nachschlagewerk, das alle Novellen vorstellt und ihre Rezeption kurz zusammenfasst, bevor ich abschließend einen neuen, interpretatorischen Blick auf die Texte werfe, um Stück für Stück zu zeigen, wie Extremsituationen philosophischer, psychologischer und politischer Natur Hartmut Langes Literatur von Beginn an strukturieren. Teil des Buchs ist eine vollständige Bibliographie und ein mehrhundertseitiger Anmerkungsapparat. Im „Lesen mit Links“ veröffentliche ich nun von Zeit zu Zeit einige Kapitel – ohne Fußnote und Stellenangaben (die gibt es im Buch). Den Anfang macht: „Die Selbstverbrennung“.

Diese Geschichte, 1982 bei Rowohlt erschienen, ist der erste genuin literarische Prosatext von Hartmut Lange. Er wurde vom Verlag zwar als Roman verkauft, allerdings als Novelle rezipiert. Die Selbstverbrennung erscheint bereits hier als ein Archiv zahlreicher Motive, Überlegungen und Inszenierungsstrategien späterer Prosawerke, darunter die Poetiken der Irritation, der Grenzerfahrung, der Anverwandlung historischer Begebenheiten und philosophischer Konzepte.

Hartmut Lange ist 45 Jahre alt, als Die Selbstverbrennung erscheint. Wie sein Held, der Pfarrer Koldehoff, kommt er damals aus einer schweren Krise (geschildert in Deutsche Empfindungen). Die Verrisse einiger seiner Inszenierungen haben den Autor demoralisiert. Die Kanzel Koldehoffs erscheint so als Analogie zur Bühne des gekränkten Theaterautors und Regisseurs.

Erzählt wird die Geschichte des seit 18 Jahren verheirateten, 48-jährigen Pfarrers Martin Wilhelm Koldehoff, der im fiktiven DDR-Grenzdorf Bernede vom Glauben abgefallen ist, tagsüber die Namen der Toten auf dem alten Friedhof notiert und nachts seinen Blick nicht in die Bibel, sondern durch sein russisches Teleskop vom Dachboden aus zum Sternenhimmel richtet.

Der melancholisch veranlagte Koldehoff ist über seine frühere Arbeit als Verkäufer von Sicherheitsgurten depressiv geworden. Nachdem er seine spätere Frau Elfriede kennengelernt hat, wendet er sich der Theologie zu. Zu Beginn der Novelle ist die Ehe zerrüttet. Koldehoff lebt mit seiner Gattin, den beiden Kindern Annemarie und Gerd (Langes ermordeter Bruder hieß Gerd), der altersschwachen, doch bemerkenswert zähen 89-jährigen Mutter Hanna und seinem Schwager Eberhardt, einem weiterhin überzeugten ehemaligen SS-Soldaten im Pfarrhaus: »Ich kenne den Kitzel des Todes! Wir haben ihn geliebt! Wir haben diesen Engel empfangen und ausgeteilt, und ich lasse mich von keinem Pfaffen sentimental machen.«

Mit Eberhardt zeigt Lange, wie »die durch keine Vorstellung von Transzendenz ›gedemütigte‹ Rationalität […] in die Preisgabe der ›Demut‹ auch vor dem Leben und damit in die zynische Verachtung allen Menschlichen« führt. Koldehoff ist als Antagonist Sempert zur Seite gestellt, ein philosophischer Materialist und zweifelnder Sozialist, der nach Bernede gekommen ist, um sein Traktat Zum Lobe der materialistischen Vernunft fertigzustellen – das er jedoch niemals beenden, sondern zurücklassen wird, als er das Land verlässt.

In den anfangs geschilderten Spätsommertagen erfährt Sempert, dass sich ein Pfarrer in Zeitz vor den Augen seiner Gemeinde mit Benzin übergossen und angezündet hat – der Name Oskar Brüsewitz, also jenes Pfarrers, der sich im August 1976 tatsächlich unter diesen Umständen umgebracht hat – fällt dabei nicht. Sempert reist nach einer Begegnung mit der melancholisch-blas- sen Annemarie ab. Doch weil Pfarrer Koldehoff eine Einladung ausgesprochen hat, wird er im Winter nach Bernede zurückkehren.

Während Koldehoff über das sittliche Gesetz in ihm zweifelt, die höhere Macht im bestirnten Himmel sucht – eine deutliche Anspielung auf Kant –, ist seine Gattin Elfriede von ihrem voraussetzungslosen Glauben beseelt. Im Fortgang der Novelle finden zahlreiche philosophisch-theologische Dispute und Monologe statt, die sich unter anderem mit der Abwesenheit Gottes, den Gegensätzen von Erkenntnis und Glauben und dem Sein zum Tode beschäftigen.

Als Sempert erkrankt, wird er von Annemarie gepflegt, die somit der christlichen Caritas folgt. Er macht Koldehoffs Tochter einen Heiratsantrag und vorm Pfarrer die Aufwartung. Vater Koldehoff berichtet von Annemaries unheilbarer Krankheit, die sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht überleben wird. Sie stirbt tatsächlich. Elfriede, vor der Koldehoff Annemaries schwere Erkrankung verschwiegen hat, denunziert am Ende ihren eigenen Gatten. Ihr Mann wendet sich wieder der Bibel zu, zugleich sowohl vom Teleskop als auch von Pascal ab. Sempert flieht aus der DDR und lässt das Manuskript seines Traktats in der Pension zurück. »Warum er diese Arbeit (die er, wie es seiner Vorliebe für das Historisierende entsprach, in das Jahr 1830 verlegt hatte) zu guter Letzt den Beamten überließ, blieb allerdings rätselhaft.«

»Der Dramatiker Lange erntet häufig negative Kritiken. Seine Prosa hingegen […] ruft dafür aber meist positive Stellungnahmen hervor«, beobachtet Hertling in seiner Studie über Das literarische Werk Hartmut Langes. »Was die Theaterkritiker damals irritierte und abstieß, weil es so gar nicht zum Medium passen wollte, überzeugt jetzt von der ersten Seite an«, schreibt G. Zehm in Die Welt und spielt auf Verrisse nach der Premiere des Schauspiels Pfarrer Koldehoff 1979 an.

Die Rezensionen zu Die Selbstverbrennung sind achtungsvoll und kenntnisreich, Auseinandersetzungen auf teilweise sehr hohem Niveau, nicht nur der philosophischen, sondern auch der gesellschaftspolitischen Dimension von Langes Geschichte Rechnung tragend. Die Zeit schreibt: »Ganz anders als etwa Peter Schneiders furioser ›Mauerspringer‹ ist dies nicht die Prosa eines Außenstehenden, sondern eines Mannes, dem die Probleme der Menschen in der DDR unter den Nägeln brennt. (sic!) Pfarreien spielen ja inzwischen in der DDR eine ganz spezifische Rolle, sind nicht nur Anziehungspunkt für junge Menschen geworden, sondern bis zu Stefan Heyms Lesungen sind die Kirchen auch Fluchtorte der Systemkritiker.«

Die Presse urteilt: »Pastor Koldehoff, das heißt seiner Darstellung durch Lange, verdankt der Leser – was? Eine der schönsten und ergreifendsten Figuren der jungen deutschen Literatur; seltsamerweise einen späten Bruder der Priesterfiguren Georges Bernanos‹ Denn dieser Pfarrer ist verschattet von der Dunkelheit und Trostlosigkeit seiner Gott-Losigkeit, nicht nur isoliert und in Stich gelassen von seiner Gemeinde, der er allein als Prediger dienen darf, wie das Gesetz es befiehlt.«

Max von der Grün bekennt im Südfunk 2: »Die Geschichte hat mich aufgewühlt, die Trostlosigkeit des Dorfes und seiner Menschen haben mich fragen lassen, was denn nun der Sinn einer solchen Existenz eigentlich sei, denn das ist doch kein Leben, höchstens ein Vegetieren […] Eine deprimierende Geschichte – aber ein gutes Buch.«

Paul Konrad Kurz ist 1986 beeindruckt, wie konzentriert »Lange die Erkenntnis, Sinn, Gottesfrage« stellt bedauert aber, »daß der Autor seine Frage mit so wenig Welt, so wenig Bildungsgeschichte (Pascal und Russell bleiben, genauer betrachtet, Zitat), mit so wenig sozial-psychischer Personengeschichte gebaut hat.« Jurgensen beobachtet 2003 Reminiszenzen an Figuren von Thomas Bernhard. Hertling erkennt 1994 in der Elbe eine »Grenze zwischen gesellschaftlicher Utopie und individuellem Nihilismus […] nicht als technisch aufgetakelte Barbarei charakterisiert, sondern als Zwischenreich von Traum und Wirklichkeit.«

Zu den literaturwissenschaftlichen Betrachtungen des Romans gibt es ergänzend eine gesellschaftspolitische Dimension, die der Schriftsteller und Historiker Karsten Krampitz in seinen Studien 1976. Die DDR in der Krise und Der Fall Brüsewitz. Staat und Kirche in der DDR untersucht. Dort ordnet er die reale Selbstverbrennung und ihre Folgen auf mehreren hundert Seiten in die damalige Gegenwart der DDR ein, beobachtet das Verhältnis der Partei zur literarischen Öffentlichkeit, die Stellung der evangelischen Kirche und die geschmacklosen Reaktionen im SED-Parteiorgan Neues Deutschland. Im Kommentar Du sollst nicht falsch Zeugnis reden vom 31. August 1976 wird Brüsewitz dort auf eine Weise diffamiert, die sogar in Parteireihen für Entsetzen sorgt. Diese Diffamierungen werden in der Novelle durch die Reaktion Semperts gespiegelt.

Lediglich als Fußnote bezieht sich Krampitz in Der Fall Brüsewitz auf Die Selbstverbrennung: »Im Jahr 2006 habe ich Hartmut Lange zweimal in seiner Berliner Wohnung besucht. Ohne dass dieser Schriftsteller irgendwelche MfS-Akten studiert hat oder mit Menschen gesprochen hat, die Brüsewitz kannten, trägt er sich mit der festen Überzeugung, dass Brüsewitz an der Kierkegaard’schen ›Krankheit zum Tod‹ gelitten hat und an der Angst, dass Gott nicht existiert. Womit er womöglich sogar Recht hat.«

Die Selbstverbrennung ist poetisierte Philosophie, beginnend bei den Namen der Hauptfiguren. Im Pfarrer Martin Wilhelm Koldehoff werden Martin Heidegger, Friedrich Wilhelm Nietzsche und Søren Kierkegaard gespiegelt, und da der Predigttitel »Bewußtsein als Verhängnis« genannt wird, spricht viel dafür, dass der Anfangsbuchstabe von Sempert keinesfalls zufällig gewählt ist, sondern bereits auf die Suizidnovelle Seidel vorausweist.

Das Feuer und das Verbrennen rekurrieren auf Blaise Pascals Mémorial, 1654 nach einer mystischen Erfahrung geschrieben, hernach vom Philosophen in seinen Rock eingenäht, in dem zu lesen ist: »Feuer / Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten.« Es ist eine Anspielung auf den brennenden Dornbusch in Exodus 3,6. Die Erfahrung der Schau Gottes wird bei Pascal mit einem Feuer verglichen.

Dieser überlieferten Geschichte aus dem 17. Jahrhundert Rechnung tragend, erscheint in verschiedenartiger Weise das Feuer in Die Selbstverbrennung; beim Anzünden einer Zigarette, im Kachelofen, in der Thematisierung der Tat Oskar Brüsewitz’, in einer makabren Suizidandrohung Koldehoffs, und in Bezug »auf Semperts Krankheit, die durch ein hohes Fieber gefährlich wird«.

Die Selbstverbrennung ist eine Pascal-Novelle, von Lange in Meine Realitätserfahrung als Schriftsteller auch so beschrieben. Oft wird direkt oder indirekt auf den französischen Philosophen angespielt. Ein Beispiel: Pascal untersucht die Sphären von logos und raison du cœur sowohl in seinem mathematischen, als auch in seinem philosophischen Werk. In Langes Novelle sind diese Sphären getrennt. Es gilt: »Alle Neugierde zerstört den Menschen, es hilft nur der Glaube, denn es gibt keine andere Wahrheit als Gott.« Wie Pascal zweifelt Pfarrer Koldehoff angesichts seiner kontingenten Existenz. Er schreibt an seinen eigenen Pensées, also nicht an einem zusammenhängen Buch, sondern stattdessen »diesen und jenen Gedanken auf.« Sogar jenes Zitat, das über Koldehoffs Bibliothekseingang steht, ist »wohl eine Anlehnung an Pascal.«

Zahlreiche Belege zeigen, dass nahezu alle Themen und Gedanken späterer Novellen in Die Selbstverbrennung verhandelt werden. Die Abwendung von Hegels Geschichtsdialektik ist ebenso deutlich, wie die Beschäftigung mit Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger und Alfred Seidel. Die Novelle beschreibt zahlreiche Außenseiter, schildert eine schlechte Liebesbeziehung, zeigt das Sein zum Tode ebenso wie die existentielle Angst, das Leben mit Grenzen bzw. Grenzübertritten und bedient sich des Motivs vom Verschwinden. Nicht nur Sempert verschwindet zweimal aus Bernede, auch Koldehoff ist permanent abwesend.

In Die Selbstverbrennung werden bereits Landschaften der Melancholie inszeniert und das Recht der Toten auf Anwesenheit im Kreis der Lebenden. Es gibt aufgrund der Umarbeitung des Stücks Pfarrer Koldehoff einen Rückgriff auf die Theaterarbeit Langes. Frühe Kindheitserlebnisse werden in autofiktionaler Weise aktualisiert. Diese Novelle geht bereits weit zurück in die Werk- und Lebensbiographie von Hartmut Lange und verweist beispielsweise auf Marski, sein erstes Stück, das dazu führte, dass Lange, wie sein Held Sempert in Die Selbstverbrennung der DDR für immer den Rücken kehrte.

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