Waren die Brüder Grimm fürchterliche Antisemiten? Ein gerade in der Monatszeitschrift Merkur erschienener Essay des Schriftstellers Gerhard Henschel kommt zu einem unguten Fazit – und fordert weitere Forschungen über die Hanauer Märchensammler.

In der schüchtern-unverfänglich klingenden Rubrik „Marginalien“ veröffentlicht der Schriftsteller Gerhard Hentschel („Arbeiterroman“, „Erfolgsroman“ usw.)  einen außerordentlichen Text in der aktuellen Ausgabe von „Merkur. Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“. (Hier geht es zur Onlineversion, die textidentisch ist, und nur in der Zuordnung fehlerhaft – „Das Judenbild der Brüder Grimm“ ist nicht in der Oktober-, sondern in der Novemberausgabe des Merkur zu finden.)

Henschel wundert sich zu Beginn seines Textes, denn „Heinz Rölleke, der hochverdiente Nestor der Märchenforschung, schrieb 2007 in einem Aufsatz, man sage den Brüdern Grimm ‚zuweilen unbesehen, einigermaßen töricht und ganz zu Unrecht’ Antisemitismus nach.“

Henschel weiter: „Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Rölleke selbst Wilhelm Grimms Wiesbadener Kurtagebuch von 1833 herausgegeben hat, in dem es heißt: ‚Ich bemerke nur daß die Juden immer mehr überhandnehmen, ganze Tische u. Plätze sind damit angefüllt, da sitzen sie mit der ihnen eigenen Unverschämtheit, fressen Eis u. legen es auf ihre dicken u. wulstigen Lippen, daß einem alle Lust nach Eis vergeht. Getaufte Juden sind auch zu sehen, aber erst in der 5ten oder 6ten Generation wird der Knoblauch zu Fleisch.’“

Juden stopften ihm den Mund

Nun war es Rölleke selbst, dem es in seiner Forscherkarriere gelungen war, die Märchen aus den Klauen nationalsozialistischer Vereinnahmung zu befreien – er ist der Letzte, der Judenfeindlichkeit absichtlich verschweigen würde. Doch damit sein Vorwurf Röllekes, über Antisemitismus der Brüder Grimm werde „zuweilen unbesehen, einigermaßen töricht und ganz zu Unrecht“ gesprochen, entkräftet werden kann, listet Henschel auf neun Seiten zahlreiche Fundstellen auf, berichtet beispielsweise, dass Wilhelm Grimm dem Rechtshistoriker Paul Wigand mitgeteilt hat, „er habe ein ‚altes Huhn’ gegessen, ‚das so zäh war und hartherzig wie ein alter geiziger Jude’.“ Er weist hin auf die Kolportage der antisemitischen Legende vom Ritualmord am Christenkind Anderl von Rinn aus Tirol, das bereit unappetitlich beginnt mit den Worten:

„Im Jahr 1267 war zu Pforzheim eine alte Frau, die verkaufte den Juden aus Geiz ein unschuldiges, siebenjähriges Mädchen. Die Juden stopften ihm den Mund, daß es nicht schreien konnte, schnitten ihm die Adern auf, und umwanden es, um sein Blut aufzufangen, mit Tüchern. Das arme Kind starb bald unter der Marter und sie warfens in die Enz, eine Last von Steinen oben drauf.“

Antisemitismus war üblich

Nun könnte man diese und etliche weitere Belege tatsächlich, der ihr zugeordneten Merkur-Rubrik entsprechend, marginalisieren, also einordnen in den ubiquitären Judenhass der Romantikzeit; wenn der Antisemitismus der Brüder Grimm längst erforscht sei. Das ist mitnichten der Fall, auch deshalb, weil zahlreiche Briefe bislang nicht ediert wurden, und auch, weil die Germanistik nach 1945 das Thema nicht einmal mit spitzen Finger anfassen wollte. Henschel schreibt:

„Der erste Germanist, der sich mit dem Judenbild der Brüder Grimm beschäftigte, war Wilhelm Schoof (1876–1975). Das Leitmotiv, dem er dabei folgte, klingt in einem Artikel an, den er am 3. Januar 1935, einen Tag vor Jacob Grimms 150. Geburtstag, im Hanauer Anzeiger veröffentlichte. Darin stellte Schoof sich auf den Standpunkt, dass ‚Jacob Grimm von den gleichen Gedanken beseelt war und um das selbe Ziel gerungen hat wie Adolf Hitler’.“

Ein hermeneutischer Extremfall

Etliche Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind von den Nationalsozialisten vereinnahmt worden. Darunter auch vollkommen zu Unrecht beispielsweise Wilhelm Raabe, über den gerade erst Hubert Winkels in dem bei Wallstein, Göttingen erschienenen Band „Raabe und heute“ schreibt, dass die Raabe-Behandlung im Zuge einer nationalpädagogischen Ertüchtigung ins Absurde eben da verdreht wurde, wo ausgerechnet der kapitalismus- und kolonialismuskritische Autor zur Galionsfigur deutsch-nationaler Gesinnung und Befindlichkeit gemacht wurde. Winkels schreibt:

„Mit dem ‚Hungerpastor’ im Sturmgepäck ging es zehntausende Mal in den ersten Weltkrieg, mit der ‚Schwarzen Galeere’ im Deutschunterricht lernte man den Aufstand der Niederländer gegen die spanischen Habsburger partisanenhaft zu deuten (…) schließlich gar den Kampf von Freicorps und SA um die Macht in der Weimarer Republik. Ein hermeneutischer Extremfall.“

Ähnliches kann nun, Dank Gerhard Henschel, über die Brüder Grimm gesagt werden. Wir haben einen hermeneutischen Extremfall – und in Zeiten steigenden Antisemitismus einen klaren Forschungsauftrag an die Germanistik. Heinz Rölleke, übernehmen Sie!

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