Früher wurde die Macht-, nun aber die Gewaltfrage gestellt. Von Mikroaggressionen bis hin zu struktureller Gewalt, von emotionalem Missbrauch bis zu Studien über häusliche Gewalt reichen die Debatten unserer Tage. Die vier hier präsentierten Bücher bilden auch deshalb einen je unterschiedlichen Aspekt ab, mit Matias Faldbakkens Geschichte, die kulturell zwischen Mod Riots und Chaostagen der 1980er wurzelt über Margaret Atwoods beklemmender „The Handmaid’s Tale“-Dystopie bis zu US-amerikanischen Hegemonialphantasien seit den Zweiten Weltkrieg und den philosophischen Betrachtungen von Daniel-Pascal Zorn reicht dieses Spektrum, das trotz seiner enormen Spannweite selbstverständlich nur einen kleinen Ausschnitt abbilden kann.

EINS Die 80-jährige Margaret Atwood ist ein Popstar. Ihr Instagram-Account hat 105.000 Follower. Die Hulu-Serie „The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd“ nach Atwoods gleichnamiger, 1985 erschienenen Roman-Dystopie, wurde mit Emmy- und Golden Globe Awards überschüttet. Weltweit berichtet wurde im Juni dieses Jahres über die „Handmaid’s Tale“-Party von Kylie Jenner, bei der sich die Gäste in der misogynen Tracht von Atwoods unterdrückter Hauptfigur verkleideten. Das gab einen Shitstorm, denn der Roman erzählt von der fiktiven Republik Gilead, in der Frauen unter anderem als Gebärsklavinnen domestiziert werden. In Zeiten von Donald Trumps Abtreibungsgesetzen und #metoo kein Anlass für Vanity-Fair-Maskeraden. Als vor wenigen Wochen die Roman-Fortsetzung unter dem Titel „Die Zeuginnen“ erschien, öffneten Buchhandlungen punkt null Uhr für ihre wartenden Fans, wie einst beim „Harry Potter“-Hype. Amazon lieferte das Buch widerrechtlich zu früh aus. Kurzum: Atwood und „Der Report der Magd“ sind ein weltweites Medienphänomen, hochgeschätzt vom Feuilleton bis zur Klatschkolumne. Der Nachfolgeband, für den man wenigstens die Volker Schlöndorff-Kinoverfilmung von 1990 gesehen haben sollte, berichtet aus der Sicht dreier Erzählerinnen von jenen, die fliehen konnten, von Exilantinnen, die für die Freiheit ihrer zurückgebliebenen Geschlechtsgenossinnen kämpfen;

und einige der offenen Fragen von Band Eins werden geklärt. Im spannungsgetriebenen Thriller-Stil erfahren wir von den letzten Tagen Gileads, und von Demonstrationen der vermeintlich freien Welt, die sich gegen den faschistoiden Protestantismus des stark an den IS erinnernden Staats auflehnen. Wir werden konfrontiert mit einem Puzzle aus Protokollen, Erinnerungen und etlichen Archivalien dieser grausamen Theokratur. Wir lauschen und spitzeln mit, wir fliehen und fürchten uns. Der erhobene Zeigefinger ist Atwoods Geste nie gewesen – sie setzt lieber auch Schockeffekte, und bleibt als Meisterin zahlreicher Untergangsphantasien eine der lebendigsten und geistig jüngsten Schriftstellerinnen der angelsächsischen Gegenwartsliteratur. Was hat Günter Grass nochmal geschrieben, als er so alt war wie sie? Das Erinnerungsbuch „Beim Häuten der Zwiebel“. Just sayin’. (Margaret Atwood: „Die Zeuginnen“, übersetzt von Monika Baark, Piper, 576 Seiten, 25 Euro)

ZWEI Matias Faldbakken, der wahnsinnige Gesellschaftspornograph aus Oslo, beunruhigt nach seinem Debüt „The Cocka Hola Company“ und dem absolut gewaltigen Roman „Macht und Rebel“ jetzt mit seinem Splatterbuch „Unfun“. Er bezeichnet das Buch als Abschluss seiner Trilogie. Es ist ein hartgesottenes Finale herausgekommen, bei der zum Ende alle Figuren im großen Blutbad untergehen werden. „Unfun“ erzählt von Slaktus, einem erfolglosen Splatterregisseur, der eine ziemlich ekelige Egoshooter-Geschichte produziert, in der ein Nigerianer mit seiner Steinsäge durchs nächtliche Paris zieht und Leute niedermäht. Zuhause ist Slaktus nicht weniger zimperlich. Seine von ihm ständig malträtierte Gattin Lucy nennt ihn einen „Gewaltintellektuellen“, denn „genau wie die Japaner ein Wort für Frauen haben, die von hinten gut aussehen, aber nicht von vorn, sollte es ein Wort geben für Leute, die klug aussehen, es aber nicht sind.

Und umgekehrt: ein Wort für einen Mann, der dumm aussieht, aber eigentlich verdammt klug ist. Slaktus gehört zur letzteren Kategorie.“ das klingt zwar nach einem ebenso schwierigen wie spannenden Zeitgenossen, reicht aber kein Stück, um Lucy auf Dauer zu faszinieren. Er geht ihr auf die Nerven, weshalb sie mit ihren beiden zurückgebliebenen Söhnen abhaut und als praktizierende Anarchistin versucht, den Jungs ein alternatives Leben zu ermöglichen. Warum das grandios scheitern muss, was die amerikanische Stimme von Homer Simpson damit zu tun hat und warum der schwarze Starschauspieler Taiwo ein „post-noble savage noble savage“ ist, klärt Matias Faldbakken in diesem krassen, manchmal tatsächlich extrem unlustigen, dann wieder bewundernswert bizarren Roman mit einer Menge Verve und Wut im Bauch. (Matias Faldbakken: „Unfun“, Blumenbar, 265 Seiten, 19,90 Euro)

DREI Wie die USA Weltmacht wurde erzählt diese Biographie anhand dieses skeptischen Wegbereiters des „American Way Of War“. Prometheus brachte den Menschen das Feuer. J. Robert Oppenheimer zeigte, wie dieses Feuer beherrscht werden kann. Der hochbegabte, doch nie mit dem Nobelpreis ausgezeichnete US-Amerikaner entwickelte während des Zweiten Weltkriegs die Atombombe. Nach Hiroshima und Nagasaki wendete er sich gegen einen weiteren Einsatz. 25 Jahre wurde für dieses Pulitzer-Preis gekrönte Buch recherchiert. Entstanden ist eine Analyse, die seltener eher literarisch denn physikalisch den Zweispalt eines bekennenden Patrioten und linken Pazifisten beleuchtet, das Leben eines Mannes, der als „Mr. Atomic“ umjubelt, als Kommunistenfreund verleumdet, später rehabilitiert wurde. Episch. (Kai Bird, Martin J. Sherwin: „J. Robert Oppenheimer: Die Biographie“, übersetzt von Klaus Binder und Bernd Leineweber, Propyläen, 672 Seiten, 29,95 Euro)

VIER Permanent arbeiten wir daran, das Geheimnis der Gewalt zu lüften. Unüberschaubar erscheinen die Angebote an True-Crime-Podcasts, Psychopathenportraits, Opfergeschichten und Narcissistic Abuse-Ratgebern. Bestseller-Philosoph Daniel-Pascal Zorn („Mit Rechten reden“) ist es gelungen, einen neuen Zugang zu finden, indem er die Gewalt auf der einen und das Geheimnis auf der anderen Seite zusammenbringt. Seine Frage ist groß: „Was ist das Geheimnis der Gewalt? Warum entkommen wir ihr nicht, obwohl wir es seit Menschengedenken versuchen?“ Sein essayistisches Buch erzählt von Horrorfilmen, von Game of Thrones, Sündenböcken und seelischem Vampirismus. Zorn begründet, warum wie in einem Comic die Gewalt, die man gerade zur Haustür herausgeworfen hat, zur Hintertür wieder hineinkommt. Wir versuchen, gewaltfrei zu kommunizieren, unser Gegenüber zu achten, und das sogenannte Gewaltmonopol wurde dem Staat übertragen. Gewalt wird geächtet und aus unserem öffentlichen Leben verbannt. Dennoch findet sie permanent statt – im Verborgenen, dort, wo sie am mächtigsten ist.

In Geheimgefängnissen wird weiterhin gefoltert, und häusliche Übergriffe finden ihre größte Sichtbarkeit, wenn über Dunkelziffern berichtet wird. Gewalt verbirgt sich in allen Bereichen. Home Office und kostenlose Smoothies sind in der Arbeitswelt ein Trostpreis für ständige Verfügbarkeit, für unbezahlte Überstunden und andere Maßnahmen, die wir akzeptieren, um unseren Job zu behalten. Diese Gesellschaft funktioniert, und wir funktionieren, weil uns permanent Gewalt angedroht wird: vom Gefängnis bis zum Shitstorm im Internet. Dabei ist eine unsichtbare Bedrohung wirkungsvoller als ein deutlich vor uns stehender Löwe; was jeder weiß, der schon einmal allein und des nachts durch einen harmlosen Wald gegangen ist. Was wir nicht sehen ängstigt uns umso mehr. Daniel-Pascal Zorn hat inspirierendes Buch geschrieben über Gewalt und Gegengewalt und die Gegengewaltgewalt, über scheinbar unsichtbare, über absurde, über vollkommen neue Formen von Gewalt: und darüber, wieviel Gewalt es manchmal braucht, um mit der Gewalt, die uns trifft, irgendwie umzugehen. (Daniel-Pascal Zorn: „Das Geheimnis der Gewalt“, Klett-Cotta, 204 Seiten, 20 Euro)

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