Das 2010-Archiv: Fukú americanus und T.C. Boyle

Junot Diaz’ Debüt, Bastienne Voss’ „Mann für Mann“ und Arnon Grünbergs „Mitgenommen“ bilden das Jahresarchiv von 2010, als der Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa hieß, Argentinien Ehrengast war auf der Frankfurter Buchmesse und Reinhard Jirgl den Büchnerpreis verliehen bekam.

Sieben Literaturauszeichnungen, darunter den renommierten Pulitzerpreis hat Star-Autor Junot Diaz für seinen Roman „Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao“ verliehen bekommen. „Mir fällt kein Roman in letzter Zeit ein, der diesem das Wasser reichen würde“, sagt Nick Hornby („High Fidelity“, „Slam“) und die New York Times schwärmt von einer „der unwiderstehlichsten Stimmen der Gegenwart.“ Sogar Vergleiche mit Kanye West musste sich dieses Buch gefallen lassen – vielleicht, weil ein paar Kraftausdrücke vorkommen. In der Übersetzung von Eva Kemper ist jedenfalls kein HipHop-Einfluss nachweisbar (als der Roman 2008 erschien, war Kanye West noch eine Art Rapper), was seine Durchschlagkraft keinesfalls schmälert. Junot Diaz‘ Erzähler berichtet von einem verfluchten Leben, vom absolut trostlos verpfuschten Dasein des Super-Loosers Oscar Wao. Seine Familie leben als Einwanderer in New Jersey, dem amerikanischen Fluch (fukú americanus) in ihrer Heimat, der Dominikanischen Republik entflohen. Während Oscar als dicker Außenseiter im Kreis seiner Machokameraden aufwächst – hier dem Aussenseiter-Oscar aus Günther Grass‘ „Die Blechtrommel“ nicht unähnlich – zieht Unheil am Horizont hinauf. Der Manga-Freak und Damenschreck verknallt sich in die falschen Frauen, legt sich mit düsteren Gangstern an („Unser Knabe war kein Ringgeist, aber er war auch kein Ork.“) und landet in seinem Heimatland gleich mehrmals im Zuckerrohrfeld, wo er übelst verdroschen wird. Die Geschichte dieses Oscars wird selten direkt, sondern immer über die Geschichte anderer Weggefährten erzählt, der Held des Buch wirkt wie ein schwarzes Loch, das man ebenfalls nicht sehen, aber mithilfe der Bewegungen seiner Nachbarsterne und -planeten finden kann. So erfährt man eine Menge über die (finstere) dominikanische Geschichte der vergangenen Jahrzehnte, über das Leben als Ausgestoßener in den USA und warum man in manchen Momenten die Klappe halten sollte, obwohl man die richtige Antwort weiß.

”Giftige Kleider“ beschäftigen Undercover-Ermittlerin Gina Sonnenfels im ersten Fall der “Fashion Victims“-Krimiserie von Sabine Scholl. Gina ist Ex-Model, Szenegängerin, Miu Miu-Sonnebrillenträgerin, die “schon während der langen Wartereien in ihrem Modeljob und beim vielen Herumstehen auf Partys bemerkt hatte, dass sie gerne zuhörte, Menschen nachforschte, ihre Geschichten sammelte, ihre Verwicklungen studierte.“ Nun soll sie den Mord an einer österreichischen Botschaftsmitarbeiterin aufklären, die während der Berliner Touristikmesse mit ihrem Dirndl in Flammen aufgegangen ist. Und zehn Tage lang geht es quer durch Moderedaktionen, durch In-Gaststätten von Berlin und Wien, zu Treffen bei Trend-Dirndl-Coutiers und Sex-Dates mit charmanten Ökofreaks. Wenn man kaputt nach Hause kommt und eigentlich nur Fernsehserien gucken will, ist dieses leichte, doch nicht oberflächliche Buch zehnmal lohnenswerter. Entspannung par excellence. (Sabine Scholl: “Giftige Kleider“, Deuticke, 280 Seiten, 17,90 Euro)

„Er lebt von Stütze, verflucht noch mal; er kommt frisch aus dem Knast, du weißt nicht das Geringste über ihn.“ Mr. Blond der neue Lover dieser jungen Heldin steht für Gefahr.  Aber er riecht verführerisch nach „nassem Asphalt, Alk und Zigaretten“, und zwingt seine Liebste in erotische „Abenteuer“. Die wird damit kein bisschen fertig. Sie hungert, nicht nur nach diesem seltsamen Kerl, nein: sie wird immer dünner. Sie betrinkt sich bei Blind Dates, die ihre beste und einzige Freundin Alison arrangiert hat, um sie vom bedingungslosen Mr. Blond wegzulocken. Ihre Eltern sorgen sich: Gibt es einen Ausweg, bevor Job, Freunde, Mum und Dad für immer verschwunden sind? Was folgt, kann man getrost „Show-Down“ nennen. „9 1/2 Wochen“ und „Basic Instinct“ im „Working Class“-Ambiente mit „Sex & The City“-Girltalk: das ist eine interessante Mischung. Erotisch. Verwirrend. Krass. (Deborah Kay Davies: „Bedingungslos“, übersetzt von Simone Jakob, Kein & Aber, 222 Seiten 18,90 Euro)

Die Berliner Grafikdesignstudentin Alexandra Klobouk ist nach Istanbul gefahren um dieses wunderschön gestaltete Buch mitzubringen. Eigentlich wusste sie nichts über die Türkei und ihre Bewohner, wie vermutlich den meisten Lesern von „Istanbul mit scharfer Sauce?“ Gute 100 Seiten später kann jeder die ersten Brocken Türkisch („Hey Güzelim“ heisst „Hey meine Schöne“), weiss, wie türkischer Kaffee gekocht wird und dass türkische Studentinnen das Kopftuchverbot an der Uni mit einem karnevalesken Trick umgehen: Sie ziehen einfach eine blonder Perücke über ihre echten, glänzenden Haare. Vom Bürokratiewahn bis zur Verehrung des Staatsgründers Atatürk, von den süßesten Speisen bis zu dem Brotkuss – dieses lässige Büchlein sieht nicht nur gut aus und ist verdammt informativ – es macht auch jede Menge Spass. (Alexandra Klobouk: „Istanbul mit scharfer Sauce?“ Übersetzung der türkischen Passagen: Güler Türker & Pelin Türker, Onkel & Onkel, 114 Seiten, 14,95 Euro)

„Sibylle tat alles, was Hesse verlangte, und das wurde immer mehr.“ Eine DDR-Schülerin verknallt sich in den Ex-Liebhaber ihrer Mutter, der nicht nur heisst wie ein berühmter Nobelpreisträger, sondern sich auch als Steppenwolf fühlt, „tief in seinem Innersten vereinsamt.“ Hesse ist einer von vielen Affären, die Sibylle während ihres Erwachsenwerdens becirct. Darunter sind ein Regisseur, der aussieht wie Chansonnier Jacques Brel, der schmierige Journalist Arndt-Axel und der melancholische Russe Igor. Drei Männer, die ihren ganz persönlichen Weg vom Osten über den Mauerfall, rüber in den freien Westen begleiten – wo die Schauspielerin Sibylle später als intrigante Schmuckdesignerin in der Vorabendsoap „Ebbe und Flut“ semigross rauskommen wird. – Die jüngste deutsche Geschichte als Liebesroman – unterhaltsam, kribbelnd erotisch, perlender als Ostsekt, Mann für Mann eine Amor fou. (Bastienne Voss: „Mann für Mann“, Piper, 248 Seiten, 16,95 Euro)

Hausierer hauen Hessen übers Ohr und rächen sich gewitzt für zwölf Jahre Feigheit, Hetze, Duckmäusertum. Riesenspass! David Bermann, der begnadete Einstein unter den Teilachern (jiddisch für „Hausierer) ist tot. Sein Neffe Alfred sortiert erst die Sachen, dann das Leben dieses Weitgereisten, der mit seinen Wäschepaketen durchs zerstörte Nachkriegsdeutschland tingelte, wo er mit seinen Kollegen Tür für Tür den alten Vorurteilen begegnete. Die Teilacher sind ein zusammengewürfelter Haufen schlitzoriger Holocaustüberlebender, die kurz Kasse machen wollen – und dann ab nach Palästina, wie die anderen Flüchtlinge, was eine hessische Hausfrau zu dem unschuldigen Satz drängt: „Die Judde wisse halt immer, wo‘s schön ist, gell?“. Der Hamburger Drehbuchautor Bergmann beschreibt die Zeit von den 20er bis 70er Jahre melancholisch, actiongeladen, slapstickbestück – gekauft! (Michel Bergmann: „Die Teilacher“, Arche, 292 Seiten, 19,90 Euro)

David Shrigley ist einer der hippsten Künstler Großbritanniens. Sein Werk umfasst Skulpturen, Gemälde, Animationen, Texte und Fotografien, er hat Videos für Blur und Bonnie Prince Billie animiert. 2005 brachte er eine Platte ohne Musik heraus, nur das Cover und Texte, die kurz danach vertont wurden – unter anderem von Hot Chip, Grizzly Bear, Franz Ferdinand, David Byrne, TV on the Radio und Scout Niblett. Die von Shrigley in Zusammenarbeit mit Karsten Kredel und Beeke Hellers konzipierte Best-of-Sammlung stellt Fotos und (Comic-)Zeichnungen auf 352 Seiten zusammen und verspricht eine Stunde unendlich großen Spaß. Das fängt an bei naiven Kommentaren zur sinnlos gehypten Kunstszene, wenn fiktive Künstler über ihre Arbeit faseln: „Ich male meine Bilder nicht selbst, ich lasse sie von ein paar behinderten Kindern malen….“ bis zu: „Ich streife an den Wochenenden durch die Kneipen, fange absichtlich Streit an und lasse mir die Fresse polieren, während ein Freund von mir filmt.“ Es gibt absurde Lebensweisheiten („Ich bin glücklich, du bist glücklich, Totenkopf ist glücklich, wir alle sind glücklich“) bis zu absurden Fotos wie dem roten Schild auf grünem Rasen mit der irre machenden Aufforderung: „Imagine the Green is red.“ Cleverer, als es auf den ersten Blick aussieht. (David Shrigley:  „Äh, was machst du das eigentlich?“ Eichborn, 352 Seiten, 24,95 Euro)

Man soll nicht über das Wetter reden. Das gilt als unhöflich. Heute geht es nicht anders. Der 1980 geborene US-Amerikaner Shane Jones hat mit “Thaddeus und der Februar” einen Debütroman hingelegt, der in einer Auflage von wenigen 100 Exemplaren erschien, dann zum Hit avancierte – und jetzt hat sogar Kultregisseur Spike Jonze (”Being John Malkovic”) zugegriffen und sich die Filmrechte gesichert. In Shane Jones‘ fiktiver Welt herrscht seit mehreren hundert Tagen Februar. Die Menschen leben im ewigen Schnee, unter dichten Wolken: “Es ist von einem Krieg die Rede.” Denn mit dem Februar kamen die ersten Befehle: Niemand darf in den Himmel fahren, niemand darf über die Wolken schauen, Zuwiderhandlungen werden bestraft. Eine Widerstandsgruppe (mit Vogelmasken geschützt, die an alte Pestmasken des 17. Jahrhunderts erinnern) will das nicht länger hinnehmen und versucht, mit langen Himmelsstangen, mit selbstgebauten Ballons und mit aggressiven Demonstrationen gegen den Februar und seine Schergen anzukämpfen. Doch an die brutalen Folgen hat niemand gedacht… Absolut magisches Debüt. (Shane Jones (Autor) Ria Brodell (Illustratorin): “Thaddeus und der Februar”, übersetzt von Chris Hirte), Eichborn, 176 Seiten, 16,95 Euro)

„Auf der Suche nach einem Plan – oder irgendwie sowas“: Wenn an Bewegung nicht einmal zu denken ist wird Faulenzer-Ikone Horst Evers zum idealen Lümmelpartner. In 45 kurzen Geschichten schreibt der aktuelle deutsche Kleinkunstpreisträger über den Wahnsinn seines kleinen Berlin-Wedding-Alltags. Der schusselige Horst scheitert und wir schauen grinsend zu: Wenn er heute beim Bäcker ein Brot von gestern für morgen vorbestellen will, wenn er nach seiner verlegten Mütze im Internet googelt oder wenn er intime Freundschaften mit seinen Krankheiten pflegt. „Mein Leben als Suchmaschine“ ist absurd und immer leicht zu lesen, es ist ein bisschen naiv, ein bisschen bauernschlau – aber hochsympathisch, warm und witzig. Diese Geschichtensammlung erfrischt wie eine Kanne kühler Zitronentee auf Eis. (Horst Evers: „Mein Leben als Suchmaschine“, Eichborn, 144 Seiten, 12,95 Euro)

Nicht jede Kilokalorie kostet das gleiche Geld. Wer sich beim Rucola bedient, zahlt 4,39 Cent je Kalorie, bei der Dr. Oetker Pizza Hawaii sind es immer noch 0,36 Cent und beim Weizenmehl Typ 405 gerade einmal 0,02 Cent. Zahlen wie diese präsentiert „Die grosse Jahresschau – Alles was 2010 wichtig ist (Knaur, 240 Seiten, 12,95 Euro). In doppelseitigen Infografiken zeigen die ZEITmagazin-Autoren Matthias Stolz (der einst den Begriff „Generation Praktikum“ erfand) und Ole Häntzschel (Goldmedaille der Society of News Design) auf einen Blick, dass zum Beispiel: 7000 Todesfälle in den USA jährlich vermieden werden könnten, „wenn Ärzte die Rezepte für ihre Medikamente nicht so unleserlich von Hand schreiben würden“, dass „Super Illu“ die Begriffe „Liebe“ und „Sex“ im Verhältnis 1:11.5 verwendet, der „Playboy“ jedoch nur im Verhältnis 1:1,5. Und wenig später weiss man, dass 2 Prozent der Deutschen länger als 20 Minuten duschen, 3 Prozent den Berliner Bürgermeister Wowereit für ein Idol halten, bereits 43 Prozent Ostereier bemalen, und stattliche 99 Prozent die Marke „Tchibo“ kennen. In bunt ist das alles mehr als beeindruckend. Absoluter Durchblättertipp!

Zwischen Türkei und Deutschland pendeln die kleinen Stories und Prosaminiaturen von Björn Kuhligk, der mit einem entspannten Flug beginnt („Ich lese Robert Louis Stevensons ‚Der Flaschenkobold‘ durch und denke, ach ja, nett.“), dann, krasser Wechsel, von ungewollten Schwangerschaften und Liebesarrangements in Quebec erzählt, von Melancholikern („Er denkt, wie leicht es wäre, für Jahre hier zu sitzen und von der Gegenwart überholt zu werden. Es würde ihn nicht stören.“). Man trifft „Erste-Welt-Idioten“, dann geht es zum „Johnny Cash der Türkei“, der vor 400 Leuten „arabeske Musik“ spielt, die populär wurde zu einer Zeit, als staatliche Radiosender lediglich westlicher Musik spielen durften und große Teile der türkischen Bevölkerung auf arabische Sender auswichen: „Sodass bald eine subproletarische Musikrichtung entstand, die arabesk genannt wird.“ Alles neu. Dieses wunderschön gestaltete Buch glänzt mit allerbesten Sätzen, mit lyrischen Szenen, die sich nicht mit Rilke, Benn, Aichinger messen wollen, sondern für sich stehen können: „Sie winkte. Ihre Hand sah wie ein kleiner Vogel aus.“ (Björn Kuhligk / Illustrationen: Oliver Hummel: „Bodenpersonal“, Verlaghaus J. Frank, 102 Seiten, 18,90 Euro)

„Wir wissen, was du letzte Nacht getan hast“, drohen Axel Lilienblum und Anna Koch auf dem Cover des SMS-Sammelbuch „Du hast mich auf dem Balkon vergessen“. Seit November 2009 sammeln sich auf ihrer Website SMS, die man besser nicht abgeschickt hätte. Das reicht von harmlosen Varianten wie: „19:07 Shit, ich wollte grad Kondome kaufen, da kommt A. plötzlich an mir vorbei“ – 19:10 Supergau! Und jetzt?-  19:15 Jetzt habe ich ’ne neue Zahnbürste.“ bis zu deftigeren SMS-Dialogen der Art: „21:01 was ist los süße bst du irgendwie beleidigt oder so? 21:12 0)… nein ist schon ok bin nur ein bisschen enttäuscht weil du heute auf die sms mit dem welt-kuss-tag nichts gesagt hast … aber ist schon ok bin nicht böse ;-* 21:30 ach schnucki ^^… wenn demnächst welt-blowjob-tag ist bin ich wieder romantischer.“ Was das Buch zeigt, gibt es gleichzeitig auch online. Klingt sinnlos? Ist es aber nicht. Der Band ist eine großartiges WG-Partygeschenk und Homepages können eingehen (wie das nicht mehr verfügbare „ampool“-Netzprojekt von Sven Lager und Elke Naters – das gibt es nur noch als gebrauchte KiWi-Taschenbuchausgabe). Deshalb: zugreifen. Es lohnt sich. (Axel Lilienblum, Anna Koch: „Du hast mich auf dem Balkon vergessen“, Rowohlt, 272 Seiten, 8,95 Euro)

Ab wann ist ein Mensch ein Mensch? Mitfühlend erzählt T.C. Boyle vom Wildem und Edlen, von Sehnsüchten und Obszönitäten. Der 1797 in Südfrankreich gefundene Victor von Aveyron ist ein „Wolfskind“, allein im Wald aufgewachsen. Erst im Alter von neun Jahren wird er mit der Zivilisation konfrontiert. T.C. Boyle erzählt in seiner meisterhaft schlichten Erzählung von einem Jungen, der rohe Kartoffeln gekochtem Fleisch ebenso vorzieht wie spontanes Masturbieren bei Tisch elegant-französischen Umgangsformen. In diesem Bildungsroman avanciert ein scheinbar taubstummes, triebgesteuertes Tier zum bedingt eingliederungsfähigen „Cretin“, zum rudimentär denkenden, mitfühlenden, sich selbst erkennenden Wesen, zum (wenn auch leicht debilen) Bürger. Das ist komisch. Das ist aber auch tragisch. Dahinter steckt vor allem eine große Frage: Ab wann ist ein Mensch ein Mensch – und wie geht man um mit Personen, die nicht so recht in unsere Gesellschaft passen wollen? Eine sehr, sehr mitfühlende Erzählung. Damit verbundene ethische, sprachphilosophische und erkenntnistheoretische Diskurse nerven hier an keiner Stelle – sie verleihen einer kleinen Geschichte humanistischen Glanz. (T.C. Boyle: „Das wilde Kind“, übersetzt von Dirk van Gunsteren, Hanser, 110 Seiten, 12,90 Euro)

Wie sehr beeinflussen uns eigentlich Graffiti mit so unterschiedlichen Aussagen wie „Holy Shit Man“ oder „Kein Mensch ist illegal“? Wie kommunizieren wir mit diesen Texten, die anders als Zeitungsartikel, Blogeinträge, Beipackzettel zufällig in unser Leben treten und meistens ohne direkten Urheber-Hinweis auskommen? Für alle, denen Giwi Margwelaschwilis 2009 erschienener, 800-Seiten-Weltroman „Der Kantakt“ zu umfangreich gewesen ist – dieser Essay ist perfekt als Einstieg ins Werk des georgischstämmigen Schriftstellers. Giwi Margwelaschwili schreibt über Graffities, die andere Graffiti überdecken oder ihnen einen neuen Sinn geben – wie das „nicht“, das zwischen den beiden ursprünglichen Wörtern „Nazis“ und „raus“ eingefügt wurde. Woher kommt das Gefühl, die Mauer selbst könne sprechen? Wieso sind „Tags“ mehr als Unterschriften, sondern gerade wegen ihres ornamentalen Charakters bemerkenswert? Warum gab es in der Sowjetunion keine Graffiti und was fangen wir an mit diesem Spruch: „The best system is a soundsystem“? Ganz davon abgesehen, dass dieser kluge, kryptische Essay inspiriert – das eigentliche Ereignis ist das Alter dieses „Mauerzeitungslesers“. Giwi Margwelaschwili ist stolze 82 Jahre alt. (Giwi Margwelaschwili / Fotos von Alexander Janetzko: „Der verwunderte Mauerzeitungsleser“, Verbrecher Verlag, 80 Seiten 12 Euro)

„Wer eine Vorschrift verletzt, verletzt schnell auch die zweite. War er in einer einzigen Nacht zum Gesetzlosen geworden? So jemand ist nicht mehr als die Summe aller Gesetze, die er gebrochen hat. Letztlich also ein Krimineller. Wäre auch er am Ende nichts anderes? Die Summe der Vorschriften und Gesetze die er gebrochen hat?“ – Der südamerikanische Major Anthony steckt in Schwierigkeiten, seitdem er nach einem Einsatz die Waise Lina mit nach Hause genommen hat. Ihre Eltern wurden „aus Versehen“ von Anthonys Soldaten während eines fadenscheinigen Anti-Terror-Einsatzes erschossen. Aus Barmherzigkeit, und weil sich seine Frau immer ein Kind wünschte, nimmt der Major die Kleine zu sich. In seinem gewaltigen Roman „Mitgenommen“ berichtet der gebürtige Holländer Arnon Grünberg aus einer surrealen Paranoiawelt, in der obskure Terroristen gegen eine Militärdiktatur kämpfen, unschuldige Mädchen zu skrupellosen Waffenhändlerinnen heranreifen, von Volkstribunalen, Folterszenen, hysterischen Ehefrauen, pädophilen Geldwechslern und warum Armut eine Form von Gewalt sein kann. Arnon Grünberg, Jahrgang 1971, erregte bereits mit seinem mehrfach übersetzen Debütroman „Blauer Montag“ Aufsehen. Regelmäßig schreibt er Bestseller, dazu wöchentlich Kolumnen für angesehene Zeitungen, ihm wurden etliche Literaturpreise verliehen – es gibt Kreise, die den Wahl-New Yorker bereits als neuen „Woody Allen“ handeln. Ausnahmeerscheinung. (Arnon Grünberg: „Mitgenommen“, übersetzt von Rainer Kersten, Diogenes, 752 Seiten, 22,90 Euro)

Unsere Zivilisation hat in naher Zukunft zwei große Probleme. Zum einen sind alle Bienen tot, Pflanzen werden also nicht mehr bestäubt, die Agrarkultur verödet, Saft kann nur noch chemisch hergestellt werden, die Natur kippt – was ungefähr den Voraussagen führender Naturwissenschaftler entspricht, also durchaus nicht komplett an den Haaren herbeigezogen ist. Zum anderen wird, reine Spekulation, die halbe Welt abhängig und lässt sich vom Lieblingsmedikament „Solon“ sedieren, einem Psychopharmakum, das die Zeit schneller vergehen lässt. „Generation X“-Autor Douglas Coupland wirft eine semiwahnsinnige Anti-Utopie auf den Markt, die zwischen „World of Warcraft“, Neurohorror, Gossip, Webcamsodomie und Celebrityhass changiert. Dabei beginnt alles relativ harmlos. Ein junger Typ wird von einer Biene gestochen – allerdings ist er das erste „Opfer“ seit fünf Jahren. Es folgen vier weitere Bienenangriffe, die von mysteriösen Wissenschaftlern untersucht werden, das heisst: Quarantäne für die Gestochenen, die sogenannte „Generation A“. Während diese fünf Helden in der Welt da draußen zu Stars avancieren, erleben sie in absoluter Abgeschiedenheit ihren ganz persönlichen Alptraum-Trip, bei dem geklonte Hirne verspeist, Pest-Geschichten im schaurigen „Decamerone“-Stil aufgewärmt, und Flugzeuge zum Absturz gebracht werden. Wer wissen möchte, wie Ökosysteme, Google-Links und James Joyce‘ Romane zusammenspielen kommt bei Coupland auf seine Kosten. (Douglas Coupland: „Generation A“, übersetzt von Clara Drechsler und Harald Hellmann, Tropen-Verlag, 340 Seiten, 19,95 Euro)

Ihre Stimme klang im Radio wie ein angelaufener Silberlöffel. “Dido mit den schlanken Hüften. Wer verliebte sich in jenem Sommer nicht in sie?” – Elisabeth Hay erzählt über ein kanadisches Provinzradio, das 1975 von einer jungen, niederländischen Moderatorin durcheinandergewirbelt wird, angefangen beim alten Radiowolf Harry, der nach demütigenden Schleifen über eine abgesetzte TV-Show, den Alkohol, das Leben auf der Straße wieder dort gelandet ist, wo seine Medienkarriere einst begann. Nun verliebt sich Harry in Dido. Er ist ein großer Romantiker, der glaubt, Radio sei Poesie, “zumindest im besten Fall”. Und er hört auf zu trinken, will ein besserer Mensch werden, “um jeden Augenblick mit dieser wunderbaren Frau genießen zu können”. Er gewinnt seine nostalgische Jugend zurück, während draußen die Moderne mit aller Gewalt ausbricht, eine Pipeline durch Kanadas wunderschöne, unberührte Tundra gezogen werden soll, während Indianermädchen mit Alkohol betäubt und zur Prostitution gezwungen werden und das Fernsehen zum finalen Todesstoß gegen das Radio ansetzt (wir sind natürlich der Meinung, es habe nie gewonnen). Harry will, den Problemen zum Trotz keinesfalls aufgeben. Er will sein Glück festhalten, um jeden Preis. Doch dann verschwindet Dido eines Tages, einfach so. “Nachtradio” ist ein stiller Roman für die letzten Wintertage, ein leichtfüßiger Schmöker über verlorene Hoffnungen, Radiokindheiten und ganz viel Liebesmelancholie. (Elisabeth Hay: “Nachtradio”, übersetzt von Anke Caroline Burger, Schöffling, 428 Seiten, 24,90 Euro)

Eine Liebesgeschichte kann man auf viele verschiedene Weisen erzählen. Bei Ryan Boudinot geht es gleich ums Eingemachte: „Sperm & Egg“ heisst sein Roman und ist verdammt gutes Samstagabendkino, kein Klamauk – sondern eine Liebesgeschichte zwischen den Schulkameraden Kat und Cedar, die beginnt, als der Junge zum Mikroskopieren im Biounterricht einen Objektträger mit seinem Kindersperma mitbringt. Die Lehrerin schmeisst ihn raus. Doch von Kat wird er ab sofort bewundert. Sie nimmt den Objektträger mit Cedars Sperma als Erinnerung heimlich mit nach Hause. Das klingt ekelig, kein bisschen nach Liebe, aber es sind eben Samen und Ei, die immer wieder, aus verschiedenen Gründen in diesem Buch aufeinander treffen und zu teilweise katastrophalen Verwicklungen führen. Kat und Cedar kommen zusammen und stehen etliche Stürme ihrer Jugend durch, die mal hochdramatisch, dann wieder eher tragikkomisch sind. Wie die Szene, als Cesar seine geliebte Kat zu einem Treffen mit ihrem lang verschollenen Säuferdaddy begleitet, der sich echt ungeschickt bei ihr entschuldigen will: „Ich erwarte nicht, dass du mich magst oder so, ich weiß, dass ich beschissene Sachen gemacht habe….“ – „Du hast mir den Arm gebrochen“, sagte Kat. „Das war ein Unfall, Katty. Ich … Ja, okay, wie zum Beispiel deinen Arm zu brechen. Was ich überhaupt nicht wollte. Aber was für eine Scheißaktion, ja. Ich weiß, ein paar Worte auf dem Mund eines ehemaligen Säufers sind nichts wert, das weiß ich.“ Die Geschichte, aus mehreren Perspektiven erzählt, mit Zeitbrüchen, Slapstickeinlagen und Actionszenen ausgestattet, ist mindestens so wild wie das Cover. Ab jetzt wird es heiss. Bücher wie “Sperm & Egg“ braucht der Sommer am Strand. (Ryan Boudinot: “Sperm & Egg – Eine Liebesgeschichte“, übersetzt von Silke Jellinghaus, Rowohlt, 214 Seiten, 12 Euro)

Zusammen sind sie weniger allein, die beiden britischen Schüler Luke und Jon. Der eine hat seine manisch-depressive Mutter durch einen Autounfall verloren und lebt allein mit seinem Dad, einem Holzspielzeugbauer. Der andere, Vollwaise, hat sich in Zweckautismus zurückgezogen und erträgt seine senilen Messie-Großeltern. Die beiden freunden sich an, sind gegenseitig Stützen in einer schwierigen Zeit, die von Mobbing (Sonderling Jon wird von Mitschülern geprügelt, weil er Opaklamotten anzieht) über Alpträume (in Lukes Leben geht es permanent um tödliche Unfälle, Selbstmorde und Selbstmordversuche) bis zu Alkoholismus und Fettsucht reicht – ausreichend Stoff für zwei Dutzend Talkshow-Runden. Ausgezeichnetes Debüt. (Robert Williams: “Luke und John”, übersetzt von Brigitte Jakobeit, BvT, 192 Seiten, 8,95 Euro)

Im norddeutschen Worpswede wird der verstorbene Bildhauer Kück zum „Künstler des Jahrhunderts“ geehrt. Deutsche Helden wie Max Schmeling, Heinz Rühmann oder Martin Luther stehen bereits im Maßstab 1:1 für die Gedenkausstellung bereit. Da taucht das lang versteckte Bronzebildnis vom ersten NS-Reichsbauernminister auf und die weiße Künstlerweste ist befleckt. Spätere Verwicklungen begleiteten unter anderem ein dusseliger „Torfkopp“, der selbstverfassten Minnesang auf fremde Felder wirft und ein eifersüchtiger Ex-Liebhaber, der sich mit Gülle an einer Hochzeitsgesellschaft rächt. Im Dorfbordell blockiert derweil eine Gruppe Parkinsonkranker die besten Damen. Klonschaf Dolly stirbt. Die Geliebte von Gottfried Benn rastet aus. Willy Brandt isst Kuchen. – Großartige Mischung aus Provinzposse und Geschichtsdrama. Ein kluges und zum Versinken schönes Romandebüt aus dem Moor Worpswedes. (Moritz Rinke: „Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“, KiWi, 492 Seiten, 19,95 Euro)

Die Gletscher schmelzen, das Bankgeheimnis ist gefallen, die Swissair gehört schon lange zu Lufthansa und Integration ist nicht gerade das Lieblingswort der Eidgenossen: Die schöne Schweiz ist in die Bedrouille geraten. Der großartige Prachtband „Tour des Suisse“ wurde 2010 zur rechten Zeit vom bibliophilen Verlag „Wald + Graf“ veröffentlicht. Er inszeniert die Schweiz als Sehnsuchtsort, mit nostalgischen Tourismusplakaten der 1930er bis 1950er Jahre. Schon im nachgedruckten Vorwort des damals umfeierten Reisebuchautors Eugene Fodor (1905-1991) steht: „Die Schweiz ist das ideale Ferienland und stellt – in mehr als einer Hinsicht – eine Synthese des Besten dar, was Europa zu geben hat. Das Land bietet ein Höchstmaß an landschaftlicher Schönheit und Erholungsorten, an Gelegenheiten zu sportlicher Betätigung und an vielen anderen Reizen. Vor allem aber ist es ein Musterstaat.“ Auf den Plakaten reist man mit dem Schiff über den Genfer See, ins abendliche „Casino Municipal de Montbenon“ von Lausanne, mit der Bergbahn aufs 2045 Meter über dem Meeresspiegel liegende Montreux, dann über Ascona, St. Moritz, Davos. Zürich und durchs reiche Appenzeller Land zum abschließenden Schoppen am Bodensee. Dazwischen gibt es allerfeinste Tipps, zum Beispiel für alle Bern-Reisende: „Die Berner, so heißt es, sind die langsamsten Leute der Schweiz. Erzählen Sie nie einem Berner am Sonntagmorgen einen Witz, er wird die Pointe nicht eher begreifen, als bis er in der Kirche sitzt – und dort lacht er dann aus vollem Halse.“ (Peter Graf (Hg.): Tour de Suisse – Eine nostalgische Reise zu den schönsten Plätzen der Schweiz“, Walde + Graf, 144 Seiten, 73 farbige Abbildungen, 44,80 Euro)

 

 

 

 

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