Das 2009-Archiv: Alix, Anton und die anderen

Dave Eggers „Zeitoun“, John Nivens „Coma“ und Martin Gülichs „Septemberleuchten“ bilden das Jahresarchiv von 2009, als die Nobelpreisträgerin Herta Müller hieß, China Ehrengast war auf der Frankfurter Buchmesse und Walter Kappacher den Büchnerpreis verliehen bekam.

Anfang eines literarischen Großstadtreigens über: das Ende einer Familie, letzte Träume und verlorene Liebe, mit einem kleinen Rest Hoffnung. Wahrhaftig. „Es gibt nur ein verpfuschtes Leben“, für die vielen Helden in Katharina Hackers neuem Roman – dem Anfang ihres literarischen Berlin-Mehrteilers. Eine Clique aus desillusionierten Mittvierzigern, ein kinderloses Paar (Alix und Jan), zwei „irgendwie steckengeblieben“ Singles (Bernd und Anton), will füreinander Familie sein, Wahlverwandtschaft. Am Wochenende essen die Neo-Spießer bei Jans Eltern Clara und ihrem Mann, dem ehemaligen Staatsanwalt Heinrich. Bisweilen fällt Heinrich ein, „daß er viel von seinem Leben zum falschen Zeitpunkt erlebt hatte.“ Doch er ist zu alt, um sein Schicksal zu drehen. Es geht in diesem wunderbaren Roman um falsche Zeitpunkte, um die Verabschiedung von Träumen, und wie man sich einrichtet, Leid verteilt, dabei achtgibt, möglichst wenig zu zerbrechen. „Alix, Anton und die anderen“ ist in zwei Spalten erzählt, die sich gegenseitig ergänzen, widersprechen, sich verknäueln und verhaken, mal dieser, mal jener Figur folgen, Chancen da vorspiegeln, dort zerschießen. Aus diesen Leben, wie dem eigenen, kann nicht hinaus, man bleibt gefangen, bis zum Schluss. Unbarmherzig ist das, in klarer, protokollhafter Sprache erzählt, realistisch und deshalb beklemmend nah. In wenigen Wochen erscheint eine Novelle, die ebenfalls aus dieser Romanwelt erzählt, jedoch eigenständig ist. Ein neues Kapitel („Der Mord“) steht bereits jetzt auf der Homepage von Katharina Hacker. (Katharina Hacker. „Alix, Anton und die anderen“, Suhrkamp, 126 Seiten, 19,80 Euro)

Matias Faldbakken, der wahnsinnige Gesellschaftspornograph aus Oslo, beunruhigt nach seinem Debüt „The Cocka Hola Company“ und dem absolut gewaltigen Roman „Macht und Rebel“ jetzt mit seinem Splatterbuch „Unfun“. Er bezeichnet dieses Buch als Abschluss seiner Trilogie. Es ist ein hartgesottenes Finale, bei der zum Ende alle Figuren im großen Blutbad untergehen werden.  „Unfun“ erzählt von Slaktus, einem erfolglosen Splatterregisseur, der eine ziemlich ekelige Egoshooter-Geschichte produziert, in der ein Nigerianer mit seiner Steinsäge durchs nächtliche Paris zieht und Leute niedermäht. Zuhause ist Slaktus nicht weniger zimperlich. Seine von ihm ständig malträtierte Gattin Lucy nennt ihn einen „Gewaltintellektuellen“, denn „genau wie die Japaner ein Wort für Frauen haben, die von hinten gut aussehen, aber nicht von vorn, sollte es ein Wort geben für Leute, die klug aussehen, es aber nicht sind. Und umgekehrt: ein Wort für einen Mann, der dumm aussieht, aber eigentlich verdammt klug ist. Slaktus gehört zur letzteren Kategorie.“ das klingt zwar nach einem ebenso schwierigen wie spannenden Zeitgenossen, reicht aber kein Stück, um Lucy auf Dauer zu faszinieren. Er geht ihr auf die Nerven, weshalb sie mit ihren beiden zurückgebliebenen Söhnen abhaut und als praktizierende Anarchistin versucht, den Jungs ein alternatives Leben zu ermöglichen. Warum das grandios scheitern muss, was die amerikanische Stimme von Homer Simpson damit zu tun hat und warum der schwarze Starschauspieler Taiwo ein „post-noble savage noble savage“ ist, klärt Matias Faldbakken in diesem krassen, manchmal tatsächlich extrem unlustigen, dann wieder bewundernswert bizarren Roman mit einer Menge Verve und Wut im Bauch. (Blumenbar, 265 Seiten, 19,90 Euro)

Ein Mann, Mitte 30, kommt in seinen Heimatstadt Cuxhaven und nimmt vom Bahnhof ein Taxi, obwohl sein Hotel in Laufnähe steht. “Aber ich wollte jetzt nicht durch Zufall irgendeinen alten Schulfreund treffen, an dessen Namen ich mich nicht erinnern konnte.” Der Sonderling ist auf Besuch und wird in der kommenden Woche noch einmal alte Kumpels und ebenso alte Erinnerungen treffen. Er vermasselt ein Date bereits im Bett, weil er mittendrin mit seiner Kakerlake Clemens debattieren muss. Er kramt alte Dialoge aus dem Gedächtnis: “Na, Helga, wo warst du denn?” – “Beim Friseur.” – “Und, warum bist du nicht drangekommen?” Er spielt als 8-Jähriger mit dem Bonanzarad (”Besser als ficken”) Tour de France und offenbart sich seinem Schwarm mit den Worten: “Anja, ich fand es immer faszinierend, von schönen Frauen über hässliche Geschlechtskrankheiten informiert zu werden.” Eigentlich passiert nichts Spektakuläres. Aber davon eine ganze Menge: “Aber ich habe mal eine kleine Sauftour gemacht.” – “Na und? Macht doch jeder.” – “Meine dauerte von 1988 bis 1996. Seitdem bin ich trocken.” – Wie der Humor dieses knorrigen Debütromans. Ein norddeutsches Kleinstadtabenteuer für Jevertrinker, soziophobe Westentaschenhelden und verwirrte Eckensteher. (Knud Kohr: “In Cuxhaven”, Verbrecher Verlag, 204 Seiten, 13 Euro)

Charmant wie „Puschel-TV“-Held Alfons, unterhaltsam wie Siebecks Kolumnen, tollpatschig wie Goethes „Zauberlehrling“. Stevan Pauls „Monsieur, der Hummer und ich“ ist wahrhaft leckere Unterhaltung. Warum trinken Kreter keinen Ouzo? Wer brät die beste Bratwurstpalme Ostberlins? Wieviele Bestechungspralinen werden zum Nachtisch serviert, wenn Restauranttester Wolfram Siebeck tafelt? Warum kann ein Traubensüppchen peinlich sein? Und welche Barmusik möchte Blixa Bargeld auf keinen Fall am Sonntagnachmittag hören? Diese und andere absolut unrelevante Fragen beantwortet der Hamburger (Fernseh-)Koch, Foodstylist und Essensblogger Stevan Paul in seinem Erzählungs-Rezepteband „Monsieur, der Hummer und ich“. In Schnellkochtopf-Geschwindigkeit erzählt er von Küchenunfällen, harten Kartoffeln und verliebten Köchinnen, von „Frau Sprotte“ und einer heiklen Spargel-Hummer-Terrine für Daniel Cohn-Bendit. Einmal Nachschlag, bitte! (Stevan Paul: „Monsieur, der Hummer und ich“, Mairisch, 176 Seiten, 18,90 Euro)

Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt – die dänische Debütantin Henriette E. Møller schreibt rosafarbene Sätze über Trennung, vergebliche Liebe und ein Familiengeheimnis. Kasper hat gesagt „entschuldige, weil Jelne wieder allein sein wird. Er hat gesagt entschuldige, weil sie jetzt traurig sein wird.“ Die 27-Jährige beschließt, Abschied zu nehmen – nicht nur vom untreuen Kasper, nicht nur von der gemeinsamen Wohnung, in der sie ihre Haarbüschel hinterlässt, für die Neue. Jelne löst ein Ticket zur kleinen Ferieninsel Møn, auf der ihre verstorbene Mutter vor vielen, vielen Jahren gearbeitet hat. Jelne, die nach zwei Autounfällen mit 7 Jahren Vollwaise geworden ist, die bei ihrem überforderten Opa aufwachsen musste, stellt sich wegen der Trennung von Kasper ab sofort viel düsteren Trennungen ihres Lebens – einem Familiengeheimnis, das in Møn darauf wartet, geborgen zu werden. Traurig schönes Melodrama mit Chick-lit-Momenten. (Henriette E. Møller: „Jelne“, übersetzt von Angelika Gundlach, Suhrkamp, 226 Seiten, 12,90 Euro)

Zhu Wen, der als “chinesischer Nick Hornby” gilt, eröffnete 2009 die langsam anrollende Flut von Bücher aus dem fernen Osten – anlässlich der Frankfurter Buchmesse, wo China einst Gastland war. “I love Dollars” versammelt auf 360 Seiten eine Handvoll kurioser Geschichten, die der Regisseur und Schriftsteller mit Mitte 20 verfasst hat und die zunächst einmal sehr lesbar, witzig und cool daherkommen – aber eben wenig mit dem britischen “High Fidelity”-Star Nick Hornby gemeinsam haben. Stattdessen erzählt Zhu Wen von einem vorlauten Sohn, der bei Papas Besuch stundenlang versucht, den alten Herrn zu einem Schäferstündchen mit etlichen Huren zu überreden. Es geht außerdem um einen schüchternen Arbeiter, der von einer Straßengang abgezockt wird, um eine kuriose Schiffsreise, bei der ein anderer Held Probleme mit finsteren Kerlen bekommt, es geht um den für uns kurios wirkenden Alltag in China. Es geht nicht um Korruption, Folter, Hinrichtungen, sondern um Kapitalismus, Sex und Gags. Aber vielleicht macht genau das “I love Dollars” so unheimlich, bei allem Spaß, dass der Horror, von dem wir alle hören, irgendwo dahinterstecken muss. Die Sommermonate bis zur Buchmesse werden spannend. (Zhu Wen: “I love Dollars”, A1-Verlag, 360 Seiten, 19,80 Euro)

Jeden Donnerstag liest das 6-köpfige Autorenteam „Chaussee der Enthusiasten“ in Berlin vor begeistertem Publikum – mit Internet-Liveübertragung für die übrigen Fans. Wer das Beste verpasst hat kann diese Anthologie lesen und sich die beigelegte Best-of-Lesung auf die Ohren schnallen. Der Band zum 10-jährigen Enthusiasten-Jubiläum ist ein Kompendium hervorragender Anfänge. Jochen Schmidt erzählt vom Stress: „Endlich hatte ich meinen neuen Roman fertig,und weil ich mich so damit beeilt hatte, blieben mir nach fünf Jahren Arbeit bis zum meinem nächsten Termin noch zehn Minuten Zeit.“ Andreas Kampa und Robert Naumann lesen mit einer Gebärdendolmetscherin vor Gehörlosen. Dan Richter gibt „Beziehungstipps für Männer“ und Kirsten Fuchs widerspricht ihrer Freundin, die behauptet, ihr Ex sei ein „Muttersöhnchen“ gewesen: „Er ist ja schon erwachsen. Er ist ein Muttersohn.“ Beinahe jeder Text erfüllt höchste Stand-Up-Anforderungen. – Weinende Smileys, ein Navigationsgerät als Sohn, Kirsten „techtelt“ mit einem Italiener – die „Chaussee der Enthusiasten“ vertreibt Winterdepressionen („Chaussee der Enthusiasten – Straße ins Glück“, Voland & Quist, 144 Seiten Buch  76 Minuten CD, 14,90 Euro)

Man muss sich nur die ganzen “Wie werde ich glücklich”-Ratgeber in der Buchhandlung anschauen zu verstehen, dass “Glück” unglaublich begehrt ist. Richard Powers erzählt in seinem neuen Roman “Das größere Glück” von Thassadit, die nur glücklich, niemals traurig sein kann. Das ruft allerdings Geschäftemacher auf den Plan. Man nimmt an, dass ihr Glück in den Genen liegt. Man will sie als Eizellenspenderin gewinnen, ihr Wesen in Geld ummünzen. Ab hier wird auch klar, dass Richard Powers keine Wohlfühlkomöde schreiben wollte: Es geht in diesem Buch vor allem um die Frage: Was sind wir alle eigentlich bereit einzusetzen, um alles Traurige, Bedrückende, Schlimme, was durchaus zum normalen Leben gehört, für immer auszuschalten? Das ist beinahe weise. Ein sehr gutes Buch. (Richard Powers: “Das größere Glück”. Übersetzt von Henning Ahrens. Fischer, 428 Seiten, 22,95 Euro. Das Hörbuch ist bei Argon erschienen, gelesen von Ulrich Matthes: 8 CDs, 560 Minuten, 29,95 Euro)

Beim Bachmann-Preis 2009 wurde der promovierte Physiker Ralf Bönt für sein Doppelportrait über den britischen Naturwissenschaftler Michael Faraday und den 88 Jahre später geborenen Albert Einstein mit dem Kelag-Preis ausgezeichnet. Die Geschichte klingt nach Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“, kommt aber unironischer, deshalb auch ungebrochen heroischer daher. Faraday, ein aus ärmlichen Verhältnissen stammendes Genie, steht im Vordergrund. Nachgezeichnet wird sein Weg in einer von Kriegen (Napoleon), Revolutionen (Engels, Darwin) und prometheuischen Momenten (Edison) erfüllten Welt, die wenige Jahre später mit einem Gedankenblitz Einsteins neu entdeckt, in anderes Licht getaucht werden wird. Ein literarischer Versuchsaufbau mit Explosionsmomenten. – Uneitler, kluger, manchmal harmloser Wissenschaftsroman über Faraday, Einstein, Ampère, Darwin, Engels und die anderen. (Ralf Bönt: „Die Entdeckung des Lichts“, Dumont, 354 Seiten, 19,95 Euro)

Borderline-Journalist Joachim Lottmann hat sich ein Jahr lang in Berlin herumgetrieben, zuerst notorisch pleite – doch dann kam die Wirtschaftskrise, für alle anderen, während er unverhofft auch einer Erfolgswelle surfte und von “ganz unten” nach “ganz oben” rutschte. Im neuen Pseudo-Doku-Roman “Der Geldkomplex” erzählt Joachim Lottmann, wie ein Schriftsteller seines Alters (Ende 40) mit einer geldgierigen Berlin-Mitte-Schlampe abhängt, die ihm zwar gewisse sexuelle Befriedigung ermöglicht, zugleich aber ständig schreit: “Ich will mein Geld!”, womit Joachim Lottmanns Geld gemeint ist. Doch ist der Autor leider pleite ist und muss immer mal wieder erfahren, dass höchstens satte Roman-Vorschüsse Probleme lösen: „Als erstes zahlte ich den Deckel von Holm Friebe. Nach der Geburt seines ersten Kindes, dem Totalflop seines letzten Buches, der Insolvenz seiner Firma und dem Aus seiner Ehe war er ein bisschen aus dem Tritt gekommen…“. Plötzlich treten die heißen Bräute in sein Leben, die schillernden Parties, die Literaturagenten und Kulturbetriebsschleimer auf ihn zu, mit einem letzten, geradezu verzweifelten Lächeln: Denn Joachim Lottmann, der ewige Pleitegeier, hat: Geld! Sein bislang bestes Buch, mit einem geradezu bewundernswerten Schnitt zwischen absoluter Resignation und finanzieller Euphorie. (Joachim Lottmann: “Der Geldkomplex”, KiWi, 350 Seiten, 9,95 Euro)

Im Jahr 1622 setzte sich Pierre Guldin mit der Frage auseinander, wieviele Wörter, auch sinnlose, man aus dem lateinischen Alphabet bilden kann. „Er rechnete aus, daß die Zahl der Wörter über 70000 Milliarden Milliarden beträgt und daß man, wollte man all diese Begriffe niederschreiben, über eine Million Milliarden Milliarden Buchstaben benötigen würde.“ Das berichtet Umberto Eco im Vorwort von Nanni Balestrinis „Tristano“, einem Buch aus 300 Abschnitten, die für jede einzelne Ausgabe neu gemischt wurden – so, wie es der Autor bereits bei der Erstauflage 1966 geplant hatte. Doch erst jetzt ist die digitale Drucktechnik in der Lage, jeden Band als Unikat anzubieten. Jedes Buch ist auf dem Umschlag fortlaufend nummeriert. Die ersten 5999 Tristano-Ausgaben sind in italienischer Sprache erschienen. Die deutsche Fassung beginnt mit der Nummer 6000 und endet mit der Nummer 7999 – von 109027350432000 möglichen Romanen. Übrigens: Notierte man die Begriffe von Pierre Guldin „in Registerhefte zu 1000 Seiten mit 100 Zeilen und 60 Buchstaben pro Zeile, so bräuchte man 257 Millionen Milliarden solcher Hefte.“ Bewahrte man diese in einer Bibliothek auf, „und wenn man pro Gebäude 432 Fuß Seitenlänge veranschlagt, so daß jedes groß genug wäre, 32000000 Bände aufzunehmen, bräuchte man 8052122350 solcher Bibliotheken. Doch welches Königreich verfügte über so viele Gebäude? Auf der gesamten trockenen Oberfläche unseres Planeten fänden nur 7575213799 Platz.“ (Nanni Balestrini: „Tristano“, übersetzt von Peter O. Chotjewitz, Suhrkamp, 160 Seiten, 15 Euro)

„Warum hast du ihn getötet? Warum hast du ihn so gehasst.“ Mit der Târ-Laute hat Hosseins Vater Weißbart einen Blinden erschlagen. Er war neidisch, weil sein Opfer Mohsen besser spielen konnte. Das ist eine Geschichte, wie fürs Alten Testament verfasst. Als der cholerische Weißbart stirbt, kämpft Hossein mit der vererbten Târ, mit dieser „Waffe, in der noch die Seele ihres Opfers wohnte.“ Soll er sie spielen, schätzen, zerstören? Das Schicksal treibt den jungen Mann in Mohsens alte Stadt, wo der hasserfüllte Waise Parvis auf ihn wartet – und Hosseins wahre Bestimmung. Mit dieser ebenso schillernden wie verwirrenden Geschichte alter Art führt Bestsellerautorin Yasmine Ghata („Die Nacht der Kalligraphen“) erneut ins ferne Arabien. Magisch. (Yasmine Ghata: „Die Târ meines Vaters“, Ammann, 124 Seiten, 16,95 Euro)

In John Nivens zweitem Roman „Coma“ gelangt ein Hobbygolfer durch den Staub zu den Sternen. Nachdem Gary von einem Golfball niedergestreckt wurde fällt er ins Koma, wacht  mit einem Hirnschaden auf und kann seitdem nicht nur wunderbar fluchen (er leidet am Tourette-Syndrom), sondern noch besser Golf spielen. Gary klettert an die schottische Spitze, beschimpft Weltklassespieler auf dem Green und avanciert zum Enfant terrible der Szene, nachdem er Auswirkung Nummer drei seines Golfunfalls nachgegeben hat: Gary leidet unter dem Drang zur öffentlichen Masturbation. Gäbe es nicht Lee, seinen dämlichen, kleinkriminellen Bruder, wäre alles Gold. Aber Lee vermasselt einen Job – und gefährdet das Happy End für den neuen Star am schottischen Golfhimmel. Markus Kavka liest diesen frivol-derben Schelmenroman aus Schottland mit leichten Betonungsfehlern und einer Menge Looser-Sympathie. (John Niven: „Coma“, übersetzt von Stephan Glietsch und Alexander Wagner, gelesen von Markus Kavka, Deutsche Grammophon Literatur, 4 CDs, 298 Min.)

Als Franzobel die Asyl suchende Arigona aus dem Kosovo das erste mal mit Anne Frank vergleicht, schrickt man zusammen. Aber schnell wird klar, dass der Österreicher nicht die billige Nazikarte ausspielen will. Er will mit der ungebührlichen Ausländerpolitik seines Landes zeigen, wer die „neuen Juden“ sind, die Rechtlosen, überall Verfolgten. Die Geschichte des Teenagermädchens, das Jahr nach ihrer Flucht vorm Krieg abgeschoben werden sollte, ist keine Erfindung. Es klingt wie ein böses Märchen, ist aber wahr, und die Politiker spielen weiter Aschenputtel: „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.“ Nur Huren erhalten in Österreich jederzeit eine Aufenthalts- und eine Arbeitsbewilligung. Das ist scheinheilig, pervers – das Theaterstück zum Abschluss ist für diese Erkenntnis überflüssig. Fazit: Bus einpacken, ab zur Grenze und auf Nimmerwiedersehen? Franzobel schreibt einen ätzend-guten Essay gegen Verschleppung, Zwang und Fremdenhass. (Franzobel: „Österreich ist schön – ein Märchen“, Zsolnay, 190 Seiten, 17,90 Euro)

In die 1970er Jahre mussten Stewardessen ihren Job quittieren, sobald sie schwanger, verheiratet oder 30 Jahre alt waren. Unnützes Wissen dieser Art gibt es nebenbei, in Annette Vowinckels Kulturgeschichte der „Flugzeugentführungen“. Ernstes Thema. Aber als wegen der polnischen Unruhen im Sommer 1980 viele Linienflüge mit dem Ziel „West-Berlin“ gekapert wurden, übersetzen Berliner den Namen der polnischen Fluggesellschaft LOT mit: „Landet ooch in Tempelhof“. Solche Dinge bleiben nach dem Lesen hängen. Auch räumt Annette Vowinckel mit dem modernen Mythos auf, nach 9/11 sei das Fliegen gefährlicher geworden. Tatsächlich fanden in den 1960er bis Anfang der 80er Jahre die meisten Entführungen statt. Seitdem sinkt der Anteil gekaperter Maschinen, gemessen am Flugaufkommen. Kein Grund zur Panik? Tatsächlich hat kaum jemand so eindringlich wie hier geschildert, was passiert, wenn sich das Flugzeug in ein „mobiles Gefängnis“ verwandelt und welche erzählerischen Mittel die Medien aufbieten, um einer Entführung den besonders packenden Rahmen zu geben. (Annette Vowinckel: „Flugzeugentführungen“, Wallstein, 192 Seiten, 19,90 Euro)

130 Stunden lang wurden 1969 die letzten Proben der Beatles auf BASF-Tonbändern mitgeschnitten. Auf ihnen befinden sich 409 verschiedene Songs – von eigenen „Get Back“-Stücken bis zu Coverversionen von Bob Dylan, Lovin‘ Spoonfull, den Miracles und anderen Pophelden jener Jahre. Daneben hört man einen Bass-Riff, ein Drum-Solo und 171 Improvisationen. – Und die Wahrheit über den großen Streit, der George Harrison zwischenzeitlich das Handtuch werfen liess, dazu die aberwitzigsten Ideen der größten Band aller Zeiten, von Konzerten auf Kreuzfahrtschiffen bis zum Plan, Eric Clapton als fünften Beatles aufzunehmen. In akribischer Feinarbeit hat Friedhelm Rathjen, Übersetzer von James Joyce, Herman Melville und John Lennon aus dem lange verschollenen Material ein Tagebuch der 21 letzten Beatles-Tage verfasst, das in jeder Hinsicht großartig zu lesen ist, für Fans von „Let it be“, für alle Musiker, die hier erfahren, dass sich Beatles-Proben von Schülerbandsessions in keiner Weise unterscheiden bis hin zu allen Freunden der späten 1960er Jahre. (Friedhelm Rathjen: „Von GET BACK bis LET IT BE – Der Anfang vom Ende der Beatles“, Rogner & Bernhard, 338 Seiten, 19,90 Euro)

“Gehorsam folgte ich seinen Anweisungen und drehte ihm den Hintern zu. Ich ahnte schon, dass es nicht um den Rücken ging.” Max Vola, Gynäkologen-Gatte und Sanitätsfachmann (für Nasszellen = “Feuchtgebiete”) schließt den Sack, pardon, und lässt sich sterilisieren, damit aus “du weißt schon” keine Kinder entstehen. Bruno Preisendörfer, der vor zwei Wochen beim Ingeborg-Bachmann-Vorlesewettbewerb in Klagenfurt angetreten ist, legt mit “Manneswehen” ein gekonntes Spin-off von Charlotte Roches “Feuchtgebiete” vor. Damit steht er nicht allein, weil Heinz Strunk (”Fleckenteufel”), Susanne Halbleib (”Trockensümpfe”) und Charles Roch (”Trockenzonen”) sich in den vergangenen zwölf Monaten am gleichen Kopierprojekt versuchten. “Manneswehen” ist allerdings besser und humorvoller geschrieben, greift netter und kein bisschen ekelhaft die Vorlagen von Charlotte Roche: “Hart ist der Zahn der Bisamratte, doch härter ist die Morgenlatte”. ist das schon pubertär oder simple Rollenprosa? Und warum wirken Szenen über Spermaproben, Fem-Condoms, Blutdrucksenkern, Erektionen im Babybauch hier kein bisschen dümmlich? Bruno Preisendörfer, Autor der Bestseller “Das Bildungsprivileg” und “Die letzte Zigarette” ist, anders als seine Vorgänger, ein routinierter Schreiber, der nebenbei eine Handvoll Kunst-Philosophie-Links einbaut (Michel Foucault, Annie Sprinkle) und einen dennoch lässigen Text abliefert, Bisamratte hin oder her. (Bruno Preisendörfer: „Manneswehen“, Eichborn, 208 Seiten, 16,95 Euro)

Zwei Sadisten, ein Opfer und jemand, der es später erzählt – mehr braucht ein Krimi in der Tradition Franz Kafkas nicht. Ein Buch als Sarg. Zum Ersticken. Es fängt harmlos mit einem romantischen Septemberleuchten am See an und endet, wenn ein halbtot geschlagener Mann lebendig begraben wird. Dazwischen liegt ein Grillpicknick, das selbst für die Polizei unverdächtig ausschaut: Ein paar Würstchen, zwei, drei Bier, dazu eine Partie Skat – doch für eine Figur läuft parallel der letzte Horrorfilm seines Lebens ab. Er möchte fliehen und bittet den teilnahmslosen Erzähler, gehen zu dürfen. Der lehnt ab, ist selbst nur Gast. Dass der Unbekannte blutet, zittert, wie gefoltert wirkt, immer dann, wenn der Erzähler vom Pinkeln wiederkommt, darf vernachlässigt werden. „Für alles Weitere“, sagt der Mann, „treffe ihn keine Schuld, ja, es sei geradezu absurd, ihm daraus einen Strick drehen zu wollen.“ Aber jede Tat hat Konsequenzen… (Martin Gülich: „Septemberleuchten“, Nagel & Kimche, 128 Seiten, 14,90 Euro)

Seit Ende der Woche ist es amtlich: Immer mehr Abiturienten entscheiden sich aus finanziellen Gründen gegen ein Studium. Das hat HIS, das Hochschul-Informationssystem in einer großen Studie herausgefunden. Außerdem wird seit den Studenten-Herbststreiks auf allen Ebenen über marode Gebäude, schlampige Betreuung, unsinnige Bachelor-Regelungen gestritten. Da kommt Armin Himmelrath mit seinem “Handbuch für Unihasser” zur rechten Zeit. Obwohl – das muss man deutlich sagen: Armin Himmelrath, der selbst an verschiedenen Unis unterrichtet – mag das Campusleben eigentlich sehr. Aus enttäuschter Liebe regt ihn der ganze Mist allerdings so sehr auf, dass er mit Wut und Kopfschütteln dieses kleine Manifest vorlegen kann. Das “Handbuch für Unihasser” gibt jedem streikenden Studenten Oberwasser. Unterhaltsam und sehr gut recherchiert. (Armin Himmelrath: “Das Handbuch für Unihasser”, KiWi, 200 Seiten, 7,95 Euro)

„Ich möchte, dass Du die Stadt verlässt“, sagte sie. „Die Nachrichten sind richtig schlimm. Es gibt Plünderungen und Tote. Dir wird irgendwas zustoßen.“ Diese Besorgnis erregenden Sätze sagt Kathy, die Ehefrau von Abdularahm Zeitoun, einem Bewohner New Orleans, der nach dem Tsunami 2005 seine Familie weit weg geschickt hat, um allein mit dem Kanu durch die überfluteten Straßen zu paddeln und zu helfen, überall dort, wo er gebraucht wird. Der US-amerikanische Autor Dave Eggers hat einen Tatsachenbericht über Zeitoun hingelegt, der einfach nur atemraubend ist: Denn während er helfen will, wird Zeitoun irrtümlich festgenommen und angeklagt, Al Quaida-Terrorist zu sein, der die Katastrophe für einen Anschlag ausnutzen will. Und auf einmal wird aus diesem Katastrophenbuch eine Geschichte über Ausländerhass und Terror-Paranoia in den USA nach den New Yorker Terroranschlägen vom 11. September 2001.  Dave Eggers geht ruhig vor, Szene für Szene, fängt weit vor der Überschwemmung an und erzählt auch, wie Zeitouns Ehefrau Kathy, eine Christin, irgendwann an ihrer Religion zweifelt, überlegt, den Islam besser kennenzulernen, sich an den heimischen Pfarrer wenden und allein für diese Frage m nächsten Sonntagsgottesdienst vorgeführt wird. „Der Prediger unterbrach sie. „Sie haben mit dem Gedanken gespielt“ – und an der Stelle legte er eine Pause ein – „Allah anzubeten!“ woraufhin er ein prustendes, abfälliges Gelächter von sich gab, ein Geräusch, wie es ein Achtjähriger auf dem Spielplatz machen würde. In diesem Augenblick zerreisst etwas in Kathy, die wie fassungslos vor ihrer Gemeinde steht. Wusste dieser Priester denn nicht, dass sein Gott und der Gott des Islam ein und derselbe sind? Sie konvertiert. Aus Wut, aus Scham. Sie wird Muslima – in einer Zeit, in der Moslems in den USA immer wieder wegen der Terroranschläge schikaniert werden. Zuletzt wird ihr Mann unschuldig ins Gefängnis geschmissen.  Diese tapfere Frau wird am Ende daran zerbrechen, dass in den USA soetwas passieren kann, dass eine Überschwemmung ausreicht, um den festen, juristischen Boden des gesamten Landes wegzuschwemmen. Es ist bemerkenswert, genau diese Entwicklung Kathys nachzulesen, gerade dann, wenn sie beisspielsweise versucht, über das Rote Kreuz, über Freunde und das Internet herauszufinden, was mit ihrem Mann geschehen ist: lebt er noch, wurde er erschossen, ist er ertrunken? Dieses Zittern führt beim Lesen zum Mit- und Nachzittern in einem der besten und schockierendsten Bücher der jüngsten Zeit. (Dave Eggers: „Zeitoun“, übersetzt von Klaus Timmermann und Ulrike Wasel, 470 Seiten, 19,95 Euro)

Herr Blanc ist einer der wunderlichsten Käuze, die 2009 einen Roman belebt haben. Der Schweizer Pedant, “ein Mann mit Haltung, auch mit einer Arbeitshaltung”, putzt seine Wohnung aus Angst vor Mutters Schelte (sie könnte zufällig an seinen verdreckten Fenstern vorbeigehen). Er liest mehrere Zeitungen, um fremde Länder ohne Urlaub kennenzulernen – damit er nicht bestohlen werden kann, ist ja auch schlimm da draußen, bei den Wilden, und “von wichtigen Dingen wie Zahnpastatuben, Butterpäcken, Milchtüten müssen je zwei Exemplare vorrätig sein, damit man nicht mit leeren Händen dastand, wenn auf einmal etwas aufgebraucht war.” Nachdem seine geliebte Frau Mama gestorben ist, heiratet Herr Blanc die junge Witwe Vreni, die am liebsten “eingezäunte Tiere” mag. Da ist sie bei ihrem verschlossenen Gatten richtig gelandet, der mit seiner schlechten Laune immer wieder nervt und wirkt wie ein eingezäuntes Tier mit starkem Hospitalismus. Bekommt Vreni ein Kompliment, widerlegt Herr Blanc es noch auf der Stelle: “Wenn sie wirklich daran glaubte, eine attraktive und erfolgreiche Frau zu sein, war es möglich, dass es ihr gelang, die Leute zu täuschen und glauben zu lassen, dass sie eine attraktive und erfolgreiche Frau war, und dann war es möglich, dass ein gut aussehender, gutverdienender Mann sie nehmen würde.” Doch dann geschieht ein Unglück – und Herr Blanc muss über seinen Schatten springen, zum ersten Mal im Leben… Der 1978 geborene Winterthurer Roman Graf hat zu Recht etliche Auszeichnungen erhalten – darunter den Studer/Ganz-Preis für das beste Prosadebüt, den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2010 und den Mara-Cassens-Preis der Literaturhauses Hamburg. (Roman Graf: “Herr Blanc”, Limmat, 220 Seiten, 22,80 Euro)

Obsession erzählt rückwärts die Absturzgeschichte der jungen Japanerin Ri. Auf der ersten Seite ist die Heldin 22 und auf der letzten Seite gerade mal 15 Jahre alt. Sie wird als Bestsellerautorin vorgestellt, die ihren Ehemann gern richtig lieben würde, aber schon auf der Hochzeitsreise im Flugzeug vor Eifersucht austickt: „Wetten, dass sie den Champagner absichtlich verschüttet hatte, als sie mir das Glas reichte? Nur damit sie sein Knie befummeln konnte! Ich behielt die Stewardess im Auge und entrollte dann unauffällig das Tuch. Ein Glück! Ich hatte schon gedacht, sie hätte ihre Handynummer darin versteckt.“ Warum reagiert Ri derart? Sie ist in den vergangenen Jahren traumatisiert worden durch permanente Enttäuschungen und den Betrug ihrer Liebhaber. Mit 15 wollte sie einfach nur Party machen, Sex haben, durch aufregende Nächte ziehen. Aber sie hatte es nicht unter Kontrolle und landete beinahe in der Gosse – aus die sie der Ehemann quasi rausziehen soll, als Retter. Nur: das gelingt nicht. Aber man muss kein Mitleid mit der Heldin haben, weil sie wesentlich gerissener und cooler ist, als es auf der Oberfläche geschildert wird. Ihre Erfinderin, die preisgekrönte Autorin Hitomi Kanehara, hat einen literarischen Trick angewendet, um diesem Party-Drogen-Sexroman Tiefe zu geben, und auf einmal hat man keine Angst um Ri, sondern ist ein bisschen neidisch, dass man nicht auch so ein Romanleben angedichtet bekommt, wie die Heldin von „Obsession“. (Hitomi Kanehara: „Obsession“, übersetzt von Sabine Mangold, Ullstein, 224 Seiten)

Eigentlich müsste diese Krimikomödie von Jakob Arjouni „Der scheinheilige Eddy“ heißen, denn es geht um einen Trickbetrüger aus Berlin. Der zieht direkt am Anfang einen Computer-Nerd aus Bochum ab, und zwar mit einer ziemlich billigen Masche. Eddy lädt den Bochumer in ein Edelrestaurant ein, und haut später sowohl mit der Brieftasche, als auch mit den Klamotten des Typs ab: „Vor der Garderobe kam Eddy einer der Kellner entgegen. ‚Wünschen Sie eine Rechnung’, fragte er. ‚Danke, aber mein Freund übernimmt das. Ich hätte nur gerne meinen Mantel. ‚Ihren Mantel?’ Der Kellner sah auf den Dufflecoat. ‚Ja, einen dunkelblauen Cashmere Mantel, ich hab ihn dabei, um ihn zur Reinigung zu bringen.’“ Eddy ist kein brutaler Verbrecher, aber ein Schlitzohr, ein Gauner. Deshalb ist er auch überfordert, als er später eine VIP-Leiche fortschaffen – obwohl er diesen Mann nicht einmal umgebracht hat. Eddy muss jetzt die richtig großen Tricks anwenden, aber die ganze Zeit über geht irgendetwas schief. Und weil alles schiefgeht, weil ständig etwas passiert, ist dieser Roman schnell gelesen und an keiner Stelle langweilig – schönes Gaunerstück. (Jakob Arjouni: „Der heilige Eddy“, Diogenes, 256 Seiten, 9,90 Euro)

„Es wird sein wie die Unruhen in Los Angeles, Oklahoma City Bombing, der Zweite Weltkrieg, Vietnam und Doom zusammen Ich möchte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Und wenn wir durch irgendeinen scheiß verrückten Zufall überleben und fliehen können, dann werden wir ein Flugzeug entführen und es über New York abstürzen lassen.“ – Das ist der Auszug einer Datei, die der Schüler Eric Harris vor seinem Amoklauf an der Columbine-Highschool auf dem Schulserver hinterlegt hat. Der Münchner Autor Joachim Gaertner hat dieses und andere Dokumente in seinem Doku-Roman „Ich bin voller Hass – und das liebe ich“ veröffentlicht. Der Doku-Roman ist an montags erschienen. Einen Tag später hat Tim K. in Winnenden 15 Menschen erschossen. Für Joachim Gaertner ist die Situation gerade sehr unbequem, weil er seinen Amok-Roman nicht geschrieben hat, um bei einer Nachahmungstat Kasse zu machen. Aber jetzt interessieren sich die Medien weniger für die Qualität dieses wirklich guten Buchs, sondern für seine traurige Aktualität; und Gaertner steht etwas ratlos daneben, gibt selbstverständlich ein Interview nach dem nächsten, spürt aber auch, dass sein eigentliches Anliegen in den Hintergrund rückt. Er sagt: „Mich hat die sehr persönliche Konfrontation mit dieser Phantasiewelt der Täter interessiert und natürlich auch literarische Fragen: wie war die innere Dramaturgie dieser Tat, was waren das für Persönlichkeiten, auch ein Erschrecken, eine große Trauer darüber, zu was Menschen fähig sind.“ Wenn man diesen Roman liest wird auch sofort klar, dass Gaertner nicht aus purem Voyeurismus Columbine als Thema gewählt hat, obwohl nichts erfunden ist. Er hat die Originale übersetzt, subjektiv ausgewählt und kompiliert. Das Ergebnis ist ein Thriller, der zum Schluss, wenn der Amoklauf ganz kurz geschildert wird, sogar ein großes Finale hat. Dann liest man das Notrufprotokoll eines Anrufs, den eine Lehrerin aus der Schule abgesetzt hat, bevor die Täter reinkamen und zwölf Menschen erschossen haben. Gartner: „Diese Mitschrift des Telefongesprächs fand ich, hat wie kein anderes Dokument, für mich jedenfalls dokumentiert, was in einer solchen Situation vorgeht, wie sehr Leben nicht nur dadurch zerstört werden, dass Menschen umgebracht werden, sondern auch durch diese extreme Angst.“ – Sein Doku-Roman ist ein beklemmendes Buch, das seinen Thrill daraus zieht, dass wir alle wissen, wie es ausgehen wird – und das jetzt bedauerlicherweise eine Aktualität bekommen hat. (Joachim Gaertner: „Ich bin voller Hass – und das liebe ich“, Eichborn, 186 Seiten)

Tao Lin ist nicht gerade bekannt für „gute Laune“ – obwohl sein Buch eben diese vermuten würde. Er wurde für seinen Blog „Reader of depressing books“ und wegen seiner Internetaktionen bereits als neuer Andy Warhol gefeiert. Seinen gerade in den USA erscheinenden Roman „Richard Yates“ hat er in sechs Teilen auf Ebay verkauft. Er dreht Clips, macht Stand-Up-Lesungen, treibt sich auf YouTube, MySpace und Blogspot rum. Außerdem steht er auf Langeweile und schlechte Laune, wie sein Held Andrew, ein erfolgloser Pizzabote: „Eine Band kann Andrew glücklich machen. Die Songs werden alle deprimierend sein, was Andrew glücklich machen wird. Es ist nicht unmöglich, glücklich zu sein. Ein Stück wird von U-Turns handeln. Wenn Steve aus New York zurückkommt, werden sie eine Band gründen- Sie werden zwei Stunden lang ‚rumalbern’, dann deprimiert sein und zu ‚Denny’s’ gehen.“ Alles Wichtige über Andrew und Tao Lin erfährt man nicht im Buch, das findet man im Netz. Diese Literatur ist nicht fürs Papier gemacht, aber als Künstler ist Tao Lin bewundernswert. (Tao Lin: „Gute Laune“, übersetzt von Stephan Kleiner, 19,95 Euro)

Matias Faldbakken, der wahnsinnige Gesellschaftspornograph aus Oslo, beunruhigt nach seinem Debüt „The Cocka Hola Company“ und dem absolut gewaltigen Roman „Macht und Rebel“ jetzt mit seinem Splatterbuch „Unfun“. Er bezeichnet dieses Buch als Abschluss seiner Trilogie. Es ist ein hartgesottenes Finale, bei der zum Ende alle Figuren im großen Blutbad untergehen werden.  „Unfun“ erzählt von Slaktus, einem erfolglosen Splatterregisseur, der eine ziemlich ekelige Egoshooter-Geschichte produziert, in der ein Nigerianer mit seiner Steinsäge durchs nächtliche Paris zieht und Leute niedermäht. Zuhause ist Slaktus nicht weniger zimperlich. Seine von ihm ständig malträtierte Gattin Lucy nennt ihn einen „Gewaltintellektuellen“, denn „genau wie die Japaner ein Wort für Frauen haben, die von hinten gut aussehen, aber nicht von vorn, sollte es ein Wort geben für Leute, die klug aussehen, es aber nicht sind. Und umgekehrt: ein Wort für einen Mann, der dumm aussieht, aber eigentlich verdammt klug ist. Slaktus gehört zur letzteren Kategorie.“ das klingt zwar nach einem ebenso schwierigen wie spannenden Zeitgenossen, reicht aber kein Stück, um Lucy auf Dauer zu faszinieren. Er geht ihr auf die Nerven, weshalb sie mit ihren beiden zurückgebliebenen Söhnen abhaut und als praktizierende Anarchistin versucht, den Jungs ein alternatives Leben zu ermöglichen. Warum das grandios scheitern muss, was die amerikanische Stimme von Homer Simpson damit zu tun hat und warum der schwarze Starschauspieler Taiwo ein „post-noble savage noble savage“ ist, klärt Matias Faldbakken in diesem krassen, manchmal tatsächlich extrem unlustigen, dann wieder bewundernswert bizarren Roman mit einer Menge Verve und Wut im Bauch. (Blumenbar, 265 Seiten, 19,90 Euro)

„Männer schreiben anders über Sex und Erotik. Mir ist es aber wichtig, dass der Sex so beschrieben wird, dass er für mich nicht nur erregend und nachvollziehbar, sondern auch persönlich und sympathisch ist. Ich habe ganz, ganz oft bei Texten von Männern das Problem, dass sie zu derb sind oder zu mechanistisch oder zu unterkühlt.“ Jennifer Hirte ist Programmleiterin des gerade schwer gehypten Erotikverlags Anais aus Berlin. Seit die 18-jährige Waldorfschülerin Rebecca Martin mit ihrem Erwachsenwerdenroman „Frühling und so“ die Boulevardmedien beeindruckte, sind die Veröffentlichungen des 2008 gegründeten Schwarzkopf-&-Schwarzkopf-Imprints in aller Munde. „‚Frühling und so‘ ist für mich ein ganz wichtiger Teil vom Programm, aber es hat natürlich eine besondere Position“, sagt Jennifer, „der Roman ist für mich eine Art Vorspiel. Er erschien ja als allererstes Buch von den vieren, mit denen wir an den Start gegangen sind. Und tatsächlich ist es in der Menge und auch in der Art, wie es beschrieben wird, doch recht eingeschränkt. Rebecca schreibt gar nicht so viel über Sex. Aber es passt gut in die Handlung, weil sie den Sex beschreibt, wie sie ihn als Teenager auch wirklich erlebt, also es geht jetzt nicht um Tantra oder so, sondern sie lernt halt jemanden kennen, und dann passt es oder es passt halt nicht und am nächsten Tag muss sie dann wieder zur Schule. Sex ist hier also einfach eine wichtige Nebensache.“ Rebecca Martin wird demnächst bei 1LIVE Klubbing lesen, als erste Schriftstellerin des Anais-Verlags. Bei Cornelia Jönsson ist Sex mehr als eine Nebensache. Sie ist zehn Jahre älter als Rebecca, zehn Jahre weiter und ihrem SM-Roman „Spieler wie wir“ lehnt sich die bekennende Masochistin weit aus dem Fenster. In ihrer Geschichte wird eine Zweifrauen-WG geschüttelt, zerrüttet, gestoßen und geschlagen. Unterwürfige Leidenschaften werden detailreich beschrieben, Striemen gesammelt, Ohrfeigen stöhnend eingesteckt. Cornelia, als Walter-Kempowski-Preisträgerin mit ernsthafterer Literatur vertraut, pariert jeden Einwand mit einem charmanten Lächeln: „SM wird nicht unbedingt immer als etwas Hartes empfunden, von denen, die es betreiben, sondern man kann halt auch sagen, dass Schläge eine intensive Form von Zärtlichkeit sind.“

Während Anais mit sanfter Erotik seine Leser becirct, kommt „Fleisch ist mein Gemüse“-Autor Heinz Strunk mit dem Holzhammer. Nach Charlotte Roches Megabestseller „Feuchtgebiete“ sah sich der Hamburger Musiker, Schauspieler und Schriftsteller genötigt, eine männlich-derbe Antwort abzuliefern. „Fleckenteufel“ heißt das schmale und zum Teil auch absichtlich schale Schnellschusswerk. Der Held Thorsten Bruhn ist ein daueronanieren-der, ständigen Entleerungsdrang verspürender Sechzehnjähriger, der im Discojahr 1977 auf eine Kirchenfreizeit fährt und jeder erdenklichen Körperöffnung hinterherhechelt: sowohl jener seiner männlichen und weiblichen Mitchristen, allerdings auch den eigenen. Auf 190 fäkalhumorigen Seiten komponiert Heinz Strunk ein angemessenes Ekelwerk, dessen Reiz im Spannungsraum zwischen Morgenandacht („Jeder Christ ein Gitarrist“) und Klomomenten („Durch leichten Druck auf die Rosette…“) liegt. Die Stärke des Autors liegt in lautmalerischen Wortkaskaden, die Darmluft imitieren und allein für hartgesottene Leser erträglich scheinen. Es hätte schlimmer kommen können, und es bleibt bewundernswert, wie hypesicher Heinz Strunk einen Trend ironisiert und den Ekel pseudo-kultiviert.

„Cirkus Les Mémoires“ heißt der schwärmerische New-York-Roman von Petra Hulová im tschechischen Original. Die 1979 in Prag geborene Autorin erzählt auf 350 Seiten von Tereza und Ramid, zwei Gestrandeten im wilden Osten Amerikas, zwischen Bronx, Manhattan, Chinatown. Tereza, glutäugig und backfischjung, ist mit Fotos und einer Menge Hoffnung aus Tschechien angereist. „Irgendwer wird hier ein Buch mit ihren Fotos verlegen und sie kehrt wieder zurück“, glaubt sie anfangs, „bis dahin wird sie von Tür zu Tür wandern, wie man es in Filmen sieht. Wer etwas kann, wird früher oder später von jemandem wahrgenommen.“ Dieser jemand ist in Terezas Fall der wesentlich ältere Orientale Ramid, ein Perser, der 20 Jahre vor ihr aus dem Nahen Osten nach New York gekommen ist, zusammen mit dem hungerleidenden „Cirkus Les Mémoires“. Ramid trifft Tereza zufällig auf einer Parkbank in Manhattan und hält die junge Frau für die von seiner Mutter vorhergesehene große Liebe. Die beiden finden zusammen und „Manches wird geschehen“, wie der ungefähr und ungefährlich klingende Titel ins Deutsche übertragen wurde. Petra Hulovás Kunstgriff besteht darin, weniger von der tatsächlich passierenden Beziehung, sondern vor allen Dingen von den verwickelten Vergangenheiten der beiden zu erzählen. Sie lädt ihre großstädtische Liaison dadurch mit kinogroßem Timbre auf – und um Kino und die verführerischen Trugbilder des Kinos, wird es nebenbei auch gehen. Von Kinobildern angelockt sind Terza und Ramid abgehauen, haben ihre Kriege, Feuer und Schlachtfelder hinter sich gelassen und das Größte, was ihnen zustoßen wird, ist die Sehnsucht nacheinander. „Manches wird geschehen“ ist ein poetisch schöner, beiläufig blühender Liebesroman, bei dem bis kurz vor Schluss unklar bleibt, ob die Gestrandeten ihre zarte Liebe im wilden Dschungel erhalten können – ober ob sie scheitern und Versprengte bleiben werden, in Leben und Welten, die für ihre Gefühle eigentlich zu kalt, rau, riesig erscheinen. Ein tschechischer Traum, übersetzt vom Wiener Autor Michael Stavaric („Stillborn“, „Magma“)

 

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