Türkische Literatur: Im Bonbonpalast

Krummsäbelschlachten auf der Müllkippe, Dates mit blauen Mätressen, Transsexuelle und ihre Umschnalldildos: Das ist ebenso harter wie märchenhafter Stoff aus der Türkei, ab Mittwoch Gastland der Frankfurter Buchmesse. Es gibt viel zu lesen: und es ist verdammt gut. (Das Beitragsbild kommt von Wikipedia)

1001 Nacht und ebenso viele Tage reichen kaum aus, um sich satt zu lesen: In diesem Herbst erscheinen unzählbare Übersetzungen aus dem schönen Land am Bosporus. Nobelpreisträger Orhan Pamuk begeistert mit seinem epochalen Liebesroman „Das Museum der Unschuld“. Popstar Murathan Mungan schreibt über ein Land im Nachkriegszustand. Elif Shafak führt durch den irrwitzig-chaotischen Bonbonpalast. Bei Sebnem Isigüzel werden Müllkippenbewohner mit dem Krummsäbel enthauptet. Perihan Magden schickt zwei junge Mädchen durchs nächtliche Istanbul und eine Anthologie präsentiert die coolsten Schriftsteller des Goldenen Horns.

Es lohnt sich aus vielen Gründen, einen Blick in die junge, türkische Literatur zu riskieren: Es gibt eine Menge türkischstämmiger Autoren in Deutschland, zum Beispiel Feridun Zaimoglu, der immer wieder betont, dass er sich von der großen, orientalen Erzähltradition beeinflussen lässt. Aber jetzt mal Hand aufs Herz: Kennen wir davon irgendetwas? Das ist der erste Grund. Außerdem ist in den letzten 30 Jahren eine Menge in der Türkei passiert, was auch in den Romanen auftaucht: Anfang der 80er Jahre gab es einen blutigen Militärputsch, der bis jetzt nicht vollständig aufgearbeitet worden ist. Dann liegt die Türkei recht ungemütlich zwischen Europa und Asien, es grenzt im Süden direkt an Syrien, den Iran und Irak und bis jetzt ist noch nicht entschieden, in welche politische Richtung es gehen soll. Dieser Bücherherbst ist wirklich heiß! Hier ein paar Beispiele:

Sex and the City

unser_istanbul-9783833305573_xxlEs geht um notgeile Ehefrauen, Umschnalldildo liebende Transvestiten, um Polizei-Folterkammern und um die heißeste Metropole der Türkei: „Unser Istanbul“ versammelt zwölf hippe Autoren und ist ein perfekter Einstieg. Es gibt eine kurze, verständliche Einführung, bei der man zum Beispiel erfährt, dass Staatschef Recep Tayyip Erdogan „keine Gelegenheit auslässt, die Wichtigkeit von Bildung in der Informationsgesellschaft zu unterstreichen.“

Gleichzeitig gibt er freimütig zu, „dass er keine Zeit fände, Bücher zu lesen, und dass er seine Berater für sich lesen lassen würde.“ Die Anthologie ist frisch, mit Asli Ilgi Kopuz (Jahrgang 1982) als jüngste Vertreterin. Die Themen sind mutig. Die Sprache: Märchenhaft bis derb, mit Speed-Dialogen, Traumszenen, Liebesschwüren, Gewaltausbrüchen, Absurditäten: „Ob Katzen wohl Menschen fressen, mein Freund?“ Cool gemacht.

Constanze Letsch (Herausgeberin): „Unser Istanbul“, BvT, 220 S., 8,90 Euro

Der Müll, die Stadt und der Tod

51V3n3nzF8L„Die Ehefrauen werden es zwar kaum glauben, aber: Nicht die Mätressen ziehen über sie her, sondern ihre eigenen Ehemänner.“ Im wunderbar geschwätzigen Istanbul-Roman „Der Bonbonpalast“ wird gelästert, palavert, getrickst und gealbert. Die 1971 geborene Elif Shafak erzählt im amerikanischen Tempo und mit orientalem, blutvollen Herz. Es geht um eine durchgeknallte Hausgemeinschaft, um das kauzige Brüderpärchen Cemal & Celal, um die saubersüchtige Hygiene-Tijene, die ihre Wohnung mit den Fingernägeln schrubbt, um Hadschi Hadschi und seine Familie, um den Derwisch „Standaufundmachtesichdavon“. Es gibt einen versoffenen, Schlampen abschleppenden Ich-Erzähler, regnende Kleider, einen herzschwachen Lover, eine Messie-Madam, außerdem um jede Menge Ungeziefer: „Das scheint mir kein Wohnhaus, sondern eine Irrenanstalt zu sein.“ Großer Lesespaß für kalte Kakaosamstage – bis zum unerwartet verstörenden Romanende.

Elif Shafak: „Der Bonbonpalast“, Eichborn, 470 S., 19,95 Euro


„Staub, nichts als Staub“

41ilcNoF39L._SY344_BO1,204,203,200_In der Türkei wird dieser Mann wie ein Popstar verehrt. Ihn selbst interessiert das nicht: „Mir geht es allein um die Literatur“, sagt Mungan im Interview, „man wird viel zu schnell in irgendwelche Schubladen gesteckt.“ Sein Roman „Tschador“ spielt in einem unbekannten Land nach einem nicht näher beschriebenen Krieg. Menschen wurden wie Tiere auf öffentlichen Plätzen hingerichtet. Es gab Folter, Verschleppungen, Tod. Der Krieg hat Trümmer und Verwundete zurückgelassen. In diese Hölle kehrt ein junger Mann aus dem Exil zurück. Er sucht seine Familie, unsicher, ob irgendwer überlebt hat. Er sucht im Staub und in den Städten. Aber „überall schien die Todesfurcht Gestalt angenommen zu haben.“ Verzweifelt wendet er sich an Wahrsager, an Fremde, an einen düsteren Antiquar, irrt umher. Er verkleidet sich, schlüpft in eine Burka, sucht, vom schwarzen Ganzkörperschleier verhüllt, nach den Resten seines Lebens. Atemlos. Finster. Große Literatur. Zum Weiterlesen: Murathan Mungans Geschichtensammlung „Palast des Ostens“, gerade im Unionsverlag erschienen. Murathan Mungan: „Tschador“, Blumenbar, 120 S., 15,90 Euro. „Palast des Ostens“, Unionsverlag, 260 S., 9,90 Euro


Ekstase, Trommeln, Tanz, Tanz, Tanz

3293100104Der Schweizer Unionsverlag hat mit seiner umfangreichen „Türkischen Bibliothek“ die Crème de la crème des Gastlandes im Programm. Großartig ist „Die Stadt mit der roten Pelerine“, den die Physikerin Ash Erdogan veröffentlicht hat. Darin schlägt sich eine junge, türkische Akademikerin mehr schlecht als recht durchs höllenheiße, hochsündige Rio de Janeiro. „Ich kann in Restaurants, Bars oder auf Gehsteigen tanzen, in Bussen rauchen oder mit jedem beliebigen Mann schlafen. Hier habe ich den Freibrief, meine niedrigsten Triebe voll und ganz auszuleben“, gibt sie freimütig zu und lässt alles kommen: „Ekstase, Trommeln, Tanz, Tanz, Tanz, Tanz.“ Nebenbei schreibt sie an einem Roman, der noch wilder, blutiger, erotischer, ausgelassener daherkommt als die vielen Szenen in einer Stadt, wo Zivilpolizisten Entführungen organisieren, mit Koks dealen und arme Slumbewohner auf der Straße masturbieren. Schweißtreibend wie die windstille Hitze in Rio.

Asli Erdogan: „Die Stadt mit der roten Pelerine“, Unionsverlag, 206 S., 19,90 Euro


In The Mood For Love

41yrguYo-LL._SY344_BO1,204,203,200_Perihan Magden ist eine der nervenaufreibendsten, mutigsten, modernsten Schriftstellerinnen der Türkei. Ihr 2002 im Original und vor wenigen Wochen als Übersetzung in Deutschland erschienener Poproman „Zwei Mädchen: Istanbul-Story“ ist rasend schnell. Es geht um zwei Mädchen, um die rebellische Behide und die schöne Handan, die 19 Tage durch Istanbul hetzen, feiern, vögeln, driften. Dieses Buch hätte sofort auf deutsch erscheinen müssen, dann wäre der Spontanvergleich mit Nick Hornby, Irvine Welsh, mit Benjamin von Stuckrad-Barre und Marc Fischer noch prägnanter gewesen. Denn Perihan Magden erzählt aus dem gleichen Leben, aus dem (damaligen) Jetzt, aus einer Großstadt, die zufällig Istanbul heißt, aber auch London, Los Angeles oder New York heißen könnte. Man betrinkt sich im TGI Friday’s, The Cure werden heilende Kräfte zugesprochen, wie im „Irre“-Roman von Rainald Goetz. DKNY-Shirts, Britney Spears, GAP, Linkin Park, Toblerone, Audi S3: Hier bekommt alles seinen (Marken-)Namen, das ist nicht unbeholfen literarisiert, sondern schnell, schnell, schnell: Ganz weit vorn. Perihan Magden: „Zwei Mädchen“, übers. v. Johannes Neuner, Suhrkamp, 324 S., 9,90 Euro


Noch mehr Müll, Terror, Tod und Tränen

41rtVO2RyIL._SY344_BO1,204,203,200_„Am Rand“ heißt Sebnem Isigüzels Debütroman in der deutschen Übersetzung. In der Türkei erschien er unter dem lakonischen Titel „Müll“. Das klingt ekelig, hat auch einen Grund, den Sebnem vor wenigen Tagen im Interview auch erklärte: „Ich habe einen Roman geschrieben, der sehr politisch ist“, sagte die junge Autorin. „Er ist dieser Tage in der Türkei erschienen und handelt von den letzten 30 Jahren und es geht vor allen Dingen darum: dass die Länder, die es nicht schaffen, den Dingen ins Auge zu blicken, die Dinge, für die sie sich schämen, dass diese Länder schlichtweg auf den Müll gehören.“ Und damit meint sie auch die Türkei selbst. Es geht um eine gefallene Schachspielerin, um ihren Krummsäbel schwingenden, Köpfe abschlagenden Lover, um eine brutale Mutter-Tochter-Beziehung, um Vergewaltigungen, Schläge, um Assoziationen zum Thema Religion und Minarette. Wer zartbesaitet ist, sollte die Finger davon lassen, das Buch ist stellenweise sehr krass und wurde zu Recht mit Elfriede Jelineks „Die Klavierspielerin“ verglichen. „Am Rand“ ist dabei trostlos, man kann sich nicht hinter dem Erfundenen verstecken: „Die Stärken meiner Romane ist ihre Glaubwürdigkeit und dass sie die Leser dazu bringen, an das Erzählte zu glauben“, sagt die Autorin.

„In Korea habe ich während einer Lesung vor einiger Zeit erzählt, ich sei in einem Bordell aufgewachsen und hätte mich dann befreit. Mit sechzehn hätte ich noch lesen und schreiben lernen können. Das Publikum war geschockt, klar, und dann fragte ich: Habt ihr mir etwa geglaubt? Es war alles erfunden. Und das ist Literatur, das ist die Kraft, was Literatur vermitteln kann.“ Ganz großer Stoff! Sebnem Isigüzel: „Am Rand“, Berlin-Verlag, 432 S., 22 Euro

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1 Kommentar

  1. […] macht mir nichts aus, einen Mann zu verlieren.“ Dieser (wie der Held aus Murathan Mungans „Tschador“) heimlich in fremde Gefilde lugende Dichter verliert nun endgültig seinen Verstand und bildet […]

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