Audiolith und der Soundtrack einer Generation

„Das ist Kunst, mindestens in 1000 Jahren!“, skandiert das Electropunk-Trio Frittenbude und beschreibt ein neues Szenefeeling. Denn beinahe heimlich haben die musikalisch eher rückwärtsgewandten Nuller-Jahre kurz vor Schluss eine musikalische Kulturrevolution auf die Beine gestellt, die allen Retrowellen den dicken Mittelfinger zeigt. Politisches Bewusstsein trifft HipHop, Punk, Electroclash. Am gesellschaftlich linken Rand, wo das eingekreiste seit der französischen Jugendbewegung Jeunesse libertaire für Riot, Aufstand, Establishment-Hass und Gegenöffentlichkeit steht, haben bis vor Kurzem Punkgruppen wie Slime („Yankees raus!“), EA 80 (1979 unter dem martialischen Namen Panzerfaust gegründet) oder Crass (mit ihren legendären Bandhelden Steve Ignorant und Penny Rimbaud) den Soundtrack zum autonom-anarchistischen Lebensgefühl geliefert.

Die linken Jugendzentren haben Technopunk für sich entdeckt, jene Strömung, die 2001 noch für grenzenlosen Hedonismus stand, wie die Tiga & Zyntherius-Zeile: „I wear my sunglasses at night so I can so I can watch you weave then breathe your stormy lines“. Diesem Hedonismus wurde nun mit linkem Protestbewusstsein gekoppelt und die kulturpessimistischen Vorbehalte der früheren Punks („No future!“) eingemottet.

Für den großen (kommerziellen) Durchbruch ist an vorderster Stelle Lars Lewerenz (genannt Partymaschine Lewe) verantwortlich, Inhaber des Hamburger Labels Audiolith, die von Saalschutz bis Bratze beachtliche Indie-Scheiben auf den Markt bringen (am liebsten download-digital, weil für Audiolith die CD echt von gestern ist), aber auch immer gerne weiterhin für CD Sammler und Vinylfreaks Schalplatten pressen lässt.

Gestern, das war die Zeit, als Lars Lewerenz seine Jugend in einer Kleinstadt Schleswig-Holsteins verlebte, und sein Eingeschlossen-Sein mit lauter Musik kompensierte. „Ich habe mich immer an den coolen Jungs auf dem Schulhof orientiert, mir ihre Punk- und Hardcore Platten ausgeliehen, um sie auf Tapes zu überspielen, für den Walkman. Noch heute kenne ich fast jeden Slime-Text auswendig, kann aber stattdessen manchmal nicht mehr sagen, was vorgestern in irgendeinem Meeting besprochen wurde“.

Zeitgleich zum Punk-Unterricht belohnte ihn sein Vater, der Lehrer ist, Musiker in einer Band und damals MLPD-Mitglied. Weil Lewerenz auf den Konfirmandenunterricht verzichtete, bekam er seine erste Gitarre und die dazugehörenden Unterrichtsstunden. Seine Tanten steckten ihm „Ton Steine Scherben“-Schallplatten und Kassetten zu. Das klingt nach einer selten so gesehenen Jugend, in der Erziehungsberechtigte mit „Keine Macht für niemand“-Attitüde tatsächlich Freunde des Heranwachsenden sein konnten.

Die „Ton Steine Scherben“-Schallplatten und Kassetten besitzt der Audiolith-Chef mittlerweile nicht mehr. Die meisten Kassetten fielen kürzlich Umstrukturierungen im eigenen Haushalt zum Opfer – Nachwuchs wird erwartet, Platz wird Mangelware. Seine beiden Tapedecks hat Lars Lewerenz bei Facebook versteigert. So blieben besagte Decks immerhin im erweiterten Bekanntenkreis, eines ging nach Berlin, das andere wurde Richtung Stuttgart geschickt. Die Berliner Adresse freute sich auch noch über zwei Plastiktüten mit alten Punk/Hardcore-MCs, Radiomitschnitte der Bambule-Proteste, während der Hamburger Ronald Schill-Ära, als die Polizei im November 2002 auf Anordnung des Senats den Bauwagenplatz in St. Pauli räumte.

Die Bambule-Kassetten archivieren Drum & Bass, der bei den legendären Drumbule-Partys im Hafenklang-Club in der Großen Elbstraße aufgenommen wurden, außerdem ein paar Demo-Aufnahmen. Lars Lewerenz spielte in zahlreichen Hardcore-Bands und steht heute bei Click Click Decker („Wer hat mir auf die Schuh gekotzt“) am Bass. Zusammen mit Der Tante Renate, bürgerlich Norman Kolodziej (der wiederum mit Kevin von Click Click Decker, als Bratze musiziert) und mit Dennis Becker (Tomte) spielte Lars Lewerenz außerdem bei Dos Stilettos („Lowtechdisco“). Eine ethnologische Netzwerkanalyse nach Thomas Schweizer und Michael Schnegg würde also ein verdammt interessantes Gewebe ergeben.

Auf den schönen Namen The Dance Inc. hörte 2003 wiederum die erste Audiolith-Band und sie demonstrierte mit Titeln wie „Anarchist Artist“ anständigen Stolz einer neuen, linkspolitischen Jugend(sub)kultur. Auch wenn das kommerziell enorm erfolgreiche „Disco Pogo“-Label Atzen musikalische Ähnlichkeiten zum Audiolith-Portfolio aufweist, muss hier klar unterschieden werden zwischen Frauenarzt-Proletenkult auf der einen und diskurstheoretisch aufgeladenem Audiolith-Impetus auf der anderen Seite.

Während sich bei der Labelkonkurrenz aus Berlin alles um Verkaufszahlen und Marketing dreht (inklusive Atzenshop mit Shutterbrillen, Atzen-Konfettipistole und Atzen-Fruchtkondomen), bleibt Audiolith ob des Hypes gelassen. Lars Lewerenz wirkt geerdet, seine Ausdrucksweise, die Art wie er Dinge erzählt, ist „down to earth“. Er unterscheidet nicht zwischen Klofrau und Clubbetreiber, will mit allen klarkommen und weiß es sehr zu schätzen, dass er nicht mehr als Runner finanzielle Engpässe kompensieren muss.

Demut schwingt mit, wenn er immer wieder betont, dass er nicht weiß, wie lange das gut geht, wie lange er die Kids für sein Label und seine Bands begeistern kann. Auch deshalb bleibt der Firmenstamm schlank. Der Einzelkämpfer schmeißt die komplette Label- und Verlags-Arbeit, lediglich eine freiberufliche Aushilfe und ein Praktikant helfen mit und sein neuer Partner Artur Schock in Berlin, der sich um das Booking einiger Audiolith Bands kümmert

Lars Lewerenz hat den Willen und die Bereitschaft alles zu geben, und er erwartet die gleiche Professionalität auch von seinen Bands. „Ich verstehe mich nicht als Produzent. Die künstlerische Freiheit liegt beim Artist. Die Bands müssen sich mit der Platte ihr Publikum erspielen, sich eine Story aufbauen, ihren Style entwickeln. Wenn das nicht klappt, wird es eng. Ich habe schon oft an Bands geglaubt, denen genau das nicht gelungen ist. Die Künstler müssen Freunde sein oder Freunde werden können sonst funktioniert das Ganze nicht.“

Die Punksozialisation mit seinen vielen Kassetten, ist hier eine Art Grundausbildung gewesen. „Ich habe nie ein Buch gelesen, das beschreibt, wie man ein Label betreibt oder welche Marketingstrategien es gibt. Ich habe immer alles aus dem Bauch heraus gemacht.“ – Beim Zelten mit seiner Freundin kam ihm die Idee, einen Bus zu chartern und die beinahe zeitgleichen, neuen Veröffentlichungen der Bands Egotronic, Frittenbude und Bratze mit einer gemeinsamen Kleinstadt-Tour zu promoten. Neben den Bands und dem Label-Boss und Freunden sollten auch ein paar Journalisten mitreisen.

Lars Lewerenz war überrascht, als sich tatsächlich einige Medienvertreter anmeldeten, die noch vor gar nicht langer Zeit Audiolith als Kinderkram bezeichneten und vor allem die Feuilleton-Tür fest zusperrten. Selbst ein Arte-Kamerateam checkte ein und berichtete für das Magazin Tracks über die Audiolith-Klassenfahrt im Fidibus. Diese Ochsentour gehört zum Rock´nRoll- Mythos des Labels, ihr Provinzaktivismus zur Philosophie: „Ich bin eben auf dem Land groß geworden und weiß, dass man dort noch was bewegen kann, dass die Kids nicht so übersättigt sind wie in der Großstadt, wo jedem Abend unzählige Shows stattfinden. Konzerte in der Kleinstadt sind immer ein Ereignis.“

Update: 2019: Der Rest ist Geschichte, und der Audiolith-Act „Feine Sahne Fischfilet“ nicht nur bekannt unter linken Punk-Fans, sondern auch unter jenen, die sich gegen eine offene Gesellschaft stellen, denn: „Der Rechtstaat wird mit den Liedtexten unverhohlen angegriffen, und linksradikale Personenpotenziale zappeln zu solch perversen Liedtexten in unserem Bezirk. Spandau ist weder ein Wallfahrtsort für Rechtsextremisten noch die Chaosbühne für Linksextremisten“ (aus einem hier zu lesenden Tagesspiegel-Artikel). Seit einigen Jahren sind Audiolith-Konzerte nicht nur auf dem Land automatisch ein Ereignis, aus rein politischen Gründen; und sehr ist den Acts zu wünschen, dass am Ende wieder das gelten darf, was am Anfang stand, nämlich: „Das ist Kunst, mindestens in 1000 Jahren!“

Dieser Text ist eine erweiterte Fassung aus dem Eichborn-Buch „Kassettendeck – Soundtrack einer Generation“, 2011 erschienen. Das Beitragsbild zeigte einen nicht realisierten Coverentwurf.

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