Alles muss raus!

Bikinimädchen, Fußballfans und Stadtparkprolls – alle zieht die Hitze nach draußen. Dabei gibt es im Sommer nur einen Ort, an den es sich zu gehen lohnt. Ein Lobgesang auf die Freiluftkinos. (Das Beitragsbild ist von Wikipedia und zeigt ein Promenadenkonzert für Strandurlauber auf Borkum, 1921.)

Nach tausendjähriger Schutzsuche in Höhlen, Hütten und Häusern, zieht es beinahe jeden modernen Menschen sommers hinaus, zur Hitze. Bereits morgens wird unser Frühstückstisch trotz Fliegenplage im Freien süß eingedeckt. Mittags speist der sonst unter Klimaanlagen Leidende auf Restaurantveranden. Selbst feiner Sand in heißen Augenwinkeln hindert keinen Adria-Urlauber, nahe der Wellen, am Strand, zu campieren. Seit der Fußball-WM ist dieses Land ein Open-Air-Areal, ein Freilichtmuseum, das Fahnen und Bewohner gleichermaßen an die frische Luft setzt. Wer bierbäuchig Klinsmannsiegen beim Public-Viewing entgegenfieberte, irrt nun durch die Straßen und Gassen, sucht Anschluß und Sitzgelegenheiten unter freiem Himmel. Er findet wesentlich mehr als das.

Die Bäckereien offerieren ihre von Backtriebmittel aufgeblähten Zuckerkuchen wespenfreundlich in der Fußgängerzone. Parkgelegenheiten vor Szenekneipen verwandeln sich in Grill- und Freisaufplätze. Das Freibad rückt näher Richtung Innenstadt, die zum Bikini-Catwalk für Mädchen und Großmütter wird. Früher gab es draußen bloß Kännchen, nun stülpt sich jeder Raum nach außen. Selbst die Mobilfunkbetreiber beauftragen Erstsemster-Jobber, erschöpften Passanten unter offenem Himmel Flatrates anzudrehen. Die Sonne, sie sticht und stört, aber wir dürfen nicht stöhnen. Mutters alter Spruch: „Kind, geh doch mal raus, spielen“, ist inzwischen flächendeckende Drohung, gesellschaftliche Konvention, bleiche Körper ein Affront für alle. Als sei Hautkrebs nicht ebenso ein vermeidungswürdiger Makel.

Dabei gibt es in den Städten eigentlich nur einen einzigen Freiluftort, an dem man wirklich entspannen kann und sich des warmen Wetters erfreuen: Das Open-Air-Kino. Während im Biergarten beschwipste Weizentrinker tremolieren, die Rebenschoppen-Berber vor Tankstellen aufbegehren und erste Stadtparkschlägereien neben erloschenen Einweggrills entbrennen, sitzen kluge Kultur- und Kinofreunde still vereint in Plastiksesseln und starren erwartungsfroh auf Leinwände. Cineasten finden hier ihre Chroniken und Rückblicksausgaben, sammeln Filmerlebnisse wie Kinder Panini-Aufkleber. „Sommer vorm Balkon“, „Elementarteilchen“ oder „History of Violence“. Man kann die Erstaufführungen dieser Kinohighlights gelassen verpassen. Sie erscheinen schnell auf DVD oder eben hier, geballt in den späteren Sommermonaten, wenn es abends früher dunkelt.

Popcorn wird open air selten verkauft, die Lärmbelästigung durch Kaugeräusche gegen sanftes Blätter- und Autorauschen eingetauscht. Es darf geraucht werden und falls die Luft kühlt, schützen Wolldecken die kurzbehosten Beine. Regen fällt dagegen trommelnd auf eilig hochgezogene Planen, das ist romantisch und jedes Rendezvous gelingt so leicht wie Tütensuppenkochen, mindestens. Meist weht zarter Wind und Kinoatmosphäre, die Multiplexe längst vermeidet, wärmt noch den letzten Citizen wie ein winterlicher Hüttengrog. Langsam wird jeder in seinen Schlummer gewogen und der schlimmen „Sommerhitze“-Halberotik des Fernsehens entzogen. Wir brauchen nicht unbedingt mehr Open Air, aber mit Sicherheit mehr Freiluftkinos!

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