Es hat nach dem Expressionismus und Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ eine Weile gebraucht, bis die Stadt wieder ins Zentrum der deutschsprachigen Literatur gerückt ist – damit übrigens den gleichen Weg gehen wie der deutsche HipHop, in dem Stadt auch erst mit den Fantastischen Vier thematisiert wurde. Natürlich spielt gefühlt jeder dritte deutsche Roman in Berlin – aber nur selten ist die Geschichte wirklich urban. Hier gibt es vier komplett verschiedene Beispiele für Stadt in Buchform: als kulturwissenschaftliche Studie, als avantgardistischer Tokio-Thriller, New York-Paranoia und als Zürcher Science Fiction. (Das Beitragsbild zeigt das ägyptische Kairo.)
EINS Die Stadt als Open-Source-Phänomen beobachtet der Kunsthistoriker und „Die Zeit“-Redakteur Hanno Rauterberg in seiner zwischen Kulturwissenschaft und Feuilleton changierenden Untersuchung über das urbane Leben in der Digitalmoderne (aus der eben dieser Open-Source-Gedanke entlehnt ist). Rauterberg zeigt, wie Leben in die Stadt kommt und sich von der anonymen Ansammlung vielzahliger Funktionsbauten verwandelt hat in eine Arena des kollektiv ausgelebten Individualismus. Die Stadt als Labor, mit Pop-Up-Stores, Shared-Spaces, wilden Gärten. „Mag der Rest der Stadt mit ihren materiellen Gütern, den Immobilien, auch statisch wirken, der Raum besitzt eine mobilisierende Kraft: als gehörte er dem reich der Ideen an, obwohl er zugleich immer eine Sphäre der realen Mächte ist. Gerade dieser hybride Charakter macht ihn so reizvoll und unersetzlich.“ Verkehrsschilder werden abgebaut, neu geschaffen oder umfunktioniert, Werbeplakate (Adbusting) verfremdet, in ihrem Sinn verdreht, Laternenpfähle umhäkelt, das Urbane nicht allein als
Kampfzone (für Demos, Hausbesetzungen), sondern auch als Spielzone verstanden – mit Flashmobs oder, das konnte Rauterberg nur vage antizipieren: natürlich mit den PokemonGo-Ralleys des Jahres 2016 – obwohl es schon 2013, bei Erscheinen des Buchs, Location-based-Games gegeben hat, Augmented Reality Games, Pervasive Games oder Geosocial Games. Recht auf Stadt, für alle, und sehr unterhaltsam durchdacht. (Hanno Rauterberg: „Wir sind die Stadt! – Urbanes Leben in der Digitalmoderne“, Suhrkamp, 160 Seiten, 12 Euro)
ZWEI Ein Amtsarzt betritt 1948 eine Bankfiliale in Tokio, behauptet, er müsse allen Angestellten ein Mittel gegen Ruhr verabreichen – und vergiftet jeden Einzelnen, bevor er mit einem Teil der Geldvorräte verschwindet. Der zweite Teil von David Peace‘ Tokio-Reihe kommt noch abgründiger daher als der Anfang der Reihe „Tokio im Jahr Null“ von 2009. „Diese Stadt ist ein Gefängnis. Die Straßen und Häuser. Dieser Raum ist ein Gefängnis. Stuhl und Pritsche. Dieser Körper ist ein Gefängnis.“
Hier treten nicht mehr Ermittler und Verbrecher gegeneinander an, als Personen, sondern es sind sich bekämpfende Kollektive: Das gesichtslose Ermittlerkollektiv gegen das ebenfalls gesichtslose Prinzip von Chaos, Krieg und Verderben. Literarisch ganz weit oben, aber nichts für Klaustrophobiker. Wahnsinnskriminalroman, die Stadt als das ungesichert Wilde. (David Peace: „Tokio, besetzte Stadt“, übersetzt von Peter Torberg, Liebeskind, 354 Seiten, 22 Euro)
DREI Lowboy ist sechzehn, paranoid schizophren und ohne seine Medikamente aus der Nervenheilanstalt ausgebrochen. Wie er da reingekommen ist? Angeblich hat Lowboy seine Freundin auf die U-Bahn-Gleise geschubst – Tatsächlich hat sich der Junge nur losgerissen, weil er nicht von ihr umarmt werden wollte. Das ist natürlich nicht weniger krank, dafür zu bemitleiden. Dieser Junge irrt durchs U-Bahnnetz von New York, während seine nervöse Mum auf der Polizeiwache sitzt: „Mein Sohn wird nichts Unrechtes tun.“ Da ist sich Profiler Ali Lateef keinesfalls sicher. Gemeinsam brechen die zwei gegensätzlichen Erwachsenen auf, um den jungen Mann einzufangen. Lateef erkennt allerdings viel zu spät entdecken, wer ihn hier exakt an der Nase herumführt. Das ist spannend, schnell; und irrsinnig komisch. Die beste Szene gibt es unter Tage, nachdem die seltsame Rafa den Streuner Lowboy kennengelernt und vor der Polizei versteckt hat, bis der Officer zu ihr hinabschaut, durchs Gitter und sagt: „Riecht gut da unten, Rafa. Als ob du dir was gekocht hättest.“
„Ich hab‘ Crack geraucht, Officer Martinez“, sagte Heather Covington fröhlich. „Irgendwie muss man sich ja die Zeit vertreiben.“ Und gerade Lowboy hat viel Zeit, bevor die Geschichte zu Ende geht und seine Welt, „Fightclub“ nicht unähnlich, in Flammen aufgeht. Bis dahin will Lowboy, der „Retter der Welt“, ausgerechnet den bösen Klimawandel stoppen, indem er geheime Botschaften befolgt, die schubweise sein Teenagerhirn fluten. Ein Wettlauf zwischen der mütterlich-warmen Welt des Tageslichts und der kalten-vaterlosen Welt der ewigen U-Bahn-Nacht entwickelt sich zu einer mystischen Reise zu den verdrängten Ängsten Amerikas. Der amerikanisch-österreichische Autor John Wray ist ein großer Könner, inspiriert von der frühen Phase Paul Austers („Die New York Trilogie“) – mit seinem Vorbild auf Augenhöhe. Der 1971 geborene Mann ist zweisprachig aufgewachsen, spricht Deutsch mit einem wunderbaren österreichisch-amerikanischen Akzent, geht mit Haruki Murakami („Naokos Lächeln“) in Brooklyn Jazzplatten kaufen und singt selbst in Karaoke-Bars: „Die frühe Phase von David Bowie habe ich ganz gut drauf.“ John hat in Wien studiert, „Anglistik, weil ich es mir einfach machen wollte“, dort die Programmkinos unsicher gemacht, anscheinend ganz genau hingesehen, wie man gute Geschichten aufbaut und für sich erkannt: „Ich kann nur Romane schreiben.“ Das gelingt John Wray brillant. „Retter der Welt“ ist ein großes, aufregendes, ungemein lebendiges Buch. (John Wray: „Retter der Welt“, übersetzt von Peter Knecht, Rowohlt, 352 Seiten, 19,90 Euro)
VIER Wir befinden uns in der Zukunft: Günter Hacks Erzähler hat alle 3561 ALDI-Filialen in Deutschland abfotografiert, um danach Richtung Zürich zu reisen. Dort soll er einen legendären Film auftreiben, der Mitte der 1960er Jahre bei den Dreharbeiten zu Michelangelo Antonionis “Blow Up“ entwendet wurde. Diese verschollenen Bilder sind ein Vermögen wert. Doch schnell stellt sich die Frage, ob der Wert im Verhältnis zu jenem Preis steht, den der Mann bezahlen wird. Denn Zürich oder “ZRH“, so die internationale Flughafenkennung, ist inzwischen ein unheimlicher Sündenpfuhl, ein kapitalistisch verseuchtes Drecksloch, in die Händen einer ominösen “Schwarzen Zunft“ gefallen. Die Suche nach ein paar Fotos entwickelt sich zum Zukunftsthriller der Extraklasse. ZRH hat alles, was ein Cyberpunk-Märchen in der Tradition von William Gibson und Bruce Sterling braucht: Der Staat ist längst aufgelöst, von Monopolisten ausgehöhlt. St. Gallen wurde an ein britisches Konsortium verkauft, das nun einen Vergnügungspark baut und Atommüll im Kantonsgebiet lagert.
Die neuen Technologien, die Deal mit Körpern und Seelen ermöglichen, stürzen unsere Welt ins düstere Unglück. Selbst das saubere Zürich unserer Tage ist kaputt, verranzt, unsicher, eine Kopie des eingeschlossenen BRD-Berlins in den 80er Jahren. Zwischen anonymen Fassaden verliert sich der einsam Suchende, der einen desillusionierenden Blick in verschiedene Konsum- und Weltanschauungshöllen werfen darf. Souverän puzzelt “ZRH“ mit schwarzen Zünften, dem unheimlich Nichts, mit dunklen Visionen und Paranoia. (Günter Hack: “ZRH“, FVA, 270 Seiten, 19,90 Euro)