Tina Soliman: „Ghosting“

Die mehrfach, unter anderem mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Journalistin Tina Soliman beschreibt in ihrem neuen Buch, welche Gefahren entstehen durch einen totalen Kontaktabbruch, durch das Blockieren von einem ursprünglich nahestehenden Menschen – und was „Sandbergs Liebe“ damit zu tun hat.

Zahlreiche toxische Beziehungsbegriffe unserer Gegenwart haben ihren Platz in Tina Solimans empfehlenswertem, gerade bei Klett-Cotta erschienenem Band „Ghosting. Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter“. Es kommen vor: Gaslighting, Banking, narzisstische Persönlichkeitsstörungen, Borderline, emotionaler Missbrauch, Cashioning, Firedooring, PTBS, Orbiting und Manipulationen. Bereits in ihren vorherigen Veröffentlichungen hat sich Soliman beschäftigt mit Kontaktabbrüchen und Funkstille-Verhalten. Fürs ZDF und den NDR hat sie Filme gemacht wie „Für mich bist du gestorben – Wenn Menschen plötzlich den Kontakt abbrechen“ (2007). Der Falter aus Wien schreibt über ihr Buch: „In eingängiger Art bekommt man tiefe Einblicke in einen abgründigen Teil der Welt voller Schmerzen, Scham und menschlichem Versagen. So düster das sein mag: Soliman gelingt es zu erhellen, wer hier warum geistert und wie Menschen damit umgehen können.“

Strukturiert nähert sich Soliman dem Ghosting-Phänomen vom Begriff aus: „2015 nahm der Collins, eines der wichtigen englischen Wörterbücher, ‚Ghosting’ sogar als feststehenden Begriff in seine neueste Ausgabe auf und erläuterte das Phänomen wie folgt: ‚Das Beenden einer Beziehung durch den plötzlichen Kontaktabbruch.’“

Hernach wechseln von ihr recherchierte Fallgeschichten, psychologische Einschätzungen und Interpretationen literarischer wie nichtliterarischer Bücher. Die Lektüreliste ist lang, beginnt mit Joachim Bauer: „Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern“ und endet bei Hanya Yanagiharas „Ein wenig Leben“. Dazwischen sind Romane von Mirko Bonné und Philippe Besson, Klassiker wie Marie-France Hirigoyens „Masken der Niedertracht“, Fritz Riemanns „Grundformen der Angst“ und Eva Illouz’ „Warum Liebe endet“.

Sie beschreibt, wie das Internet und Datingplattformen Ghosting begünstigen, warum der moderne Mensch an seinen (Liebes-)Ansprüchen scheitert und sie fragt: „Was wollen wir überhaupt? Ein Happy-End schon zu Beginn?“ Das Buch referiert Fakten wie diese: „Laut Studien haben 80 Prozent aller Millenials (Singles zwischen 18 und 33) die Erfahrung des Ghostings bereits einmal gemacht. Für etwa 95 Prozent der Bevölkerung ist Ghosting als Methode, um eine – längerfristige – Beziehung zu beenden, allerdings völlig inakzeptabel.“

Es ist dieser klar am dokumentarfilmischen Erzählen geschulte Feature-Stil, der an Solimans Buch imponiert. Sie hat mit Psychologen, Therapeuten, Soziologen und Beratern von Partnervermittlungsplattformen gesprochen, und sie findet gute Bilder, macht beispielsweise darauf aufmerksam, dass der idealisierte Geist bereits zu Beginn einer Beziehung in die Flasche hineinprojiziert wird. Gaslighting kommt vor, und Soliman schreibt: „Gaslighting gilt im Übrigen in England seit 2015 sogar als schwere Straftat. Aus psychiatrischer Sicht handelt es sich dabei um eine der niederträchtigsten und effektivsten Formen emotionalen Missbrauchs“.

Von dort aus ist es nicht weit bis zu „Sandbergs Liebe“, einem weiteren Fallbeispiel, mit dem Soliman exakt trifft, in welcher Weise der Roman nicht nur vom Gaslighting, sondern auch vom Ghosting berichtet. Dieses Kapitel ist überschrieben mit: „’Die Stille macht verrückt’ oder: Die Attacke der Abwesenheit“. Erzählt wird zunächst von Laura, deren Leben begann mit dem wortlosen Verlassen ihres Vaters, als sie noch ein Baby war. Diese Art von Abschiednehmen „dauert ständig an, es hört nie auf. Man fühlt sich jemandem nah, der doch nicht erreichbar ist.“ Noch einmal wird beschrieben, welche seelischen Folgen Ghosting haben kann.

„Ähnlich wie ein Suizid stellt auch der plötzliche Kontaktabbruch bei denen, die zurückbleiben, das gesamte Leben vor dem Verlust radikal in Frage. Was bisher als einigermaßen funktionierend empfunden wurde, wird nun im Rückblick zu einer Ansammlung von Fehlverhalten und versäumten Chancen. Wer vertrauensvoll war, wird dies im Nachhinein als naiv bezeichnen. Wer Kontrolle ausgesetzt war, wird dies nachträglich als Bevormundung erkennen müssen. Trennungsabsichten können ebenso zum Schuldfaktor werden wie die Weigerung, eine Beziehung zu beenden. Klärende Gespräche werden im Rückblick als Überforderung des verlorengegangenen Menschen interpretiert, nicht geführte Gespräche als verschenkte Möglichkeiten, das Geschehene vielleicht zu verhindern.“

Interessant ist hier der Gender-Aspekt. Der Psychologe Eric Hegmann, der einen eigenen YouTube-Kanal hat, auf dem er beispielsweise berichtet, wie sich die Beziehung mit einem Narzissten anfühlt (hier), wird im „Ghosting“-Buch zitiert mit den Worten: „Gerade Männer sind gefährdet, nach einer Trennung depressiv zu werden. Die Suizid-Rate unter der Gruppe der verlassenen Männer ist erschreckend hoch.“ Bemerkenswert ist, dass ein Vermeidungsverhalten einsetzt, der Verlassene selbst zum „Ghost“ werden kann, den Kontakt leichthin abbricht.

Nochmal Hegmann: „»Das Problem ist: Man gerät in eine Spirale. Mein Selbstwert wurde verletzt dadurch, dass ich geghostet wurde. Das heißt, der nächste Partner, den ich suche, der soll noch verbindlicher, noch selbstsicherer wirken als der vorherige. Selbstsicherheit und Verbindlichkeit vorgaukeln ist aber die leichteste Übung von vermeidenden Bindungstypen. Deswegen sind die auch so interessant.“ Erwähnt wird, dass auch Borderliner typische Kontaktabbrecher sind – womit wir mitten im Roman „Sandbergs Liebe“ sind, über den Tina Soliman schreibt:

„Überall Geister und Vampire. Und die fühlen sich offenbar besonders wohl im digitalen Zeitalter. Sie legen virtuell den Zugang zum Aussaugen, umwerben ihr Opfer mit Liebesbekundungen und Komplimenten, lassen es kaum zum Nachdenken kommen, indem sie auf allen verfügbaren Plattformen ihr Opfer belagern. Schließlich kommt es zu einem ersten analogen Kontakt, der von seinem Opfer meist als »zu schön, um wahr zu sein« empfunden wird. Und schon schnappt die Falle zu. Es kommt zu weiteren Kontakten, bei denen sich der Vampir als zumindest widersprüchlich erweist, seine Geschichten erscheinen unglaubwürdig. Der Vampir liegt dem Anderen chronisch auf der Tasche. Dazu ist keine Ausrede billig genug. Nachfragen werden brüsk abgewiesen, der Andere zerstöre alles mit seinem Misstrauen. Das Opfer fühlt sich schuldig und irritiert. Zu Recht: Psychische Unzuverlässigkeit blockiert die Orientierungsmöglichkeit. Der Vampir schafft absichtlich Unsicherheit, um sein Opfer gedanklich zu lähmen.

Mal entzieht sich der Vampir dem Kontakt, verhält sich völlig asozial, um sich dann wiederum als Opfer darzustellen. Die Schuld liegt immer beim Anderen. Und sind die Geschichten noch so abstrus – es ist immer der Andere, der sich täuscht. Der Andere wird so sehr gestresst, dass er kaum noch klar denken kann. Auf diese Weise hängen meist mehrere Opfer gleichzeitig am Tropf dieser meist narzisstisch gestörten Vampire, deren Leben auf Lüge und Betrug aufgebaut ist. Diese manipulativen Beziehungen müssen vor der unvermeidlichen Enttarnung mit einem Verschwinden enden.

Der Autor Jan Drees beschreibt in seinem Roman »Sandbergs Liebe«, der auf einer persönlichen Erfahrung beruht, wie eine kurze, aber heftige Beziehung, angebahnt auf einer Dating-Plattform, »ein komplettes Bewusstsein zerstören konnte«, wie Protagonist Kristian sagt. Kristians Intuition riet ihm, sich nicht auf Kalina einzulassen, da schon in ihren ersten Sätzen unvereinbare Widersprüche steckten. Doch er, der sich gerade in einer Phase des Umbruchs befand – und so eine leichte Beute war –, ließ sich darauf ein. Eine toxische Beziehung beginnt, die sein Leben zum Einsturz bringt.

Er selbst – liebesbedürftig und unsicher – treibt das Unheil voran. Intimes tauscht das Paar meist über eine App aus. Seinen Heiratsantrag formuliert er schriftlich: »Wie würdest du reagieren, wenn ich dir einen Heiratsantrag machte?«, schreibt Kristian, und Kalina antwortet: »Kristian, wenn du mir einen Antrag machen würdest, müsste ich vor Glück weinen.«

Es ist einfacher zu lügen, wenn man sich nicht in die Augen schauen muss. Die Kommunikation via WhatsApp ist für seine Freundin das perfekte Tool, um Manipulation und seelischen Missbrauch, den Entzug und das Gewähren von Kommunikation auf die Spitze zu treiben. Verführung und Vernichtung per Klick. Er hält sich jederzeit zur Verfügung. Sie verfügt über ihn. Kristian ist gefangen im Spinnennetz seiner Freundin, für das sie die sozialen Netzwerke missbraucht. Er sieht, dass sie ihn ignoriert, wenn sie nicht antwortet. Das macht ihr Schweigen, das sie als Machtmittel einsetzt, noch quälender. Mal sperrt sie ihn, mal schickt sie verführerische Fotos, mal meldet sie sich bei WhatsApp ab, mal überwacht sie seine Posts.

Sie will ihn verwirren, und sie schafft es. Vollkommen. Er entkommt ihr nicht, und er will es auch nicht. Nach sechs Monaten hat sie ihn vernichtet. Sie hat ihn mit ihren Ansichten regelrecht ausgestopft. Wenn er nachdenken kann, denkt er an Suizid. Es wird brauchen, bis er die Erfahrung verarbeitet hat. Denn der Schmerz will nichts davon wissen, dass er mit der Zeit vergeht. Das Buch endet mit dem Ende der Beziehung – die nie eine war. Auch wenn die Opfer auf einen narzisstischen Betrüger hereinfallen, ändert dies nichts daran, dass die Erfahrung schmerzt, vor allem, weil sie sich schämen. Wo liegt ihr eigener Beitrag? War die »Liebe« nur solange möglich, wie sie sich so verhielten und fühlten, wie der Andere es verlangte?“ (Auszug mit freundlicher Genehmigung der Autorin).

„Ghosting. Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter“, ist ein brillant komponiertes Buch. Es beschreibt auf schonungslose Weise die (Lebens-)Gefahren eines modernen Phänomens, sodass auch jene Außenstehen etwas verstehen können. Denn eben diese Außenstehenden beobachten oft mit Unverständnis , welche erschreckenden Folgen psychischer Missbrauch haben kann – gern abgetan mit: „Dein Partner war halt ein bisschen blöd zu Dir.“

Soliman appelliert an notwendige Auswege, denn „unser Körper jedenfalls muss vergessen, sonst entwickelt er Autoimmunkrankheiten. Es gibt ein immunologisches Gedächtnis. Auch die Erfahrung, von einem Menschen verletzt worden zu sein, wollen wir nicht immer mit uns herumschleppen, werden doch so neue unbeschwerte Erfahrungen verhindert.“

Deshalb gibt es am Ende das Kapitel „Augen auf und durch: Wie aus Abbrüchen Aufbrüche werden können“ – und zitiert wird der amerikanische Psychiater Markus Horvath, der für Regeln für das Beenden eines erwachsenen Kontaktes aufgestellt hat: „(1) Sagen, dass man die Beziehung beenden will. (2) Wenn es mehr als drei Dates gab, muss man das Ende begründen. (3) Danke sagen für alles, was gut war. (4) Sich entschuldigen für das, was man falsch gemacht hat. (5) Zukunftsperspektive für beide ansprechen: Wieder Freiraum, neue Liebe.“ – Menschenwürdiges Handeln kann so einfach sein – wir müssen es lediglich tun.

Tina Soliman: „Ghosting. Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter“, Klett-Cotta, 358 Seiten, 18 Euro

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