Terror in München: Es bleiben Fragen

Ulrike Draesner gehört zu den herausragenden deutschsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit. Bereits 2005 erschien ihr Roman „Spiele“ bei Luchterhand (jetzt btb), der auf umfassende Weise den palästinensischen Terroranschlag auf die israelische Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen 1972 in München literarisiert. Im Rahmen eines Features mit dem Titel „Terror als Text – über den Zusammenhang von Kunst und politischer Gewalt„, das am kommenden Sonntag (8. Februar) in BR2 Zündfunk Generator läuft habe ich ein Interview mit Ulrike Draesner geführt, das ich vorab im Blog veröffentliche. 2014 waren Ulrike Draesner und in Bamberg eingeladen von Nora Gomringer, da wir beide in dem horen-Band über das Nibelungenlied veröffentlicht haben. Im Herbst erschienen unsere Texte in der von Thomas Böhm herausgegebenen Metrolit-Anthologie „New Level – Computerspiele und Literatur„. Das Beitragsbild ist von Marie Lisa Noltenius.

In welcher Weise erzählt „Spiele“ von diesem Olympia-Attentat. Die Story wird bei Dir anders erzählt als in Filmen wie „München“ von Steven Spielberg oder „Todesspiel“ von Heinrich Breloer.

Der Roman erzählt über dieses Attentat im Rahmen der so genannten kleinen Geschichte, so heißt das auch im Text. Interessiert hat mich vor allen Dingen die folgende Frage: Was bedeutet es für die Menschen, die in einer Stadt leben, wie jetzt München oder Paris oder New York, wenn in ihrer Stadt ein derartiger terroristischer Akt statt findet? Wie werden ihre Leben, wie werden ihre Alltage affiziert, wie wirkt so etwas fort. Das ist vergleichbar damit, wie man einen Stein ins Wasser wirft und dann bilden sich die Kreise. Ich frage in „Spiele“: welche Wellen wirft so etwas? Wen erreicht das? Was ist das eigentlich, diese so genannte „große Geschichte“? Sie wird doch immer nur durch uns, die Individuen, die einzelnen lebendigen Menschen gemacht.

Was sind das für Menschen?

Das sind natürlich die unmittelbaren Opfer des Terroraktes. Aber das sind vor allen Dingen auch jene, deren Zahl viel größer ist, die ebenfalls von einem derartigen Anschlag betroffen sind in ihren Ängsten. Das sind die Familienmitglieder oder Freunde, die mitverletzt sind, Menschen, die zum Beispiel als Hilfskräfte eingesetzt wurden, als Polizisten, als Busfahrer. In „Spiele“ erzählen sie, was es heißt, in diesen Mahlstrom der Geschichte hineingerissen zu werden. Zum Teil werden sie wirklich aus ihrem Leben verscheucht, vertrieben, sie werden herausgesetzt.

Da gibt es zum Beispiel diesen Busfahrer, der die Geiseln und die Geiselnehmer im Olympischen Dorf fahren musste. 

Dazu muss man wenig über den Ablauf dieser Geiselnahme wissen. Am Morgen des 5. September 1972 waren die Geiseln von diesem palästinensischen Kommando genommen worden. Im israelischen Quartier hatte man sich verschanzt, den ganzen Tag über verhandelt und gegen Abend war ausgemacht worden, dass die Geiseln und die Geiselnehmer ausfliegen dürften. Die sollten aus dem Haus mitten im Olympischen Dorf in München zu einem Flugzeug gebracht werden, zu diesem kleinen Flughafen in Fürstenfeldbruck außerhalb der Stadt. Nur wie sollten die da hinkommen? Die sollten mit Hubschraubern dorthin geflogen werden. Das ist dann auch passiert. Aber sie mussten sozusagen von dieser Wohnung der israelischen Geiseln zum Hubschrauber kommen. Dafür hat man einen Bustransport eingerichtet. Und irgendein Mensch musste ja diesen Bus fahren. – Wen trifft es da und was macht diese gespensterhafte Fahrt, zu der die Geiseln einsteigen, die Geiselnehmer einsteigen, am Abend dieses 5. Septembers mit diesem Mann, dem Fahrer des Busses? So erzählt mein Roman die Geschichte dieses Attentats.

Es ist wirklich fürchterlich, wie damals Situation für Situation verspielt wurde, um die Geiseln zu befreien. Diese Busfahrt, war einer dieser ungenutzen Momente. Das fing vorher schon an mit der missglückten Befreiung im Olympischen Dorf, weil Fernsehkameras das Polizeiteam aufgenommen hatten – und die Geiselnehmer durch die Live-Berichterstattung im Fernsehen gewarnt worden sind. Damit sind wie schon bei Bildern. Es gibt derer viele, die ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind. Wie sind diese Bilder für Dich zu Literatur geworden?

Ich erinnere mich selbst vor allen Dingen an ein Bild, das Ausgang meiner Recherche war: Da steht der Anführer der Terrorgruppe namens Issa in einem Balkon dieser Wohnung im Olympischen Dorf, in dieser typischen Architektur der frühen Siebziger Jahre, in so einer Betonschale. Man sieht einen Mann stehen, der eine Maske über dem Gesicht trägt. Ich bin mir sicher, dass viele sich jetzt daran erinnern können, an dieses Zeitungsbild, relativ grob gepixelt, schwarz-weiß. Das war für mich auch so ein Moment, in dem sich für mich die beiden Dinge, diese große Geschichte, das Geschehen, das so viele Menschen affiziert hat, und die kleine Geschichte, nämlich meine eigene Erinnerung an diesen Tag, den ich als zehnjähriges Mädchen erlebt habe, miteinander verschränkt haben.

Der Roman erschien 2005. Wann begann Deine Recherche?

Ich habe die Recherchen ungefähr 2001, 2002 begonnen, also dreißig Jahre nach dem Anschlag, und eine ganze Weile vor Spielbergs „München“-Film. Von dem wusste man damals nichts. Der ist ein halbes Jahr nach meinem Buch erschienen. Viele Zeitzeugen sagten damals, sie seien in den zurückliegenden dreißig Jahre nie befragt worden: „Erst kamen die Leute von Spielberg, und jetzt kommen Sie, was passiert hier eigentlich?“ Auf einmal kamen also Fragen auf. Denn, was ist die Geschichte dieser Bilder, wie kommt es zu spezifischen Aufnahmen, wie kommt es zu diesem Desaster in Fürstenfeldbruck? Das ist ein ganz merkwürdiger Raum, diese versuchte, aber auf schreckliche Weise gescheiterte Geiselbefreiung in Fürstenfeldbruck. Damals wurden alle Geiseln getötet, von den Geiselnehmern hatten drei überlebt. Aber genau diese Geiselbefreiung, und dieser Raum von Fürstenfeldbruck, sind bildfrei.


Du beschreibst ja auch in einem Interview, dass es einen Film gibt im Internet, der wird für fünftausend Dollar angeboten…

Das war der Preis um 2001 herum. Da sind ganz merkwürdige Dinge passiert, auch im Umfeld mit diesen Daten. Das zeigt sich heute, übrigens nicht freiwillig, sondern dank der Klagen von Witwen der getöteten israelischen Sportler. Die haben geklagt auf Herausgabe von Dokumenten. Da kam raus, dass über die ganzen Jahrzehnte zuvor, also bis in die 2000er-Jahre hinein Dokumente von der bayerischen Polizei, beziehungsweise von der bayerischen Staatsregierung versteckt worden waren.

41hIjr+ZYoLEin ungeheuerlicher Vorgang.

Durch die Klagen kam heraus, dass Dokumente verschwunden waren, die es angeblich über den Polizeieinsatz in Fürstenfeldbruck gegeben haben soll. Die sind offiziell auch verschwunden. Und dann kursierte im Netz plötzlich dieses Angebot – es gäbe eine Kopie des Polizeifilmes, der damals gemacht worden sei. Ich glaube daran nicht. Denn auf dem Flugfeld fiel sehr früh durch die Schusswechsel die komplette Beleuchtung aus. Dennoch gab es angeblich dieses Filmdokument. Für mich als Autorin war es aber gar nicht entscheidend, dieses Filmdokument anzusehen. Der Roman denkt eben gerade darüber nach, was für Bilder von Terrorismus werden erzeugt, wie sehr beruht Terrorismus seit 1972 genau auf dieser Frage danach, welche Bilder sich damit in die Welt setzen lassen.

Das heißt, der konkrete terroristische Akt, wird erst über das Bild wirksam? 

Ich habe damals ein unglaubliches Zitat gefunden, ein Statement, ein Communique, das vermutlich von Führungskräften des „Schwarzen Septembers“ verfasst wurde, eine Woche nach dem Attentat, und in der Beiruter Zeitung Al-Hayat veröffentlicht wurde. Ich würde das gerne vorlesen. Es wird überschrieben: „Teil eines Communiques, vermutlich verfasst von Führungskräften des „Schwarzen September“, veröffentlicht in der Beiruter Zeitung Al-Hayat, eine Woche nach dem Anschlag“. – „In our assessment, and in of the light of the result, we have made one of the best achievements of Palestinian commando acction. A bomb in the White House, a mine in the Vatican, the death of Mao tse-Tung, an earthquake in Paris could not have echoed through the conciousness of every man in the world like the operation at Munich. The Olympiad arouses the people’s interest and attention more than anything else in the world. The choice of the Olympics, from the purely propagandistic viewpoint, was 100 percent successful. It was like painting the name of Palestine on a mountain that can be seen from the four corners of the earth.“

Der Ort des Attentats wird danach ausgesucht, wie medial wirksam er sein kann? 

Es wird gefragt: wie viele Menschen werden wirklich in Schrecken versetzt? Das ist eine Strategie, die auf einer langen Tradition beruht. Viele Lebenszusammenhänge gibt es, auch die Literatur gehört übrigens dazu, in denen wir darüber nachdenken, wie wir möglichst viel Publikum erreichen, wie wir die Menschen berühren. Wir meinen das vielleicht positiv. Aber im Fall des Terrorismus ist es negativ gemeint. Gefragt wird: Wie viele Menschen schüchtere ich ein, wie viele Menschen erschrecke ich tatsächlich?

Dieser letzte Satz „It was like painting the name of Palestine on a mountain that can be seen from the four corners of the earth“, hat natürlich ein langes kulturelles Echo.

Ja ,auch im Christentum. Im christlichen Mittelalter gab es die Vorstellung der „himmlischen Stadt“. Das war Jerusalem. Jerusalem war als Stadt noch Spiegelbild des Kosmos. Es war die Stadt, die von allen vier Seiten der Welt gesehen werden kann. Es gibt Weltkarten, in denen Jerusalem in der Mitte der Welt liegt und von den vier Ecken dieser Karte jeweils sichtbar ist, im Kreis sichtbar. Dieses Moment nimmt der Terrorismus auf, um seine Wirkung zu maximieren. Als ich recherchierte, von 2001 bis 2004, war es so, dass immer noch dieses olympische Attentat von 1972 der weltweit bestdokumentierte Terrorakt war.

Besser dokumentiert als 9/11?

In der Tat, und zwar einfach deswegen, weil man die Kommandoaktion, wie das im Jargon hieß, mitten hinein in einen Ort legte, an dem die Medien der Welt bereits versammelt waren. Das war ein strategisch intelligenter terroristischer Gedanke, der besagte: Wir warten gar nicht erst, dass die Medien kommen müssen. Sondern wir gehen dahin, wo sie alle sind. Den ganzen Tag waren die Kameras der ganzen Welt auf dieses Haus gerichtet, in dem die israelischen Geiseln gefangen gehalten wurden und in dem ab und an irgendwie einer der Geiselnehmer auf dem Balkon erschien. Es ergibt sich eine sehr vielsagende Konstellation, wenn man eigentlich den ganzen Tag lang über nichts sieht.

Aber man kann sich ebenso wenig lösen. 

Alle starren gebannt auf diese Bilder, die über die Fernsehbildschirme gehen, die flackern, damals allemal noch besonders stark. Und dieses „Wir sehen nichts, aber wir starren darauf, wir sind im Griff dieses Geschehens“, hat sich wirklich eingraben. Und in dem Moment, wo die Aktion dann statt findet, endet das Bild. Die letzten Bilder, die man kennt, sind Bilder von diesen beiden abfliegenden Hubschraubern, in denen die Geiseln und die Geiselnehmer sitzen und nach Fürstenfeldbruck gebracht werden. Ab da wird es Nacht. Es wird dunkel. Es tritt diese Schwärze ein. Das Publikum damals saß dann auch ein paar Stunden lang in einer Art Bild-Off. Die Nachrichten liefen natürlich weltweit weiter. Man hatte nur Gerüchte. Vieles vieles klappte einfach nicht. Und das nächste Bild, das dann auftaucht, ist nochmal etwas ganz anderes. Es gibt Gerüchte, Nachrichtensprecher sind zu sehen, denen man, auch wenn man das heute anschaut, wirklich ansieht, dass sie fertig sind. Die sind nicht nur durchgearbeitet, die sitzen da nicht nur seit achtzehn Stunden, die sind einfach auch nervlich wirklich vollkommen erschöpft. Und da kommt die Nachricht durch, dass alle Geiseln befreit sind, dass die Befreiung gelungen ist.

Man sieht auch die Erleichterung in den Gesichtern, gerade auch bei dem amerikanischen Sprecher. 

Und eine Stunde später, oder eineinhalb Stunden später gibt es nochmal eine Pressekonferenz. Das ist eigentlich das nächste Bild, wo, politische Akteure des Geschehens, wo Polizeiakteure wiederzusehen sind. Sie sind da, das war glaube ich in einem Hotel, in einem großen Raum in München. Die Medienvertreter der Welt sind anwesend, richten die Kameras auf diese Männer. – Und was wird gesagt? Es wird gesagt: Die erste Nachricht war falsch. Es ist anders, alle Geiseln sind getötet. Und damit endet die Bebilderung.

Aber wie kunstfähig ist dieser Terrorismus? Das sage ich mit Hinblick vor allem auf die Äußerung des Komponisten Karlheinz Stockhausen, der über 9/11 behauptet hat, dieser Terroranschlag sei „das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat“.

Was ist eigentlich die Verbindung von Kunst und Terrorismus? Was haben die miteinander zu tun? Was passiert, wenn ich einen Roman schreibe über so einen Akt? Perpetuiere ich den nicht? Was für eine Verantwortung übernimmt man da? Mein Roman spielt und denkt doch genau über diesen Anschlag nach. Denn die Literatur und der Terrorismus, so wie er ’72 anfängt, sich darzubieten, sind verschränkt über ihre Medialität. Es gibt in „Spiele“ einen Satz, der mehrfach wiederkommt, und umgedreht wird. Der heißt eigentlich „Phantasie ist eine der schlimmsten Möglichkeiten des Terrorismus“. Kluges, strategisches Denken. Aber dieser Satz lässt sich umdrehen: „Terror ist eine der schlimmsten Möglichkeiten der Phantasie.“ Er kommt also aus dem Vermögen, in den berühmten musilschen Möglichkeitsräumen zu denken, sich fiktive Szenarien auszudenken, jenem Vermögen, aus dem auch das Erfinden von Fiktion, das Schreiben von Romanen resultiert. Man sieht sozusagen, wie eine Möglichkeit, eine Fähigkeit sich wenden, in verschiedene Richtungen bewegen kann.“

Du hast gerade ein Communiqué vorgelesen. Ich erinnere mich zudem an den sehr poetischen Briefband zwischen Bernward Vesper und Gudrun Ensslin. Welche Bedeutung hat denn die Sprache des Terrorismus deiner Meinung nach?“

Für mich ist besonders wichtig, was der Terrorismus mit der Sprache der Betroffenen macht. Was passiert in dem Spalt zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis, also zwischen dem, was man kulturell weiß, was bewahrt ist in den Bildern, was verwaltet wird in Archiven, und dem, was auf der anderen Seite mit jenen passiert, die das erleben, und dann danach eben auch in ihrer Sprache, in der Sprechbarkeit dieses Erlebens gestört oder zerstört werden? Der Terrorakt 1972 zeigt ein großes Auseinanderklaffen zwischen dieser rhetorisch sehr geschickt gebauten Sprache des Communiqués, und dem Stammeln und Stottern, der gezielten Sprachlosigkeit, dem gezieltem Verstummen, dem Schweigen auf der anderen Seite, der Seite der Opfer. Das galt selbst 2005, als der Roman herauskam, weiterhin.

Die metaphernreiche Beredheit der Terroristen versus dem Stammeln und Schweigen der Opfer?

Wobei ja die Sprache der Worte und die Sprache der Körper auf bedrückende Weise ineinander übergehen. Das führt dazu, dass auf der anderen Seite ein Erstarren und ein Gerinnen stattfindet. Das können wir auch jetzt beobachten mit „Charlie Hebdo“, mit „Je suis Charlie“. Wir haben einzelne Sätze, an denen man sich dann festhält. Deswegen passte es, dass es keine authentischen, unmittelbaren Aufzeichnungen aus Fürstenfeldbruck gibt. „Spiele“ ist genau so gebaut. Es gibt sozusagen die verschiedenen Akte, Redeakte, die danach darum inszeniert werden. Wir versuchen, uns das Geschehen zu erklären, kommen aber eigentlich so nicht an es heran.

In der Mitte gibt es ein großes schwarzes Loch. 

Das sind die Momente, in denen die Geiseln da in ihren Hubschraubern sitzen, angekettet. Wie die Autopsien später zeigten, sind die meisten von ihnen erstickt an dem Rauch, der sich entwickelte. Es brannte, es gab Kugeln und so weiter. Dies sind Momente in einem schwarzen Loch. Das ist wie das vergrößerte Bild eines Kugeleinschusses: ein schwarzes Loch. Das geschieht durch den terroristischen Akt und die Menge von Bildern, die produziert wird.

Warum gibt es unzählbar viele Täter-Romane über den Nationalsozialismus – aber keine über den Terrorismus, wie er sich in Deutschland gezeigt hat seit den Siebziger Jahren?

Gute Frage. Ich habe keine Antwort dafür. Es gab ein großes Erstaunen, als „Spiele“ erschienen ist. Denn: Warum hat sich noch niemand dieses Themas angenommen? Ich selbst war überrascht, als ich auf das Thema stieß. Die relevante Forschung kam aus den USA. Nicht wenige von den Figuren, die damals im Umfeld dieses Terroraktes, für die Durchführung der Spiele, für die Sicherheit der Sportler verantwortlich waren, die leben noch. Die waren zum Teil bis in die Neunziger Jahre in Funktionen tätig. München ’72, hängt eng zusammen mit der kollektiven Selbstdarstellung Deutschlands. Wie stehen wir da? Wer sind wir in der Welt? Und dann: Wie konnte so etwas passieren? Es gab eine große Scham, wie ungut, wie ungeschickt, wie völlig überfordert man damals war, in dem Umgehen mit dieser Situation. Das ist Scham und Scham über die Scham, die dazu führt, dass dazu geschwiegen wird.

In „Spiele“ bringst Du die Goldmedaillengewinnerin Ulrike Meyfarth und die Terroristin Ulrike Meinhof in ein Bild, in ein sprachliches Bild. Warum?

Die beiden verbinden Organe, so möchte ich es fast sagen, große Gefäße, in denen sich kollektive Identitäten versammeln und auch umgemodelt werden. Das verbindet den Sport und den Terrorismus. Deswegen ist das auch in dem Roman fruchtbar, glaube ich, miteinander verschaltet. Über den Sport, über dieses Sportereigniss „Olympische Spiele“ wird die Welt versammelt. In diesem Medium diskutieren wir heute in pazifizierter Weise über Nationalitäten, über nationale Identitäten. Da darf man für Deutschland sein, da kann man in 2006 in Deutschland stehen und „Deutschland!“, oder „Schland!“ rufen. Da kann man Identität formen, ohne sozusagen einen echten Krieg gegen England oder Frankreich beginnen zu müssen.

Der 1972 plötzlich aus einem internationalen Kontext kommt. 

Das ist ja auch das, was sich 1972 mit dem Olympia-Attentat ändert. Bis dahin wurde ein Konflikt, der landesintern ist, auch über einen terroristischen Akt in diesem Land ausgetragen. Das war auch das Muster, das für die RAF-Aktionen galt, die Anfang der Siebziger Jahre in Deutschland stattfanden. Der Terrorakt von 1972 ändert dieses Muster. Zugrundeliegt der israelisch-palästinensische Konflikt, der in seiner Geschichte mit Deutschland zu tun hat, aber nicht in seiner aktuellen Austragung. Der Terror-Akt wird einfach an den Ort verlegt, wo die Olympischen Spiele stattfinden. Hier werden Identitäten umgemodelt, Identitäten geformt. Und das verbindet Ulrike Meyfarth und Ulrike Meinhof. Die Terroristen waren zuvor schon miteinander verbunden. Die Kooperationen waren ja längst schon geschlossen zwischen dem „Schwarzen September“ und der „RAF“ zu diesem Zeitpunkt im September ’72.

Es ist bizarr, dass Coubertin die ersten Olympischen Spiele ausgerichtet hat und das größte Problem hieß: Wie verpflegen wir unsere Sportler. Heutzutage geht es kaum mehr um die Durchführbarkeit des Zusammentreffens unterschiedlicher Kulturen, sondern um die Sicherheit jener, die sich dort treffen.

Es geht kaum mehr um die Durchführung, sondern um die Durchführbarkeit, die Durchführbarkeit unter diesen Sicherheitsregularien. Seine Unschuld hat der Sport ohnehin längst verloren durch die ganzen Doping-Geschichten, vermutlich hatte er sie nie. Die Olympischen Spiele von 1936, die muss man natürlich dazunehmen, die spielen auch in diesem Roman eine Rolle, denn die sind natürlich auch ein terroristischer Akt der politischen Propaganda. Das war 1972 in dem Sinne nichts Neues. Das hat eine olympische Geschichte.

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3 Kommentare

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  2. […] wenigen Wochen beschrieb Schriftstellerin Ulrike Draesner in diesem Interview, weshalb sie die Form der so genannte “kleine Geschichte” interessiert, eben jene  […]

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