Rezension: Walser 2.0

Endlich auf dem Markt: Der Post-Pop-Roman „untitled“. Autor Joachim Bessing wird bald aus Äthiopien nach Deutschland reisen, um das moderne, zurechtgegoogelte Hohelied der Liebe zu singen.

Bereits das Cover von Joachim Bessings aktuellem Buch wirkt wie eine Abwendung vom Pop. „untitled“steht da, kleingeschrieben und ins Holz geritzt. So viel Purismus wirkt wie die Verneinung der beiden prägnantesten Popliteraturstrategien „Marke plus Künstlichkeit“. Komplizierter wird die Sache, wenn Joachim Bessing in einem Interview sagt, der Titel beziehe sich tatsächlich auf ein Parfüm des belgischen Designers Martin Margiela, der wiederum bekannt ist für Kreationen, in denen bereits vorhandene Kleidungsstücke auseinandergenommen und neu zusammengesetzt werden.

Genau hier offenbart der aktuell im äthiopiopischen Markenexil lebende Ex-Popliterat („Tristesse Royale“) die Komposition seines Textes. Denn „untitled“ bedient sich an der Popliteratur („Soloalbum“, „Faserland“, „Eine Art Idol“), baut diese Stücke allerdings neu zusammen, wie zuletzt Arezu Weitholz in ihrem Debütroman „Wenn die Nacht am stillsten ist“.  – Es scheint, als sei nun eine neue Phase in der deutschen Gegenwartsliteratur eingetreten, ein Auseinanderdriften von Musik- und Konsumanalyse. Da gibt es einerseits immer mehr Supermarktgeschichten („Vier Äpfel“ von David Wagner, „wach“ von Albrecht Selge, „Kauft Leute“ von Jan Kossdorf), andererseits Rap-Storys (Mieze Medusa mit „Mia Messer“) und auffallend viele Metal-Geschichten wie „Haarweg zur Hölle“ von Hermann Bräuer, „Metal Störies“ von Frank Schäfer und „Black Mandel“ von Berni Mayer.

„untitled“ ist sonniger. Ein Modejournalist, gleicher Jahrgang und auch sonst dem Autor ähnlich, ein Beobachter des Catwalk, Gutachter werksfrischer Handtaschen, Besucher erlesener Lounges, trifft ausgerechnet an einem Bücherregal („Bei einem grünen Taschenbuch von Plotin“) die Philosophin Julia Speer. Die ist selbstverständlich verheiratet, denn schon im mittelalterlichen Minnesang war die Angebetete grundsätzlich vergeben. Der Modejunkiesieht nun aber die Chance, zwischen New York, Berlin, Jetlagund MDMA einen Halt, einen Sinn im Leben zu finden. Er liebt, ist hingerissen, wie einst Goethes Werther, der am Ende des Romans tatsächlich kurz auftauchen wird. Er fotografiert überall den Buchstaben „J“, es wird seine Manie, bis ein Unfall alles erneut auf den Kopf zu stellen scheint. Bis dahin verknallt sich der hippe Oberflächenkenner in die Tiefe und ist damit ganz und gar Kind seiner Zeit.

Denn auch das gehört zum Jahr 2013: Der Soulist zurück. Man singt bei Frank Oceanmit. Dem Gefühl wird wieder Raum geschenkt. So auch in diesem Roman, der versucht, Liebesdefinitionen für das Jahr 2013 aufzuspüren. Im Wikipedia-Eintrag zum Begriff „Liebe“ findet der Held ein Zitat Friedrich Nietzsches. Dazu kommen alle paar Seiten neue Definitionen: „Charles Baudelaire vergleicht die Liebe mit einer Folter oder einer chirurgischen Operation – wahlweise.“ – Dazwischen gibt es immer wieder neue SMS, skype-Chats, instagram-posts, iphone-und ipad-Nachrichten, die ohne Betreff abgesendet werden. „untitled“ steht dann in der ersten Zeile, wie eine Verheissung, dass ab hier alles möglich ist. Sieben Milliarden Erdbewohner kriegen ihr Leben ohne Julia hin. „Bloß ich schaffte das halt nicht.“

Joachim Bessings Geschichte über den Schreiber, der mit einer verheirateten Philosophin nach Werthers Manier Briefe, wenn auch übers iphone, austauscht, erinnert an einen anderen Roman, der im Herbst 2012 erschienen ist. In dieser lernt ein Schriftsteller eine verheiratete Theologin kennen, der er, ebenfalls in Anlehnung an Werther, iphone-Nachrichten schreibt: „Das dreizehnte Kapitel“ heisst dieses Buch, geschrieben vom alten Kierkegaard-Fan Martin Walser. – „untitled“ könnte man einen besseren Walser nennen, wenn nicht sowieso fast alles, was geschrieben wird, besser als Walser wäre. Aber eine Auseinandersetzung mit „untitled“ die mindestens so profund ist wie die mit „Das dreizehnte Kapitel“ wäre nur fair, eine Auseinandersetzung, die ohne das übliche Marken-Bashingauskommt. Walser wurde im Feuilleton abgefeiert, warum auch immer. Über Joachim Bessing gibt es viel zu wenig – sieht man ab von einer hymnischen Empfehlung des Punk-Rave-Popautors Rainald Goetz. Wie fordert es der Satz vom romantischen Dichter Novalis am Anfang des Bessing-Romans: „Wem gefiele nicht eine Philosophie, deren Keim ein erster Kuss ist?“ Könnte das nicht auch der Anfang einer Bessing-Auseinandersetzung sein?

Joachim Bessing: „untitled“, KiWi, 302 Seiten, 19,99 Euro

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