Rezension: Pandoras offene Büchse

Einer der bekanntesten Dichter Deutschlands ist Arne Rautenberg, den tatsächlich Jung und Alt kennen, denn er schreibt Gedichte für alle Altersklassen. Ganz aktuell ist „sekundenfrühling“ erschienen, ein hoffnungsvoller Reigen über Allamselfelder, brennende Panther und Ghosting-Erfahrungen.

“erinnerung ist eine geschichte, die man sich selbst erzählt”, erinnert der Geschichtenerzähler Arne Rautenberg im Lyrikband „sekundenfrühling“, dessen Titel bereits eine verhaltene Hoffnung andeutet. Der Frühling lockt mit seiner lebensbejahenden Schönheit, aber nur für Sekunden, was immerhin etwas ist. Und so wird über rund 80 Gedichte das literarische Hoffnungs-Los gezogen, ein Trost gesucht – dem Frühling jede Sekunde abgetrotzt. In diesen Sekunden geborgen sind kurze Kontemplationen, Verhaltensforschungen, „gedichte wie hunde“ und aufbauende en passant-Begegnungen mit künstlerischen Mitstreitern, die kurze Cameo-Auftritte bekommen: „du kannst sie hören die toten / jedenfalls wenn sie gedichte schreiben / und du kannst mit ihnen sprechen / jedenfalls wenn du gedichte schreibst“

Dr. Strange und Kino-Goldfinger

Hier wird die Wirklichkeit ums Totenreich erweitert, hinabsteigend wie Orpheus, der mythische Urtyp des – selbstverständlich melancholischen – Lyra-Spielers. Auch er hat versucht, mit künstlerischen Mitteln das unwiederbringlich Verlorene zurückzuholen – um endgültig zu verzweifeln durch sein zwanghaftes Rückwärtsblicken, mit dem immer auch die zu starke Hinwendung ins Gestern gemeint ist.

Dass man fürs Lyra-Spielen seine Finger braucht, ist in Rautenbergs Gedichten offensichtlich, wo Finger immer wieder auftauchen und die absonderlichsten Metamorphosen vollziehen. „feiner wirst greifen müssen“, steht da, bevor die Hand aus einem Finger wächst und „aus jedem finger einer hand / wächst eine nächste hand“, so wie es gezeigt wird in einer psychedelischen Szene der Marvel-Verfilmung „Dr. Strange“. Diese Finger, sie verwandeln sich an anderer Stelle in Blätter oder – auch das wirkt wie ein Filmzitat – in Goldfinger.

Gedichte als handgemachte Fingerübungen. Oft vollführen diese Fingerübungen die wortwörtlichen Sprachbilder der Konkreten Poesie, wenn das Satzbild zu Sonnenstrahlen wird oder Rundklammern zu schwebenden Blättern, wenn aus Worten ein Okular gebildet wird, gilt es doch, genau hinzusehen. „zoom in“! ist dieses Gedicht überschrieben.

Ghosting und Gaslighting

In den anderen werden sogenannte „Allamselfelder“ beschritten, in einem trauernden Zyklus wird an die verstorbene Mutter erinnert – und immer wieder analysieren die Texte toxisch erscheinende Beziehungen: “du treibend wie hefe fordernd wie brot / ich bin nicht bereit / für durchseuchungsgedanken / bei dir ist die sechs eine drei / bei mir die sieben therapie”

So klingt Gaslighting, die Manipulation, die dem Gegenüber die Wahrnehmung abspricht, wenn die vergiftete Partitur mit Orpheus’ Lyra gespielt wird. Doch auch in diesen Gedichten, die von Gaslighting, Ghosting, von einer schmerzhaften Sprachlosigkeit erzählen, gibt es die Hoffnung. Die ist bekanntlich in Pandoras Büchse eingesperrt geblieben – und wird nun geöffnet, dass die Hoffnung endlich auch entweichen kann, Nietzsche zum Trotz, der sich in „Menschliches, Allzumenschliches“ ereiferte, die Hoffnung sei das übelste aller Übel, weil der Mensch wegen ihr sein Leben trotz aller Qual weiterlebe, um sich „immer von Neuem quälen zu lassen“.

Da ist Rautenbergs Band versöhnlicher, wenn er zahlreiche Gründe für das Aufkeimen von Hoffnung vorstellt. Geborgen ist diese Hoffnung vor allem in der überzeitlichen Gültigkeit schöner Verse, denen etwas Staunenswertes zugesprochen wird: „und du denkst du bleibst als buch / als mikrofiche cd als datensatz / auf nächstliegenden externen festplatten / oder einfach als erinnerung / zählt denn kein sternenbild auf papier?“

Der Panther ist verbrannt

Doch es zählt, das Sternenbild auf Papier, es zählen die Gemälde der bildenden Künstlerinnen und Künstler, die – wortverwandelt – im „sekundenfrühling“ auftauchen, es zählen die Lyrik, die Literatur, die bildende Kunst. Wer will, kann die Vorlagen von Heike Kati Barath, Enzo Cucchi oder Leiko Ikemura recherchieren, die so zu ganz besonderen Suchbildern werden. Leichter ist, den Dichtern und Dichterinnen zu folgen, beispielsweise Rainer Maria Rilke, der einen prägnanten Auftritt hat im erzählenden Gedicht mit dem Titel: „der panther ist verbrannt“.

„und jeder / flamme ist als ob es tausend flammen gäbe und / um tausend flammen keine welt du torkelst / packst die kinder katzen und das katzenklo / nimmst nicht die rilke-handschrift von der / wand entlässt den ruhelosen fieber / haften panther in das feuerfeld“

Was hier in so schönen Worten beschrieben wird, war 2018 eine Yellow-Press-Meldung, denn eine „Panther“-Handschrift ist tatsächlich in den Flammen verlorengegangen – im kalifornischen Malibu. Den Verlust beklagte der Handschriftenbesitzer, Rilke-Fan und Ex-„Wetten dass…?“-Moderator Thomas Gottschalk. Das Gedicht folgt seiner Gattin Thea, die vor den Flammen die Flucht ergreift, die Kinder und Katzen schnell mit sich nimmt, aber eben nicht die teure Rilke-Handschrift. Dass sie angeblich auch das Katzenklo gerettet hat, wurde später als Trennungsgrund vermeldet. „Hat der Hausbrand ihre Liebe abgefackelt?“, titelte Bild.de.

So steht das 2019 geschiedene Ehepaar Gottschalk im „sekundenfrühling“ neben Gottfried Benn und Sylvia Plath, neben Anselm Kiefer und Heike Kati Barath. Rilke ist verbrannt, aber nicht verloren, es gibt mehrere Handschriften. Und es gibt das Gedicht von Arne Rautenberg – einem von vielen Hoffnungsbildern des Bandes, der niemals blind auf eine Zuversicht wartet, sondern stets erschafft, in Gedichten und erinnernden Geschichten, die Arne Rautenberg im feinsinnigen Ton nicht nur für sich, sondern für uns alle erzählt.

Arne Rautenberg: „sekundenfrühling“, mit einem Nachwort von Durs Grünbein, Wunderhorn, Heidelberg, 96 Seiten, 22 Euro

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