Rezension: Modern life is rubbish

Philipp Böhm – auf Instagram nennt er sich @philboheme – hat vor drei Jahren mit dem Debütroman »Schellenmann« eine schöne Aufmerksamkeit bekommen und gilt seitdem als einer der interessanten Nachwuchsschriftsteller unseres Landes. Boehm  ist Mitglied der Redaktion des Literatur- und Kulturmagazins metamorphosen. Er schreibt für die Wochenzeitung Jungle World und er arbeitet für das Berlin Kreuzberger Literaturhaus Lettrétage. Nun hat er den Erzählungsband „Supermilch“ vorgelegt – wieder erschienen im Berliner Verbrecher Verlag – und hier begegnen wir einer in ihrer Wirklichkeitsnähe glänzend gemalten doch tatsächlich ziemlich deprimierenden Arbeitswelt.

In die stinkend-morastige Kanalisation ist der moderne Achill hinabgestiegen, um einen Berg aus Zivilisationsdreck zu begutachten: „Es war das Öl, das literweise in die Abflüsse gegossen wurde, altes Öl, ehemaliges Frittierfett, ranzige Ströme, die nicht versiegen wollten. Irgendwo in den Schächten unter der Stadt trafen diese Ströme auf feuchtes Toilettenpapier und hinabgespülte Damenbinden, Material, das nicht zerfiiel, und fanden dort die Oberfläche, an der sie gerinnen konnten. Berge wuchsen langsam. Irgendwo blieb das Fett hängen und zog weitere Elemente an sich, immer mehr kleine Partikel verfiingen sich an der Oberfläche und wurden ins Innere der Masse gezogen, die sich erweiterte und heranwuchs. Achill hätte dieses Wachstum sehr gerne beobachtet, doch was er sah, war nur das Verschwinden.

Kanalreiniger wird Meme

Philipp Böhms Geschichte “Die Berge unter der Stadt“ stellt mit Achill einen Kanalreiniger vor, der zum Internetstar wird. Es kursiert ein Screenshot, herausgenommen aus einer Film-Dokumentation, die ihn, den Kanalreiniger vor längerer Zeit portraitierte. Bevor er in besagter Dokumentation den Hochdruckreiniger anwirft, dreht sich Achill noch einmal um, weist den Kameramann an zurückzutreten: „Weg vom Gebirge!“, ruft er.

“Vielleicht waren es seine weit aufgerissenen Augen gewesen, seine glänzende Stirn oder der massive Fettberg im Hintergrund. Achills Bild hatte eine Reise begonnen, die 107 Kilobyte wurden vervielfältigt und verbreitet und er selbst wuchs zu einer Berühmtheit heran, warnte vor Sexbots und Clickbait-Seiten, vor ermüdenden Blockchain-Diskussionen und nachbearbeiteten Porträts, ohne dass er davon etwas erfuhr. Achill wurde zu einer namenlosen Berühmtheit, hatte einen eigenen Eintrag bei knowyour- meme.com und fuhr doch jeden Tag in den Vorort hinaus, wo keine Bäume an den Straßen wuchsen.”

German Content Superstar

Die Botschaft dieser sich immer weiter in den Kanälen der Realität und des Internets verästelnden Geschichte ist offensichtlich – hier wird mal wieder jemand zur Internetberühmtheit mit dem Müll, den er herzeigt. Fortan ist Achill, der Held mit dem Namen des größten Helden aller Zeiten, Zentralgestalt der ‚Ilias‘ nicht nur zuständig für die Reinigung des Abwasserkanals, sondern auch für die Bespielung – man könnte sagen – Verunreinigung – der vielen anderen Kanäle des World Wide Web. Sein Chef befiehlt ihm, die Anfragen der Podcaster und YouTuber*innen zu beantworten, er soll sich begeistert über seinen Job auslassen.

„Modern life is rubbish“, das moderne Leben ist Müll, sang die Brit-Pop-Band Blur bereits 1993. Für die Figuren in Philipp Böhms Erzählungsband „Supermilch“ gilt dieser Satz auf beklagenswerte Weise. Gerahmt ist das Ensemble von zwei Geschichten, die augenscheinlich miteinander korrespondieren. In der ersten Erzählung „German Content Superstar“ verliert ein Werbetexter den Verstand.

Traum- und Alptraum-Jobs

In der letzten Erzählung „Bei Pac-Man gewinnen“ sitzt ein verzweifelter Mensch – den man unweigerlich als eben jenen Werbetexter identifiziert, in einer Psychiatrie. Er erkrankt an den gegenwärtigen Verhältnissen, vor allem an seinem Arbeitsverhältnis. Im Lesezeit-Gespräch sagt Philipp Böhm:

“Es reicht nicht, einfach nur seinen Job zu machen, sondern: man muss seine Leidenschaft einbringen, seine Kreativität – was dann so ein Wort ist, was so abgenutzt ist durch diesen Arbeitsweltjargon, dass ich es selbst eigentlich gar nicht mehr benutzen möchte. Es geht sozusagen darum, eins zu werden mit dem Job, die ganze Grenze zwischen Arbeit und Freizeit einzureißen. Ich habe da selbst so meine Erfahrungen gemacht, ich kenn so diverse Betriebe von innen und ich habe immer gesehen, dass dieses Bild, diese Bilder, die sind unglaublich wirkmächtig, diese Bilder müssen immer wieder aufs Neue beschworen werden, sie müssen immer wieder aufs Neue hergestellt werden, produziert werden, gelebt werden – von Menschen, die kreuzunglücklich werden in ihren Arbeitsverhältnissen und von denen trotzdem immer wieder verlangt wird zu behaupten, es sei ihr Traum, ihre Leidenschaft.“

Kein Achill ohne Achillesferse

Wie der vermeintliche Traum zum Alptraum werden kann, zeigen die “Supermilch”-Geschichten des Wahlberliners Philipp Böhm, der Menschen vorstellt, die sich kaum mehr spüren, die aufgefordert werden, sogar den Tod als etwas Schönes anzusehen die aufeinandergehetzt werden in einer Art und Weise, wie sie die Horrofilmreihe „The Purge“ oder die Netflix-Serie „Squid Game“ bereits zeigten. Am Ende wird Achill, der Kanalreiniger, inmitten des Morastes finden, was nicht nur er, sondern nahezu alle Menschen begehren – körperliche Nähe, Geborgenheit, Liebe – während der leise Pipeton seines Multiwarngeräts das Sinken des Sauerstoffgehalts im Schacht anzeigt. Kein Achill ohne Achillesferse: Die Sehnsucht nach Nähe hat den einsamen Fettjäger in den Rhizomen der Netzgesellschaft verwundbar gemacht.

Philipp Böhm: „Supermilch“, Verbrecher Verlag, Berlin, 180 Seiten, 22 Euro.

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