Rezension: Ein Kindertodtenlied

Die neue Erzählung des Österreichers Wolfgang Hermann wendet sich noch einmal zum Trauma. Wie in „Abschied ohne Ende“ 2012 geht es jetzt, zehn Jahre später, um einen Vater, der seinen Sohn verloren hat. Es bleibt die große Frage, wie dennoch ein Leben gelingen mag.

„Ob schon mein Hertze bricht/ Beklag ich liebstes Kind doch deinen Abschied nicht“, schrieb der Barockdichter Andreas Gryphius in seinem Sonett „Auf meines sohnes Theodori absterben“. Hier fragte ein trauernder Vater, welcher Trost trotz des Schreckens gefunden werden kann. Man könnte meinen, derartige Zeugnisse seien üppig in der Literaturgeschichte. Doch obwohl die Kindersterblichkeit in früheren Zeiten erschreckend hoch war, sind hierzulande relativ wenige Kindertotenklagen auszumachen.

Die bekanntesten sind Friedrich Rückerts „Kindertodtenlieder“, 563 an der Zahl, von denen fünf durch die Vertonungen Gustav Mahlers berühmt geworden sind. In diese Tradition schreibt sich der österreichische Schriftsteller Wolfgang Hermann ein, der selbst einen Sohn begraben musste und bereits 2012 in „Abschied ohne Ende“ vom unmittelbaren Sturz in die dunkle Nacht berichtete. “Es waren Tage ohne Licht. Das dunkle Haus war alles, was von der Welt geblieben war. In diesem Haus bewegten sich Menschen, die ich seit Langem kannte, Vertraute, Freunde, und doch war ich allein mit dem schwarzen Schacht in mir.”

Es gibt wieder Licht

In dieser ersten Erzählung ist die Welt des Mannes verdüstert. Nun, zehn Jahre später, wird erneut ein trauernder Vater vorgestellt. Auch er hat einen Sohn verloren, allerdings vor sehr langer Zeit. Wie in der vorherigen Geschichte heißt dieser Sohn Fabius, seine Mutter wird als Angela vorgestellt – in „Abschied ohne Ende“ hieß sie noch Anna. Und noch etwas ist anders. Es gibt wieder Licht, und mit diesem Licht Hoffnung. Eine Frau taucht im Leben des Vaters auf. „Ich hatte meinen Blick so lange nicht mehr erhoben. Doch jetzt, als ich dieses Leuchten, das auf mir ruhte, spürte, erhob ich ihn.“

Diese neue Bekanntschaft, sie heißt Cristina, ist verheiratet. Das illegitime Paar kann sich nur heimlich treffen, im Verborgenen. Doch anders als unmittelbar, in den ersten Tagen nach dem Tod des Sohns, ist dieses neue Verborgene nicht gleichbedeutend mit dem Rückzug, den Trauernde oft suchen. In diesem neuen Verborgenen erwacht der Erzähler langsam aus seiner Lethargie.

Es war nicht sein Kind

Er bemüht sich um Cristina. Er kauft eine neue Stehlampe, schöne Weingläser, guten Rotwein für die gemeinsamen Stunden. Doch das Glück verlässt diese Beziehung irgendwann. „Eines Morgens, lange nach ihrer Rückkehr, rief sie mich weinend an, sagte, sie müsse mich sehen, sie komme gleich zu mir. In der Tür umarmte sie mich, zog mich auf die Couch und sagte, ohne den Blick zu heben, dass sie schwanger sei. Es war klar, dass es nicht mein Kind war.“

Also wieder ein Abschied, der aber nicht zurück in die Dunkelheit führt, sondern von Paris über Marseille nach Aix in die sonnige Provence, wo der Erzähler zunächst eine befreundete Familie mit ihren Kindern besucht. Der Sommer ist gleißend. Verdüstert wird das Bild allein durch hier und da herabstürzende Gedanken an den verstorbenen Sohn. Dann verwandelt sich die Welt in eine Landschaft der Melancholie. Als sein Bekannter sagt, er wollte sich nicht einmal vorstellen, wie es sei, verlöre er eines seiner beiden Kinder, entgegnet der Erzähler: „Stelle es dir lieber nicht vor, denk am besten gar nicht daran, sagte ich. Es gibt ein Vorher und ein Nachher. Wenn es geschehen ist, kann man sich das Leben vorher nicht mehr vorstellen.“

Ein trauernder Wiederholungszwang

Bereits die erste Kindertotenklage Wolfgang Hermanns von 2012 erzählte gleichzeitig von Trauer und von verlorener Liebe. Damals war es die früh gescheiterte Beziehung zur Mutter des Sohns. Jetzt ist es das Ende der Affäre mit der verheirateten, schwangeren Cristina. Doch hier wie dort gibt es einen Neuanfang. „Insel im Sommer“ berichtet im letzten Drittel, wie der Erzähler die alleinerziehende Österreicherin Klara kennenlernt.

Angesichts ihrer kleinen, hellwachen Tochter entsteht ein Wiederholungszwang, der jeder Trauer innewohnt. Denn so, wie der Vater einst mit seinem Sohn an den Strand zog, möchte er nun mit dem kleinen Mädchen ans Meer. Das ist rührend zu beobachten. Es gibt also weiterhin die Trauer, es gibt ein andauerndes Abschiednehmen, weil die Lebendigkeit des Mädchens an den Tod des eigenen Sohns erinnert. Es gibt aber auch die Liebe zur Mutter, die neue Hoffnungen weckt.

„Würde denn wirklich alles noch gut werden? Würde ich aus den dunklen Schatten heraustreten zurück ins Licht? Ich spürte in Klaras und Marias Gegenwart ein neues inneres Licht strahlen, in dessen Kreis ich bleiben wollte. Was immer kommen würde, die große Wunde meines Lebens würde sich wohl nicht mehr schließen. Aber es gab den Umkreis des Lichts, jetzt und in diesem Augenblick auf der Insel im Sommer.“

Eine Sprache der Hilf-, der Fassungslosigkeit

Berührend ist, wie hier eine Figur zurück zum Leben findet. Seine Sprache hat diese Figur noch nicht komplett wiederhergestellt. Wie in der vorherigen Geschichte finden sich auch hier Formulierungen, die stilistisch schief zum übrigen Text stehen – stets dann, wenn die Erinnerung an den toten Fabian aufkommt. An einer Stelle wird der Sohn als „Augenstern“ bezeichnet. Wo andere Menschen gehen, da trollen sie sich hier davon. Trauer bricht Stil. Es ist eine Sprache der Hilf-, der Fassungslosigkeit.

Er habe mit dem Tod seines Sohns dem Gott im Himmel ein Opfer dargebracht, formuliert der Vater in Andreas Gryphius Sonett. „Wolan es zeucht zu dir:/ Was wirst hergegen du mir vor ein Neu-Jahr gönnen?“, steht da. Was also bekommt ein trauernder Mensch als Gegenleistung geschenkt? Diese alte Frage stellt auch Wolfgang Hermann – allerdings nicht wie bei Gryphius an Gott, sondern an die Liebe. „Insel im Sommer“ spricht, wo andere angesichts des Schreckens verstummen. Es ist ein „Kindertodtenlied“ der leisen Hoffnung, und der Künstler wird hier, ganz im Sinne Sigmund Freuds, zum Tröster seiner selbst.

Wolfgang Hermann: „Insel im Sommer“, Czernin Verlag, Wien, 72 Seiten, 17 Euro.

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