Rezension: Frieden im Krieg

G.W. Pabst war einer der bedeutendsten deutschen Regisseure des 20. Jahrhunderts – gefeiert schon zu Stummfilmzeiten, später „Der rote Pabst“ genannt, nach Filmen wie „Die Dreigroschenoper“ (1931) oder „Kameradschaft“ (1931). Doch Pabst wirkte auch in der NS-Zeit. Daniel Kehlmanns neuer Roman „Lichtspiel“ nähert sich einer mindestens zwiespältigen Figur.

„Wer es versteht und den Weg weiß, der lebt auch in der Hölle behaglich“, schreibt Heimito von Doderer, der große österreichische Schriftsteller, in einer Erzählung aus dem Jahr 1966. Sie berichtet von einem Wiener Soldaten, der während des Zweiten Weltkriegs in einer Luftwaffen-Dienststelle arbeitet, abends in bürgerlichen Kreisen verkehrt und ein relativ ruhiges Leben hat, einen sogenannten „pax in bello“ – einen Frieden während des Kriegs. „Unter schwarzen Sternen“ heißt diese Geschichte, und ein Zitat aus besagtem Text ist dem neuen Roman Daniel Kehlmanns vorangestellt,

„Wie man’s denn damals überhaupt machte, daß man morgens noch aufstand, und wieder und wieder? Emporgehoben und dahintreibend auf einer breiten Woge des Unsinns, obwohl wir es doch wußten und sahen, und um so schlimmer! Aber dieses Wissen allein war es zuletzt, was uns überleben ließ, während viel Bessere als wir verschlungen wurden.“

Auch Daniel Kehlmanns Roman „Lichtspiel“ berichtet vom „pax in bello“, und von einem, der ebenfalls während des Nationalsozialismus emporgehoben wird. Im Zentrum der überwiegend chronologisch erzählten Geschichte steht G. W. Pabst, der mit seinen Stummfilmen zu einem der einflussreichsten deutschen Regisseure avancierte, später glücklos in die USA emigrierte – im nationalsozialistischen Deutschland wieder erfolgreiche Filme drehte, wie jenes Historiendrama um den legendären Arzt „Paracelsus“, das 1942 entstanden ist, wenige Monate, bevor die 6. Armee in der Schlacht um Stalingrad vernichtet wurde.

Gartenpartys in Hollywood

„’Aber war er wirklich ein Nazi?’, fragte Paul Levy. ‚Vor dem Krieg nannte man ihn doch den roten Pabst.’“ – Wie diese Frage, ob Pabst nun Nazi war oder nicht, aufkommen konnte, zeigt Kehlmanns episch langer Roman, der nach einem kurzen Präludium ins Jahr 1933 springt. Der Regisseur will in Hollywood Fuß fassen, wie vor ihm seine deutschen Kollegen Friedrich Wilhelm Murnau und Ernst Lubitsch.

„Kein Windhauch, erstarrt die Palmen ums Schwimmbecken.“ Mit diesen ermattet klingenden Worten beginnt der 85-seitige Amerikaabschnitt – und obwohl eine Gartenparty, ein illustres Beisammensein berühmter Emigranten und ein Treffen mit Filmstar Greta Garbo geschildert werden, liegt eine bleierne Schwere über diesem träg erscheinenden, ersten Teil des „Lichtspiel“-Romans. Der Regisseur möchte eine finstere Parabel auf die vergiftete Gesellschaft seiner Zeit inszenieren. Tatsächlich gibt es unrealisierte Filmprojekte von Pabst, die an seine hier dargestellten Hollywood-Pläne erinnern.

Bereits Mitte der 1920er Jahre wollte er – in Anlehnung an Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ – einen Film über den Matrosenaufstand in Kiel 1918 machen. Nach dem Krieg scheiterte seine geplante Adaption von Homers „Odyssee“. Pabst wollte damals die Rolle der Peneolope mit Greta Garbo besetzen. Im Roman soll hingegen ein Ozeanschiff mit reichen und armen Leuten, eine gesittete Gesellschaft vorgestellt werden. Plötzlich kommt ein Funkspruch: Der Krieg wurde erklärt! Doch dieser Funkspruch ist falsch.

„Und auf dem Schiff bricht dennoch Krieg aus. Die Passagiere kämpfen, Gruppen bilden und bewaffnen sich, vielleicht gibt es sogar Tote, unter Umständen wäre das zu viel, vielleicht nicht. Müsste man überlegen. Aber dann stellt sich heraus, dass es nur ein Irrtum war. Eine Illusion. Und dann – Greta, das ist das Wichtigste! – müssen aber alle weitermachen mit der Schmierenkomödie der Zivilisation. Als wäre nichts gewesen.“

Im Nationalsozialismus gefangen

Eine böse Vorausahnung auf den Zweiten Weltkrieg, ebenso auf die spätere, vermeintlich entnazifizierte Friedensgesellschaft. Die kalifornischen Produzenten haben kein Interesse an diesem Stoff. Sie nötigen den großen Regisseur stattdessen zu einem überaus seichten Kommerzfilm: „A Modern Hero“. Dieser fällt bei Kritik und Publikum durch. Wenig bleibt von G. W. Pabsts Bedeutung, die er während der Weimarer Republik innehatte aufgrund großer Kinoproduktionen wie „Die freudlose Gasse“, „Die Dreigroschenoper“ oder „Die weiße Hölle vom Piz Palü“ mit der damals 27-jährigen Schauspielerin Leni Riefenstahl.

Ratlos kehrt die Familie nach Frankreich zurück. 1939 möchten sie Pabsts kranke Mutter besuchen, um kurz darauf Richtung Amerika abzureisen. Mit dem Überfall auf Polen beginnt der Zweite Weltkrieg. Die Familie muss an Ort und Stelle bleiben, dort, wo sich einige der größten Stars mit dem mörderischen Regime arrangieren – wie der beliebte Schauspieler Heinz Rühmann.

„Ganz ohne Kompromisse gehe es natürlich nicht, sagte Rühmann. Er habe sich von Maria scheiden lassen müssen, sonst hätte er nicht mehr arbeiten können. Er habe ihr dann selbst einen schwedischen Kollegen als neuen Scheinehemann vermittelt, den Rolf. Er überweise den beiden monatlich Geld, Göring habe das Arrangement abgesegnet. So sei allen geholfen: Er könne drehen, Maria sei sicher, Rolf verdiene gut.“

Der Dämon Joseph Goebbels

G.W. Pabst möchte derartige Kompromisse nicht machen, doch wird er schon bald bei Joseph Goebbels vorgeladen, dem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda – und damit auch ersten Filmproduzenten des nationalsozialistischen Deutschlands. Der Regisseur schiebt wortreich gesundheitliche Probleme vor, es sei ihm schlechterdings unmöglich, Filme zu drehen. „’Bedenken Sie, was ich Ihnen bieten kann’, unterbrach der Minister, ‚zum Beispiel KZ. Jederzeit. Kein Problem. Aber das meine ich ja gar nicht. Ich meine, bedenken Sie, was ich Ihnen auch bieten kann, nämlich: alles, was Sie wollen. Jedes Budget, jeden Schauspieler. Jeden Film, den Sie machen wollen, können Sie machen.“

Goebbels erscheint in diesem Kammerspiel-Kapitel wie ein Wiedergänger des tödlich charmanten SS-Standartenführers Hans Landa in Quentin Tarantinos kontrafaktischem Kriegsfilm „Inglourious Basterds“ – gespielt von Christoph Waltz (dem Daniel Kehlmann am Ende seines Romans dankt). Zufällig erscheinen die Filmanleihen keineswegs, ist der Roman doch selbst als ein „Lichtspiel“ betitelt. Alltägliche Bewegungen erinnern so auch ans Kino. Ein PKW-Fenster, das runtergekurbelt wird, spielt gleichsam auf das Kurbeln einer Filmspule an, und wenn eine Figur kurz danach vor einem Paternoster steht, verweist der Umlauf dieser Beförderungskabinen auf den Kinoprojektor, bevor die Handlung das Filmen direkt beobachtet, wie die Dreharbeiten des „Paracelsus“ im Jahr 1942, wo einer der Schauspieler moralische Einwände artikuliert.

Kunst ist immer unnötig

„’Aber finden Sie es nicht seltsam, Pabst, dass wir mitten im Weltuntergang so einen Film drehen? So ein … Kunstwerk?’“ In diesem Stadium, längst vereinnahmt von der nationalsozialistischen Propagandamaschine, zieht sich Pabst auf einen unpolitischen Ästhetizismus zurück, und gibt zu bedenken, dass die Zeiten immer seltsam seien, die Kunst stets unpassend: „Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.“

Der Künstlerroman ist eine der literarisch interessantesten, aber auch eitelsten Gattungen, ein irisierendes Amalgam aus Poetik und Dichtung. Dass der deutsche Filmregisseur G. W. Pabst im Mittelpunkt des „Lichtspiels“ steht, ist nicht nur in Bezug auf die literarische Tradition, sondern auch aufgrund der Familiengeschichte des Autors interessant. Kehlmanns Vater war selbst Regisseur, hat unter anderem 1965 den „Radetzkymarsch“ Joseph Roths verfilmt. Schon hier trafen sich Literatur und Film. Dabei ist die Geschichte, die Kehlmann erzählt, anders, als man vermuten würde, keine Kinohommage im engeren Sinne, sondern vielmehr eine Parabel auf die gegenwärtige, durch den 2014 begonnenen Krieg in der Ukraine entstandene „pax in bello“-Situation Westeuropas.

Willkommen in Weimar

„Man fuhr durch die seit Jahrzehnten friedliche Welt, hatte keinem etwas getan, war unbescholten und arglos und wurde plötzlich verhaftet. Ja, heute war derlei üblich, aber am Ende der langen Friedenszeit war man auf so etwas nicht gefasst gewesen.“So denkt G. W. Pabst an seine Internierung während des Ersten Weltkriegs zurück – und liefert mit diesen Gedanken gleichzeitig einen Kommentar zu unserer Zeit, wie ohnehin der gesamte „Lichtspiel“-Roman von Gegenwartskommentaren durchsetzt ist.

Die bis in die 1950er Jahre verfolgte, auf 480 Seiten behandelte Biographie des Regisseurs ist Anlass zahlreicher Parallelisierungen zwischen dem Jetzt und einer verblassenden, da nicht mehr von Zeitzeugen erinnerten Vergangenheit. Legion sind bereits seit vielen Jahren jene Analysen, die unsere Gegenwart mit den deutschen Verhältnissen nach dem Ersten Weltkrieg in Deckung bringen.

Bereits im Dezember 2015 hat „New York Times“-Kolumnist Roger Cohen seine Leser mit „Welcome to Weimar America“ begrüßt. Eine Reihe wie „Babylon Berlin“ ist auch deshalb erfolgreich, weil die 1920er Jahre im Spiegel der 2020er-Dekade inszeniert werden. Kehlmanns „Lichtspiel“ versucht Ähnliches, ist lediglich zehn Jahre weiter. Parallelen zur Gegenwart wirken beabsichtigt. Wenn G. W. Pabst über seine Arbeit nachdenkt, erinnern einige seiner Überlegungen an die derzeitige KI-Debatte. Künstliche Intelligenz, so wird immer wieder prophezeit, mache schon bald Musiker, Schriftsteller, Maler überflüssig:

„Und immer wieder fragte man sich insgeheim, wann wohl all die Leute, die an einem Film zusammenarbeiteten, darauf kommen würden, dass sie es auch ohne Regisseur tun konnten, wenn sie sich nur einigten. Denn die Darsteller konnten durchaus alleine spielen, der Kameraoperateur konnte sie problemlos dabei filmen, der Architekt konnte eine Bühne für sie bauen, und der Cutter konnte nachher das Beste auswählen und zusammensetzen.“

Kunst und KI im Dritten Reich

Eine Kritik am Führerprinzip … zugleich werden Autonomiefragen wie diese auch in Bezug auf Künstliche Intelligenz gestellt.  Einige Antworten liefert Kehlmanns „Lichtspiel“-Roman, wenn gezeigt wird, auf welche Weise G. W. Pabst sein Ensemble eben ganz anders als eine KI, nämlich überaus menschlich leitet, wie er die Fäden zusammenhält, sie so geschickt verwebt, dass am Ende ein Ganzes entsteht: „Wie immer sprach er mit jedem Schauspieler anders. Dem einen gab er Befehle, eine andere bat er, dem dritten gab er in trocken ernstem Ton Erklärungen, mit einem anderen lachte er, bis sie nicht mehr aufrecht stehen konnten und einander in die Arme fielen.“

In den Filmen wird deutlich, wie G. W. Pabst Kino als Erkenntnismedium nutzt. Entlang eines Films wie „Kameradschaft“ lässt sich Solidarität erfahren, wenn deutsche Bergleute ihren französischen Kumpeln spontan zur Hilfe eilen, nachdem diese im Stollen verschüttet wurden. „Die Büchse der Pandora“ zeigt das fatale Zusammenspiel von falscher Selbstliebe und manipulativen Verhaltensweisen. „Paracelsus“ wiederum erzählt nicht nur von einer berühmten Figur deutscher Geistesgeschichte, sondern zeigt – während des Nationalsozialismus – in welcher Weise eine hysterische Masse Leib und Leben Andersdenkender bedroht. Gefragt werden kann, wie gegenwärtig die Vorstellung des britischen Schriftsteller P. G. Wodehouse ist. Im Roman scherzt er während einer Premierenfeier mit Trude Pabst, der Ehefrau – und äußert sich offensichtlich ironisch über die Abschaffung der Kunstkritik:

„’Kritiken? Zersetzendes Zeug! Eine jüdische Gattung, die niemand braucht. Bei uns gibt es stattdessen Kunstbetrachtung! Schauen Sie.’ Er hielt einen großgewachsenen bebrillten Mann auf und sagte: ‚Darf ich vorstellen? Guido Merwetz. Einst ein gefürchteter Kritiker. Jetzt feinsinniger Kunstbeschreiber.’“

Kunstbericht statt zersetzende Kritik

Zum Hintergrund sei an Joseph Goebbels „Anordnung des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda über Kunstkritik vom 27.11.1936“ erinnert. Die Kunstkritik wurde damals durch den sogenannten „Kunstbericht“ ersetzt, an die Stelle des Kritikers trat der sogenannte Kunstschriftleiter. Der Kunstbericht sollte fortan weniger Wertung, als vielmehr Darstellung und damit Würdigung sein. Das erinnert durchaus an heutige Debatten. Die vermeintliche Beschädigung von Künstlern und Kunstwerken durch die Kritik wird auch 2023 diskutiert, wenngleich aus vollkommen anderen Gründen.

Heutzutage wird – in manchen Kreisen – die wertende, vor allem negative Kritik als unangemessen angesehen oder Fach-Jurys als gewalttätige Institutionen angesehen. Kehlmann selbst wetterte 2008 gegen den Deutschen Buchpreis. Eine Studie der Soziologin Phillipa K. Chong stellte 2020 fest, dass die US-amerikanische Literaturkritik inzwischen wesentlich wohlwollender argumentiert als in früheren Jahrzehnten. So bezieht sich die erfundene Invektive P. G. Wodehouses im Kehlmann-Roman wohl auch auf eine kulturelle Veränderung, die seit einigen Jahren das literarische Feld umgestaltet.

Kulturelle Aneignung im NS-Staat

Weitere Praktiken, die früher unbedenklich waren, stehen inzwischen in der Kritik, darunter die sogenannte „kulturelle Aneignung“, also das Sprechen einer privilegierten Figur oder eines privilegierten Autors im Namen einer weniger privilegierten Person oder eines benachteiligten Kulturkreises.

„Dichter sollten über das schreiben, was sie kennen“, sagt eine Romanfigur während eines privaten Lesekreises und könnte damit auf Praktiken der „cultural appropriation“ anspielen. Bei dem Treffen werden großen Fragen über Ethik und Poetik, über richtige und falsche Wertungen disputiert.

Wenig später debattieren Bewohner eines Seniorenheims Fragen über naturalistische und phantastische Ästhetik, über richtige und falsche Haltung, über die letzten Schutzräume sprachlicher Äußerungen. Als sich Erika Pabst, die Mutter des Regisseurs, beim Personal über den Angriffskrieg Deutschlands beschweren will, wird sie von einem Mitbewohner gewarnt, es sei gefährlich, derartige Reden anzustimmen. „Wir sind hier sicher, man toleriert unsere Wirrnis, aber für selbstverständlich dürfen Sie das nicht nehmen.“

Gemeinsamkeiten mit J. K. Rowling

Dass Kehlmann interessiert ist an Fragen über die Grenzen des Sagbaren, über Repräsentanz, kulturelle Aneignung und die momentanen Freiräume der Kunst, zeigen seine gesellschaftspolitischen Einmischungen. 2020 unterzeichnete er einen offenen „Brief zu Gerechtigkeit und offener Debatte“, zusammen mit Kolleginnen und Kollegen wie Salman Rushdie, J. K. Rowling und Margaret Atwood. Dereinst wurde beklagt, es herrsche „eine Intoleranz gegenüber gegensätzlichen Ansichten, ein Hang zu öffentlicher Beschämung und Ausgrenzung sowie die Tendenz, komplexe politische Fragen in einer blendenden moralischen Gewissheit aufzulösen.“ Dass seine Unterschrift nicht gleichzusetzen sei mit einer generellen Ablehnung der sogenannten „woken“ Bewegung, machte Kehlmann wiederum 2022 in seiner Marbacher Schillerrede deutlich. Dort fragte er nach der Angemessenheit oder vielmehr Unangemessenheit gewisser Aneignungspraktiken.

„Ja, man darf vieles, aber Sinn und Verstand sollte das ganze schon auch haben, und der Umstand, daß in Deutschland tatsächlich noch heute Indianerfilme gedreht werden, in denen deutsche Darsteller mit Federn auf dem Kopf durchs Unterholz robben, ist an sich schon unglaublich. Wenn dann ein Kinderbuchverlag, wohlgemerkt: ein Verlag für pädagogische Bücher, entscheidet, ein paar auf diesem Unsinn basierende Produkte lieber doch nicht in den Verkauf zu bringen, so kann man das vielleicht kritisieren, aber den Untergang des Abendlandes braucht man deshalb nun wirklich so wenig auszurufen wie die Wiederkehr der Zensur.“

Die Literatur darf prinzipiell alles – mit Einschränkung, so die Quintessenz der Schillerrede aus dem vergangenen Jahr. Klar wurde auch hier, dass die Literatur anderen Gesetzen unterliegt als ein Nachrichtentext. Diese Grenzen lotet der „Lichtspiel“-Roman aus, wo das Leben G. W. Pabsts lediglich Inspirationsquelle ist.

Eine Packung Vollkornzwieback

Während Kehlmanns Sprache realistisch, ja geradezu trocken anmutet wie eine Familienpackung Vollkornzwieback, steht die Erzählung selbst auf schwankendem Wirklichkeitsgrund. Zeitlich unabhängige Ereignisse werden zusammengebracht. Aus einer Radio-, wird eine Fernsehsendung. Es gibt zahlreiche Verfremdungen – so heißt die leicht als P. G. Wodehouse identifizierbare Figur im Roman Rupert Wooster, ein Buchtitel wird umgedichtet, Topoi antifaschistischer Filme werden variiert, wie dieser: Eines Tages entdeckt der Sohn G. W. Pabsts einen Kellerschacht, er steigt allein ins Dunkle, „und als er blinzelnd weitergeht, stockt er, weil er in diesem Moment schon sieht, was er aber eigentlich noch nicht sehen kann, weil die Tür es noch verdeckt, aber dann steht sie offen, und ihm stockt der Atem, sein Herz setzt aus.“

Weiter hinten kauert ein Mensch. Doch es ist nicht, wie man vermuten würde, eine jüdische Person, die sich verbirgt, sondern ein gewöhnlicher Nazi-Hausmeister. Das Potential einer ähnlich schaurigen Kellerbegehung hat Kehlmanns „Lichtspiel“-Roman durchaus, man denke an die anfängliche Beobachtung Heimito von Doderers: „Wer es versteht und den Weg weiß, der lebt auch in der Hölle behaglich.“ Immer wieder nähert sich Kehlmanns Geschichte der Frage, wieviel Schminke nicht nur der Filmschauspieler, sondern manchmal auch der reale Mensch braucht, um in der Hölle behaglich zu leben.

Doch ruckelt die Geschichte über weite Strecken wie eine schief eingefädelte Filmspule. Etliche Szenen hätten einen früheren Schnitt – also die Kunst eines G. W. Pabst – gebraucht. Zu oft geraten Sinnbilder plakativ, wie das Klavier, das am Ende zur Barrikade umfunktioniert wird. Selbst der geschickt inszenierte Erzählanlass verblasst zum MacGuffin, als ein vom Film entliehenes Stilmittel, das die Handlung motiviert, ohne sie auf staunenswerte Weise voranzutreiben. Kein neuer „Paracelsus“ also, kein intellektueller Blockbuster – eher eine brave Fernsehproduktion, der mehr Freude am Spielerischen gutgetan hätte.

Daniel Kehlmann: „Lichtspiel“, Rowohlt-Verlag, Hamburg, 480 Seiten, 26 Euro.

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