Rezension: Verflüssigte Familien

Mit Deborah Levy und ihrem Roman „Heim Schwimmen“ geht es an den Swimmingpool – und es ist mehr als eine Wiedervorlage bekannter Feriengeschichten, was am Hintergrund der 1959 geborenen Schriftstellerin liegen könnte, die sich hier auf besondere Weise mit Traumata beschäftigt.  Mit ihrer Familie emigrierte die damals Achtjährige in den 1960er Jahren von Südafrika nach England – ihr Vater, ein Historiker und ANC-Aktivist, war vom Apartheid-Regime über mehrere Jahre inhaftiert worden. Die Emigration sollte die Familien in Sicherheit bringen. „Heim Schwimmen“ berichtet nun auch von gesellschaftlicher Diskriminierung, von Verfolgung und Gefahr – und in wie aus diesen Problemen eine lebenslange Beschädigung entsteht. Der kurze Roman stand 2012 auf der Shortlist des Booker Preises – und ist vordergründig eine Familiengeschichte vor französischer Sonnenkulisse: mit einer blumenliebenden Nymphe, quecksilbrigen Phantasien und einem fatal-fanalen Gedicht.  

1994, wenige Wochen, nachdem sich Kurt Cobain erschossen hat: Die vierzehnjährige Nina Jacobs aus London fährt mit ihren stressigen Eltern in die französischen Seealpen. Ihre Mutter Isabel, eine nervöse, mit dem Altern überforderte Kriegsreporterin und ihre Vater Joe, ein erfolgreicher Schriftsteller, wollen am Swimmingpool abhängen, kochen, die heißen Tage genießen. Dafür haben sie eine schicke Villa gebucht und Freunde eingeladen. Es könnten geruhsame Tage werden.  Doch dann treibt eine nackte junge Frau wie ein Seestern im Becken. Es ist die verführerische Botanikerin Kitty Finch, ein Meerwesen mit grünlackierten Fingernägeln, die wie Ursula Andress in „James Bond jagt Dr. No“ aus dem schillernden Wasser steigt und die geplante Ruhe auf magische Weise durcheinanderbringt. Denn niemand hat Kitty gerufen. Allein aus Höflichkeit bietet man der Unbekannten ein Zimmer an.

Kitty, die vor allem die Nähe des notorisch untreuen Joe sucht, will als Schriftstellerin durchstarten, braucht dafür professionelle Unterstützung und ist bereit, Register zu ziehen, die eine verführerische (und psychisch deviante) Frau unter Dreißig auferbieten kann. Sie tritt anzüglich in grünem Sommerkleidchen auf, als sei sie bereits eine „schöne Leich“, von Algen bedeckt, wie in so vielen Geschichten (vor allem aus Wien). Kitty ist der französisch freie Gegensatz zur kühlen Britishness ihrer Gastgeber. Doch ist sie weniger selbstsicher, als auf den ersten Blick angenommen. Kitty leidet unter „psychischer Angst, Gewichtsverlust, Schlafmangel, gesteigerter Erregbarkeit, Selbstmordgedanken, einer pessimistischen Einstellung hinsichtlich der Zukunft und Konzentrationsstörungen.“ Außerdem ist sie die meiste Zeit nackt, und fixiert von dem Gedanken: „Das Leben ist nur lebenswert, weil wir hoffen, dass es irgendwann besser wird und dass wir am Ende alle wohlbehalten heimkehren.“

Das ist zwar keine Störung per se, aber für Typen Joe entwickelt sich entlang dieses Borderline-Verhaltens eine Reifeprüfung besonderer Art. „Konnte es sein, dass Isabel den Anfang vom Ende ihrer Ehe eingeläutet und Kitty Finch angeboten hatte zu bleiben, damit sie sein letzter Seitensprung wurde?“ Joe wird mit sich kämpfen, bis am Ende dieser Ferien ein nicht mehr rückgängig zu machendes Unglück geschieht. „Der rechteckige, in Stein gehauene Schwimmingpool im Garten der Villa erinnert ihn an einen Sarg. Ein schwimmender, offener Sarg, erleuchtet von Unterwasserscheinwerfern“, wird Joe irgendwann denken. Da hat sich der Zauber vom Anfang mit der nackten Venus, dem Kaiserwetter, dem schillernden Wasser längst ins Fürchterliche gewendet. Deborah Levy bedient sich am kompletten Motivreservoir der Swimmingpool-Filme und -Literatur, um im Suspensestil zu beschreiben, wie eine kleine Gruppe binnen weniger Tage auf die Katastrophe zusteuert. So schreibt ihre verführerische Heldin an einem Gedicht, das wie das Buch „Heim schwimmen“ heißt, aber mehr Verlockung denn Rettung darstellt. Das Gedicht und diese Frau sind eine Gefahr und erinnern bereits darin an Francois Ozons Thriller „Swimming Pool“ von 2003, wo ebenfalls Literatur und Realität, Alter und fatale Jugend zusammenkommen.

Das Auftauchen einer fremden Schönheit (im französischen Urlaub) führt auch in Jacques Derays „Der Swimmingpool“ von 1969 (mit Romy Schneider) ins Verderben. Die Femme fatale aus dem Wasser, die Nixe, die Undinen und die Sirenen waren schon immer gefährliche Begleiterinnen. Wer ihnen zu nahe kommt, stirbt eines qualvollen Todes. „Heim schwimmen“ bietet allein deshalb mehr als Ferienwochenschilderungen mit gebratenen Krustentieren, Cocktails, Bootsfahrten und glotzenden Jungs am Badestrand. Der Roman wurde in Großbritannien gefeiert, weil er seine Leichtigkeit mit allerhand Wassermythen und Verführungsmärchen auflädt – und weil er tief in der Katastrophe des 20. Jahrhunderts wurzelt.

Die jugendliche Nina bekommt ausgerechnet in dieser Ferienwoche zum ersten Mal ihre Periode und schwimmt anschliessend nachts mit Kitty im Pool, frei getragen vom Wasser, ebenfalls nackt. Sie wäre gern wie ihre neue Freundin: verführerisch, eigensinnig und ursprünglich. Mutter Isabel bemerkt zur gleichen Zeit, wie all diese Wesenszüge an ihr, der alternden Frau, verlorengehen. Da sitzt sie im Café und stellt fest, dass ältere Frauen kaum bedient werden, wenn barbusige Mädchen zur gleichen Zeit kühle Getränke ordern.

Zwischen den Zeilen stecken Seite für Seite die ganz großen Themen: Eifersucht, Angst, Tod, Sex, das Erwachsen- und Älterwerden. Gerade einmal 160 Seiten braucht Deborah Levy, um den Sommerferientraum einer erschöpften Familie in einen Psychothriller zu verwandeln. Dieser Roman liegt leicht im Wasser, er floated durch die heißen Tagen, und erinnert nebenbei, dass nicht alles am Sommer bezaubernd sein muss.

Deborah Levy: „Heim schwimmen“, übersetzt von Richard Barth, Wagenbach, 168 Seiten, 17,90 Euro / Neuauflage 2024: Kampa, Zürich, 22 Euro

Der Querverweis

Diese Autoren machen Euch nass: Denn Ohne Wasser säße viele Geschichten auf dem Trockenen. Zu den aktuell besten Wasserbüchern gehört „Bahnen ziehen“, wo Leanne Shapton in Texten, Gemälden, und Fotografien von ihrer Schwimmkarriere schreibt. John Cheever hat einen Schwimmer durch die Pools seines Vorortviertel geschickt: der überquert, quasi als einer der ersten Parkour-Helden, Zäune und Mauern, um von Garten zu Garten, von Pool zu Pool heimzukommen. Bei Kollege John Updike steht der Swimmingpool für den Zerfall einer Familie. Im melancholischen Leistungssportroman „Schwimmerin“ beschreibt Bill Broady die Qualen einer Schmetterlingsmeisterin. Dass festes Papier nur mit Flüssigem geschöpft werden kann, erzählt John von Düffel in seinem Debütroman „Vom Wasser“.

Zweitlektüre 2025

Deutlich wird die Verwandtschaft zwischen Deborah Levys Novelle und André Acimans „Call me by your Name“-Roman (noch mehr, ob der prägnanten Wassermetaphorik, mit  Luca Guadagninos Verfilmung von 2017). „Heim schwimmen“ kann, wie „Call my by your Name“, als Post-Holocaust-Geschichte gelesen werden, die nach unsagbaren Trauma-Anteilen fragt. Deshalb ist das titelgebende Gedicht der depressiven Kitty (sie trägt den Namen von Anne Franks fiktiver besten Freundin) durchsetzt von „Etc.“-Notationen („Meine Mutter sagt, ich sei der einzige Zacken in ihrer Krone / Aber ich habe sie müde gemacht mit meinen vielen Etc.s / Und jetzt geht sie auf Krücken“), die der Schriftsteller dechiffriert als „etwas, das man mit Worten nicht ausdrücken konnte“.

Ebensowenig in Worte fassen kann Isabel, das von ihrer vierzehnjährigen Tochter Nina so dringend benötigte Utensil. Einen ganzen Vormittag lang findet Isabel keine Binden, weiß nicht einmal, wie diese auf französisch bezeichnet werden: „Schließlich habe sie von dem Mann in der Apotheke erfahren, dass sie serviettes hygiéniques hießen. Er habe die Einlagen in eine braune Papiertüte gesteckt, dann in eine Plastiktüte, als wären sie in seiner Vorstellung bereits blutgetränkt.“ – Es ist ein mehrfaches Verbergen des Unaussprechlichen, so wie Joe das Gedicht Kittys unter seinem Bett verbirgt!

Joe Jacobs, 1937 als Jozef Nowogrodzki im westlichen Polen geboren, wurde 1942 von seinen Eltern im Wald versteckt, damit wenigstens er von der drohenden Deportation verschont bleiben konnte: Er kam halb verhungert und mit gefälschten Papieren in Großbritannien an. „Drei Tage nach seiner Ankunft wurden seine Mutter, sein Vater und seine zwei Jahre alte Schwester in das Vernichtungslager Chelmno im Westen Polens deportiert.“ Im Roman plant er nach dem Urlaub eine Lesereise nach Polen, seiner alten Heimat. Er ist eingeladen, in Krakau zu lesen, doch ebenso, wie er vehement behauptet, er habe Kittys Gedicht nie gelesen, verbirgt er vor sich selbst die mit der Heimkehr verbundene Angst. Seine eigene Geschichte erzählt er so: „Mein Vater sagte Lebewohl etc. Meine Mutter sagte Lebewohl etc. Sie versteckten mich in einem finsteren Wald im Westen Polens etc.“

Joe/Jozef verbindet sein Trauma mit der psychischen Krankheit Kittys. Deshalb wird an einer Stelle, die zunächst rätselhaft wirkt, über Steven Spielbergs „E.T.“ (E.T. und etc.) gesprochen, den kleinen Außerirdischen, der nicht nur gleichsam nach Hause zurückkehren möchte, sondern selbst eine Symbiose mit dem zehnjährigen Elliott eingeht: „Also… wenn E.T. krank ist, wird auch der Junge krank, wenn E.T. Hunger hat, kriegt auch der Erdenjunge Hunger, und wenn E.T. müde oder traurig ist, leidet der Erdenjunge mit.“

Die (Nach-)Geschichte des Holocaust wird immer wieder angespielt – da ist der schwule deutsche Hausmeister Jürgen, dessen Partner Claude an einer Stelle darüber nachdenkt, ein besonders böses Gerücht über die Psychoanalytikerin Madame Dwighter zu verbreiten, über jene Frau, die Joes Familie das Haus an der Côte d’Azur vermietet. Sie habe, so seine Vorstellung des Gerüchts, einen ihrer reichsten Klienten in die Selbstverstümmelung getrieben, „nachdem sie herausgefunden hatte, warum er so gerne eine Naziuniform anzog und Prostituierte auspeitschte.“

Kitty lebt ihre Erkrankung aus, während Joe seine verbirgt (nur nachts, in seinen Träumen, tauchen die verstorbenen Eltern auf) und deshalb reagiert er irgendwann ungewöhnlich heftig auf diese junge Frau mit dem Vogel (Finch): „Ich kann Depressive nicht ausstehen. Es ist wie ein Job, das Einzige, woran sie wirklich hart arbeiten. Oh super, meiner Depression geht’s heute blendend. Super, heute habe ich ein neues unerklärliches Symptom, und morgen habe ich noch eines. Die Depressiven sind voller Hass und Galle, und wenn sie gerade keine Panikattacke haben, dann schreiben sie Gedichte. Was erwarten sie sich bloß von ihren Gedichten? Ihre Depression ist das Vitalste an ihnen.“ Er selbst will ein Mann der Tat sein, er gehört nicht „zu der Sorte Dichter, die den Mond anstarren und keine Muskeln haben.“ Er gehört zu jenen, die verdrängen, sich panzern – und am Ende dennoch zugrunde gehen.

 

Jan Drees

Ich bin Redakteur im Literaturressort des Deutschlandfunks und moderiere den „Büchermarkt“.

Im Jahr 2000 erschien mein Debütroman „Staring at the Sun“, 2007 folgte ein überarbeiteter Remix des Buchs. Im Jahr zuvor veröffentlichte der Eichborn-Verlag „Letzte Tage, jetzt“ als Roman und Hörbuch (eingelesen von Mirjam Weichselbraun). Es folgten mehrere Club-Lesetouren (mit DJ Christian Vorbau). 2011 erschien das illustrierte Sachbuch „Kassettendeck: Soundtrack einer Generation“, 2019 der Roman „Sandbergs Liebe“ bei Secession. Ich werde vertreten von der Agentur Marcel Hartges in München.

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