Rezension: Die Schnapsleiche

Auf der Lebensreise haben viele Menschen irgendwann ein Erschrecken. Sie erkennen, dass sie sterben müssen. Was geschieht, wenn uns dieses Erschrecken befällt, erzählt die neue Gespenstergeschichte von Hansjörg Schertenleib.

Nach dem ersten Glas siehst du die Dinge so, wie du sie gern hättest. Nach dem zweiten siehst du die Dinge, wie sie nicht sind. Am Ende siehst du die Dinge so, wie sie wirklich sind, und das ist das Entsetzlichste überhaupt.“ Mit diesen Worten adelte der irische Schriftsteller Oscar Wilde den poetisch auch „grüne Fee“ genannten Wermutschnaps Absinth.

Die erkenntnistheoretisch hochproblematische Annahme, man könne ausgerechnet im Vollrausch die Welt so sehen, wie sie realiter ist, wirkte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlockend. Während Ingenieure mit Glühbirne, Grammophon und Radar den modernen Realitätszugriff revolutionierten, erforschten Künstlerinnen und Künstler ihre seelische, von technischen Apparaten unzugängliche Seelenwelt. Dieser interessante Gegensatz von Ratio und Emotion ist Motor auch jener Gespenstergeschichte von Hansjörg Schertenleib, in der ein Spezialist für Landkarten, Atlanten und Globen ins Reich der Paranormalität gelockt wird. „Ich war der festen Überzeugung gewesen, Übersinnliches und Übernatürliches sei Hokuspokus, ich hielt Hellseher, Geistheiler oder Magier für Scharlatane und glaubte eher an Tatsachen und Fakten als an Geister, Feen, Untote oder Wiedergänger.“

Ich vergesse Namen, Daten und Gesichter

Der hier sich selbst charakterisierende Arthur Dold ist ein realitätshungriger Sonderling, der nun erfahren muss, dass neben der kartographierbaren Welt ein Schattenreich des Unwahrscheinlichen, des Unheimlichen und Zufälligen existiert: „Die Ereignisse, von denen ich erzählen werde, haben sich vor zehn Jahren abgespielt, und ich würde gewiss lügen, behauptete ich, jede Kleinigkeit wahrheitsgetreu vor mir zu sehen. Ich bin in einem Alter, in dem Erinnerungen undeutlich werden. Ich vergesse Namen, Daten und Gesichter und neige dazu, Geschichten entweder abzukürzen oder mit Zierrat auszuschmücken, der unnötig erscheinen mag. Ich darf jedoch mit Fug und Recht behaupten, Herr meiner Sinne und nicht etwa verrückt zu sein.“

Arthur Dolds Jugendfreund Christian Aplanalp lädt zum 7. Januar des Jahres 2010 nach Irland ein. Im County Donegal bewohnt der erfolgreiche Maler ein abgelegenes Landhaus, das vom schweigsamen Faktotum Seamus und der mysteriösen Haushälterin Bernadette bewirtschaftet wird. Schon bei der Ankunft spürt Arthur, da ist er noch nüchtern, wie ein Schauer über seinen Rücken zieht, wie sich sein Nacken versteift, als erwarte er einen Schlag aus der Dunkelheit. „In einem der Fenster flackerte das Licht einer Kerze, der Umriss eines Menschen erschien, verschwand jedoch sogleich wieder, als habe er sich weggeduckt, um nicht von mir entdeckt zu werden. Hatte er einen Hut getragen? Erschreckenderweise war mir, als hätte ich ein Todesbild gesehen, welches wie der Schatten eines Vogelschwarms über mich hinwegzog.“

Seine Gesichtshaut war totenblass

Ab da beginnen die Merkwürdigkeiten. Arthur ist der einzige Gast und anfangs auf sich gestellt. Christian zeigt sich nicht. Angeblich arbeitet er hochkonzentriert an einem neuen Bild, weshalb sein weit hergereister Kumpan allein zu Bett gehen und erst nachts die unheimliche Präsenz seines Jugendfreundes spüren wird. Christian hat sich heimlich ins Gästezimmer geschlichen: „Seine Gesichtshaut war totenblass, beinahe weiß, der Bartschatten auf Wangen und Kinn blauschwarz und so dicht, als hätte eine Maskenbildnerin ihn für einen Bühnenauftritt geschminkt.“

Das nächtliche Auftauchen Christians ist eine von zahlreichen unerhörten Begebenheiten dieser hochkonzentrierten Gespenstergeschichte, die auf knapp 120 Seiten erzählt, wie einem nüchternen Mann der Realitätsgrund unter den Füßen weggerissen wird. Nicht nur etwas, sondern nahezu alles ist faul im Hause Aplanalp. Ein Landschaftsplan des Anwesens zeigt Räume, die so nie existierten. Die Haushälterin Bernadette taucht in einer traumähnlichen Szene als paranormales Wesen auf und gebiert sich wie eine der Hexen aus William Shakespeares „Macbeth“ – jenes Stücks, das in der Mitte des Buchs als Warnung zitiert wird. “Aber verlauf Dich nicht, mein Freund! Und halte Dich fern von den ‚Woods of Birnam’!“

Das irische Landhaus wird zum Abbild einer bereits drohend geöffneten Unterwelt. Längst hat sich Arthur Dold im Wald von Birnam verirrt. Er wird magisch vom friedsamen Quecksilberwasser eines Waldsees angezogen. Ein wandelbarer, wie aus einer Geschichte von E.T.A. Hoffmann überkommener Handschuh erscheint und verschwindet im unerklärlichen Wechsel. Am Ende des nur wenige Tage dauernden Irland-Aufenthalts, nach einer Absinth- und Opiumzeremonie in Christians herrschaftlicher Bibliothek, überschlagen sich die Ereignisse.

Die letzte Überfahrt

Arthur Dold wird von einem Erschrecken heimgesucht, das wesensverwandt ist mit jenem Schaudern, das der französische Philosoph Blaise Pascal im 17. Jahrhundert hatte, als er sich im Feuer wähnte – von Gott verlassen. Auf die gleiche Weise, wie Absinth unter der Zugabe von Quellwasser opalisiert, bekommt auch das Erzählte einen fadenscheinigen Schimmer. Karg und präzise ist Hansjörg Schertenleibs Sprache, unheimlich das, was sie erzählt; eine Geschichte aus dem letzten Drittel unser aller Lebensreise, die mit Staunen beginnt und mit einem Entsetzen endet. „Die grüne Fee“ zu lesen heißt, dem Tod in die Augen zu schauen, die gepackte Tasche bereits vor sich stehend, den Pass bereitgelegt, unsicher, ob man zu dieser letzten Überfahrt wirklich imstande ist.

Hansjörg Schertenleib: „Die grüne Fee“, Kampa Verlag, Zürich, 128 Seiten, 16,90 Euro.

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