Rezension: DDR und Depression

Die Mutter ist tot, der Vater verschollen, die Stasi hat irgendetwas damit zu tun, nur was? Für Johannes, geboren in der DDR, beginnen die Teenagerjahre mit enormen Schwierigkeiten. Viele Jahre später ändert ein Brief sein komplettes Leben.

Als die Deutsche Demokratische Republik im Jahr 1989 zusammenbrach, zählte das Ministerium für Staatssicherheit zirka 189.000 Inoffizielle Mitarbeiter. In der DDR-Gesellschaft wurden sie „Spitzel“, „Denunzianten“ oder „Kundschafter“ genannt. Durch sie war die paranoide Staatsführung engmaschig über das politische und private Leben ihrer Mitbürger informiert. Die Machenschaften dieses Systems griffen fatal in den damaligen Alltag der Bürgerinnen und Bürger ein. Auch nach der sogenannten Wende war die Stasi verantwortlich für zahlreiche Tragödien. Menschen erfuhren, dass sie von ihren engsten Freunden bespitzelt worden waren. Familien zerbrachen, Nachbarschaften wurden zerstört.

Eine dieser Tragödien erzählt nun der ostdeutsche Schriftsteller Matthias Jügler mit „Die Verlassenen“. Johannes Wagner, ein Verwaltungsangestellter, Anfang der Achtziger Jahre in der DDR geboren, erkennt viel zu spät, welches Unglück die Stasi über sein Leben und das seiner Eltern gebracht hat.

Als die Geschichte im Frühsommer des Jahres 1994 einsetzt, weiß der damals Zwölfjährige nicht, „warum Mutter wirklich starb, warum Vater zwar immer wieder vom Schreiben sprach, ich ihn aber nie schreiben sah, und erst recht wusste ich nichts von einem Bruder und all den anderen Dingen, von denen ich erst viel später erfuhr.“

Eine ungeheuerliche Wahrheit

Offiziell ist Johannes Mutter 1986 an einem Herzinfarkt gestorben. Tatsächlich steckt hinter dem Todesfall eine ungeheuerliche Wahrheit, die integral mit dem Unrechtssystem der DDR verbunden ist. Der Grundschüler lebt zunächst allein mit seinem Vater, einem schweigsamen, still trauernden Maler, der keine Stütze ist, der sich eingräbt in der Melancholie, während sein Sohn versucht, sich nützlich zu machen.

„In dieser Zeit begann ich, ihm regelmäßig kleine Opfer zu bringen. War ich der Meinung, er könnte Durst haben, brachte ich ihm ein Glas Wasser. Samstags stand ich zeitig auf und ging heimlich aus dem Haus, stellte mich in die Schlange vor dem Bäcker und kaufte Brötchen für uns.“

Johannes bemüht sich. Er will gehorchen, folgsam sein – und ist damit auch ein Spiegel jener DDR-Bürger, die sich trotz ihrer Treue und Duldsamkeit nach dem Anderen sehnen, nach dem Versagten, nach der fehlenden Staatshälfte auf der anderen Seite des Todesstreifens; während sie das Monströse vor ihren Augen ignorieren.

Mehr als eine verlorene Seele

Das Monströse vor den Augen von Johannes ist sein Vater, der in der DDR ein Doppelleben führt, das nach der Wende durch das Doppelleben einer anderen, zunächst verdeckt agierenden Figur gespiegelt wird. Mit großer Empathie skizziert Matthias Jügler diesen hoffenden Jungen, der alles richtigmachen, der trösten will, wenn er schon nicht selbst getröstet wird, der sich verzehrt und immer wieder glaubt, seine tote Mutter zu sehen: „Ich freute mich auf den Moment, da sie mich erkennen würde, stellte mir vor, wie ich sie zu Vater bringen würde und wie wir uns umarmten.“

Der Titel „Die Verlassenen“ deutet an, dass in diesem Roman von mehr als einer verlorenen Seele berichtet wird. Die parabelartige Geschichte zwischen dem hilflosen Vater und dem trauernden Sohn entfaltet sich partikelweise, wird unterbrochen von anderen, zeitlich später liegenden Ereignissen. „Die Verlassenen“ ist ein Roman in Bruchstücken, der im kontinuierlichen Wechsel auch vom späteren Verschwinden des Vaters Mitte der Neunziger berichtet und von Johannes’ anschließenden Teenagerjahren bei der Großmutter: „Selbst im Sommer musste man das Licht einschalten, so dunkel war Großmutters Wohnung.“

Kein Mensch ist sicher

Ebenso wendet dieser Roman seinen Blick in die Gegenwart, wo ein in Norwegen abgeschickter Brief aus dem Jahr 1994 auftaucht. Der Inhalt dieses Briefs wird nicht Satz für Satz wiedergegeben, sondern erschließt sich allein aus kunstvoll montierten Rückblenden, faksimilierten Beobachtungsberichten, Fotodokumentationen und den Aussagen eines Inoffiziellen Mitarbeiters der Staatssicherheit.

Dieses die Handlung antreibende Schriftstück erscheint als Schwarzes Loch, das den gesamten Ereignishorizont manipuliert. Seine verändernde Kraft ist nahezu unheimlich: „Kein Mensch ist vor den Momenten sicher, in denen sich alles von Grund auf ändert und das eigene Leben plötzlich in völlig anderen Bahnen verläuft als erhofft.“

Ein verstörender Realitätsgrund

Johannes wird wegen dieses Briefs Richtung Norwegen aufbrechen, erneut hoffend. Und er wird ähnlich erschüttert sein wie jene Bürgerinnen und Bürger der DDR, die nach 1989 ihre Stasi-Akte lasen. Er wird machtvolle Geheimnisse erfahren, die unglaublich klingen, aber auf einem verstörenden Realitätsgrund stehen: „Die Verlassenen“ erzählen auf lediglich 170 Seiten auch die fiktionalisierte Geschichte einer realen Stasi-Operation.

Diese Operation sollte einst einen Menschen vernichten und hat Mitte der 1990er Jahre, lange nach der sogenannten Wende, ihr spätes Todesopfer gefordert. Matthias Jügler hätte diese Geschichte lediglich dokumentieren können. Doch ihm ist etwas Besseres, etwas Literarischeres gelungen. Sein Roman ist eine Trauer- und eine Verratsgeschichte, die einer höheren Wahrheit verpflichtet ist. „Die Verlassenen“ erscheint als ein berückendes, als ein tiefschwarzes Zeugnis ostdeutscher Erinnerungskultur und darin als eines der besten Bücher dieses Literaturfrühlings.

Matthias Jügler: „Die Verlassenen“, Penguin, München, 172 Seiten, 18 Euro (Das Beitragsbild hat Matthias Jügler fotografiert).

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