Rezension: Das KZ-Universum

Eine der frühesten Berichte aus den deutschen Konzentrationslagern ist 74 Jahre nach seinem ersten Erscheinen endlich ins Deutsche übersetzt worden. Unter dem Titel „Das KZ-Universum“ hat der französische Schriftsteller und Kommunist David Rousset bereits 1946 von seinen Erfahrungen im KZ erzählt, allerdings nicht als reine Ich-Erinnerung, sondern mit dem analytischen Blick auf das gesamte System der nationalsozialistischen Vernichtungsindustrie.

Einst gab es einen Ort, an dem haben die Hungrigsten das Fleisch ihrer Mitmenschen gegessen, an dem haben die Menschen ihre Haut eingebüßt und für einen Schlafplatz waren sie bereit, ihren Nebenmann des nachts zu ermorden. Der Ort, das war das KZ-Universum, von dem als erster der Überlebenden berichtet hat David Rousset, 1912 geboren in Roanne an der Loire – ein Schriftsteller war er, ein Soziologe, ein Kommunist. Sein Buch „Das KZ-Universum“ gehört zu den bemerkenswertesten Zeugnissen jener dunklen Tage, als das Wünschen nicht geholfen hat:

„Für zehn Gramm Brot, für ein bisschen Platz bringen die Häftlinge sich in den Nächten gegenseitig um. Am Morgen liegen Leichen in den Straßengräben, übersät mit Blutergüssen. In Wöbbelin müssen Wachen mit Knüppeln bei den Toten aufgestellt werden: Wer das kümmerliche Fleisch der Leichen isst, wird erschlagen. Unglaubliche Gerippe mit leeren Augen tasten sich blind über stinkenden Unrat. Sie lehnen sich gegen einen Pfosten und bleiben mit gesenktem Kopf stehen, still und stumm, eine Stunde, zwei Stunden. Irgendwann sackt der Körper zusammen. Aus dem lebenden Leichnam ist ein toter geworden.“

Es hat großes Aufsehen erlebt

Bemerkenswert ist, dass dieses Buch erst jetzt im deutschsprachigen Raum erscheint, und wer über den Text spricht, der kann nicht schweigen über dessen Editionsgeschichte. Thomas Sparr, langjähriger Leiter des Jüdischen Verlags in Berlin, ist ein Spezialist für die Erinnerungskultur der Nachkriegszeit. Gerade ist von ihm ein beeindruckendes Buch über Paul Celans „Todesfuge“ erschienen. Im Interview sagt er, der die deutsche Veröffentlichung 74 Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung ermöglicht hat:

„David Rousset hatte das Konzentrationslager Buchenwald, er hatte den Totenmarsch überlebt – und hatte im Sommer 1945 in Paris über das System der Todeslager, der Konzentrationslager geschrieben: L’Univers Concentrationnaire. 1946 in Paris erschienen. Es hat großes Aufsehen erlebt. Es ist auch ins Englische übersetzt worden, aber nie ins Deutsche erstaunlicherweise – und ich glaube, es ist die gleiche Perspektive, dass man diesen millionenfachen Tod, diese Ermordung in einer unermesslichen Zahl in den Blick genommen hat, sowohl in dem Gedicht bei Celan wie in dem Buch von David Rousset, der als ein Journalist, als ein Soziologe schreibt, als ein Essayist.“

Knöchel knicken um auf flachen Holzschuhen

Wer war dieser David Rousset, dem im Sommer des Jahres 1945, unmittelbar nach seiner Freilassung gelungen ist, seine grauenhafte Erfahrung in eine berückend klare, in eine analytisch tief durchdringende, in eine poetische Sprache zu fassen, die auf pointierte Weise vom Grausamkeiten wie diesen berichtet?

„Vorwärts in den Schlamm drängt die Herde, zwischen hohen, blinden Fassaden, die schwer auf der Nacht lasten. Knöchel knicken um auf flachen Holzschuhen. Aus den Wänden sickert Licht, sie wachsen ins Unermessliche. Aufeinander gestützt tasten die Gruppen sich zu den Blocks vor. In einer lächerlichen Stunde hat der Mensch seine Haut eingebüßt. Gewissenhafte Funktionäre haben ihm, ohne Maß zu nehmen, seine KZ-Person zugeschnitten.«

Auf lediglich hundert konzentriert gearbeiteten Seiten wird der Leser Absatz für Absatz in neue Winkel des Konzentrationsuniversums geführt, um mit dem Zeugen David Rousset noch einmal durch die Hölle dieses entmenschlichenden Systems zu gehen, und zwar zu einem Zeitpunkt, als ersten Leser beinahe nichts wussten. Sie wussten nichts über die körperliche und nichts über die psychische Folter in den Vernichtungslagern. Sie wussten nichts über Auschwitz, über Treblinka, über Buchenwald.

„Im Revier stand eine Eiche, unter der Goethe geruht haben soll. Sie ging ein und wurde gefällt. Wie der Kritiker Theodore Ziolkowski erkannte, nahmen die Dichter im Lager stets auf Goethe Bezug. In seiner Gedächtnisrede in Dachau im Jahr 1947 kam der Dichter Ernst Wiechert auf jene Einigkeit zu sprechen, die, der Aufklärung verpflichtet, den Häftlingen so wichtig war.“

Die Nicht-Gräber des 20. Jahrhunderts

Das erfahren wir aus dem brillanten Nachwort von Jeremy Adler, der dieses seltene, von Olga Radetzkja und Volker Weichsel aus dem Französischen übersetzte Zeugnis, einordnet in die glücklicherweise lange Geschichte einer Erinnerungskultur, die allein aus humanistischen Gründen unbedingt lebendig gehalten werden sollte. David Roussets „KZ-Universum“ ist die soziologische Entsprechung von Paul Celans „Todesfuge“, es ist ein Text, der uns auch die poetischen Bearbeitungen der Shoah entschlüsselt. Thomas Sparr erinnert:

„Wir haben nicht hinlänglich realisiert, dass es Millionen Nicht-Gräber gibt im 20. Jahrhundert. Das ist eigentlich das gräberlose Jahrhundert durch die Millionen und Abermillionen, die keine eigene Grabstätte haben; und was es für eine wichtige kulturelle Errungenschaft es ist, ein Grab zu haben, auch ein Grab der nächsten Angehörigen.“ Das sagt Thomas Sparr – und er spielt damit auf jene erschütternde Zeile Paul Celans an, die erzählt: „wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng“.

Damit alles seine Ordnung hat

Das Herausgehobene von Roussets Bericht besteht auch darin, dass er zeigt, wie realistisch die „Todesfuge“ Celans ist. Es ist ein großes Verdienst, dass wir mit Roussets „KZ-Universum“ endlich an den Anfang dieser Erinnerungskultur gelangen, und mit ihr noch im Jahr 2020 verstehen, warum es notwendig bleibt, die unglaublichen Geschehnisse des nationalsozialistischen Verwüstungsfeldzuges wach zu halten.

Verwirrt hält man inne, und kann es kaum glauben, dass zwischen den Baracken, den Krematorien, den vielfältigen Demütigungsartefakten einer entarteten Zivilisation Wegweiser an den Straßenkreuzungen gestanden haben, die gewacht haben über das innere Leben der Lager. Damit alles seine gute Ordnung hat.

David Rousset: „Das KZ-Universum“, mit einem Nachwort von Jeremy Adler, aus dem Französischen von Olga Radetzkaja und Volker Weichsel, Jüdischer Verlag, Berlin, 141 Seiten, 22,00 Euro

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