An diesem Wochenende ging ein wurmartiger E-Mail-Verkehr durch die Szene der hiesigen Literaturjournalisten – inzwischen wird er schon als archivierte Sammelmail weitergereicht und auf Facebook kommentiert. Der Wiener Verlag Sonderzahl hat aus Versehen eine Sammelnachricht über einen Mailserver verschickt. Daraufhin schrieben sich Redaktionschefs, Hörfunkdirektoren, Feuilletonredakteure von F.A.Z. bis NZZ, von ttt bis Tagesspiegel für alle sichtbar hin- und her. Der Sonderzahl-Verleger schaute derweil zu, schaltete sich nicht in die Debatte ein, reagierte auf keinen Hinweis, den Irrsinn zu stoppen. (Dieser Text ist eine überarbeitete Fassung jenes Blogartikels, den ich am Freitag hochgeladen und bis Samstagabend aktualisiert habe).

Auf der Internetseite des Wiener Sonderzahl-Verlages gibt es ein bizarres Anti-E-Book-Manifest, in dem unter anderem steht: „Vielleicht ist es an der Zeit, STOP zu sagen. Warum muss man bei jeder Innovation dabei sein? Denn erst durch das Dabeisein, das Mitmachen wird diese zur Realität. (…) Bei Sonderzahl jedenfalls – zugegebenermaßen einem Sandkorn im Buchbetrieb – wird es keine e-books geben. Vielleicht schließen sich auch andere Kollegen dieser Initiative an. Was mich freuen würde. Dieter Bandhauer.“

Viele Journalisten hätten seit Freitag, 7.2. ab zirka 16 Uhr gerne STOP gesagt – nur hörte es scheinbar niemand. Unter dem Betreff „[Sonderzahl2] Vorschau“ wurden nahezu alle deutschsprachigen Rezensenten aufgefordert, ausgerechnet in jenem E-Books so vehement ablehnenden Verlag (den niemand kaum jemand kennt) digitale Vorschauen zu bestellen. Angeblich stünden die Adressen im Mailverteiler, den re-book Sonderzahl zur Verfügung gestellt hat. Seltsam, denn re-book ist eigentlich wegen Ihrer Pressearbeit für kleine (Independent-)Verlage und Literaturfestivals bekannt, nicht für die illegale Weitergabe von Adressdaten. Ein Anruf bei re-book-Chefin Ruth Eising (die ich kenne, seitdem wir vor 13 Jahren in der gleichen Buchhandlung gearbeitet haben) bestätigt auch die erste Vermutung.

Selbstverständlich hätte der Sonderzahl-Verlag nicht die Erlaubnis, den Mailverteiler zu nutzen, sagt Ruth Eising und versteht, das etliche Kollegen sauer sind – weil hier wild gespammt wird und dies mit einer unwahren Behauptung über die Herkunft der E-Mailadressen. Ruth Eising bangt um ihr Wochenende. Ich mache das, was ich immer mache, wenn ich gespamt werde und was beispielsweise dafür gesorgt hat, dass mich niemand mehr wegen Kaltakquise am Telefon belästigt: Ich schreibe, die Sonderzahl-Sendeadresse nutzend, unter dem Betreff „Warnung“ einen Hinweis, ich würde die entstandene Arbeitszeit in Rechnung stellen, sollte dieser Unsinn nicht aufhören. Normalerweise reagieren Firmen auf derartige Antworten. Aber nichts geschieht (später geschieht dann doch etwas, weil sich Elke Heidenreich einschaltet, aber dazu weiter unten im Text).

Wie muss das alles nun gelöst werden? „re-book bietet zielgerichtete Kommunikation für Kulturinstitutionen, -organisationen und -veranstaltungen. Unsere Kunden unterstützen wir außerdem auch in allen Belangen des Marketings“, steht auf der Homepage. Ruth Eising versucht, Sonderzahl in Wien zu erreichen. Zunächst geht dort niemand an Telefon, dann aber doch der Verleger selbst. Der liest also, auch das wird später noch wichtig werden, die ganze Zeit mit. Nur: er zieht keine Konsequenzen. Seinen Netzwerkadministrator erreicht er nicht. Auf die Idee, den sich zum Teil wild echauffierenden Journalisten eine Nachricht zu schicken, kommt er nicht. Derweil entwickelt sich, für alle lesbar, ein interessanter Metaspamwurm in mehreren Wellen:

Erste Welle: Es ist das immer gleiche Prinzip, das sich fortan mehrmals wiederholt: Ein Kollege antwortet dem Verlag, wie alle späteren ebenfalls nicht wissend, dass seine Nachricht an jedem im Verteiler geht. Er bzw. sie erbittet digitale/papierne Vorschauen. Wenige Minuten später schreibt eine genervte RedakteurIn, besagter Kollege (aber hier ist bei männlicher Nennung die weibliche mitgemeint), man möge dies nur dem Verlag, aber nicht auch ihr mitteilen – freilich liest das jeder mit (was wiederum besagte Redakteurin nicht wissen konnte, weil das Adressfeld nicht sichtbar ist). Über den Mailserver laufen nun alle Nachrichten, für jeden sichtbar, gleichgültig ob man diese einzeln rauskopiert oder nicht.

Zweite Welle: Die ersten Redakteure sind genervt, im Minutentakt zugespammt werden und schreiben entweder dem Verlag, er solle sein Mailproblem lösen bzw. dass sie sich bestimmt für, Zitat, NULL Information von Sonderzahl interessierten. Andere wenden sich beschwichtigend an die eigenen Kollegen, das Antworten zu unterlassen, weil diese Kettenmail ansonsten kein Ende nähme, ohnehin würde das bei Sonderzahl an einem Freitagabend eh keiner sehen et cetera. Involviert sind größtenteils Ressortchefs von Institutionen wie der Neuen Zürcher Zeitung, spiegel.de, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten (z.B. „ttt“ beim NDR), der Welt, SZ, Kreuzer et cetera. In Wien ist für die Journalisten niemand erreichbar. Bei Ruth Eising fragt auch keine mehr nach (auch Journalisten haben Feierabend).

Dritte Welle: Man nimmt‘s auch mit Humor. Es ist inzwischen später Abend. Alle haben sich echauffiert oder geäußert. Sonderzahl-Opfertreffen zur Frankfurter Buchmesse werden vorgeschlagen. Andere verabreden sich nun via Verteiler, wollen sich alsbald persönlich kennenlernen. Einer kommentiert: „‚Sonderzahl2 Vorschau‘ klingt schon als Betreff Scheisse.“ Aus dem Verlagsspam ist binnen weniger Stunden Metaspam geworden. Teils wissentlich, teils unwissentlich haben Ressortleiter ihre kompletten Kontaktdaten rumgeschickt. 23:40 Uhr: Einige Kollegen haben den Verlag nun bereits mehrmals angeschrieben und gebeten gefordert, aus dem Verteiler genommen zu werden. Andere erklären nachwievor im höflichen „Sendung mit der Maus“- oder „Digital Natives“-Ton, dass man freitagnachts bestimmt nichts mehr bewegen kann, bis Montag warten muss und, wie gesagt, wie gesagt: nichts besser wird, indem die direkte Antwortfunktion angeklickt wird. „Web 2.0 = Stress“. In Wien ist niemand erreichbar. (Für die Journalisten, Ruth Eising hat ihn ja bereits erreicht und man nimmt an, das Problem werde gelöst – wird es nur nicht.)

Dritte Welle, Nebenstrang (auch dies alles bei Uwe Wittstock dargestellt): Man bemüht, auch dies ironisch, Philosophen, künstlerische Konzepte, feuilletonistische Wendungen, Debatten über digital/egal/analog, um die Sonderzahlsache als Flash-Mob-Kunst zu verstehen.

Vierte Welle (ab 8.2. morgens): Die Agentur Nikorepress schreibt an alle eine unverschämte E-Mail, die Kollege Uwe Wittstock hier öffentlich gemacht hat. In der ersten Fassung meines Artikels stand sie auch, aber man kann es auch zusammenfassen:  „ist es wirklich sooo schwer zu checken?!? (bla bla bla) jeder von denen, die hier seither dummdreist spammen und dummdreist das maul aufreissen, selber auch nur für einen cent technikverständnis wäre NIE etwas passiert! denn: wer bat denn irgendwen an die gesamte liste zu schreiben via mutmasslich “antworten an alle”?!? (bla bla bla) und dann noch diese 24/7-anspruchsmentalität – zum kotzen solche sog. kollegen! dass nun auch wir – allerdings bewusst – an den gesamten verteiler schreiben hat (falls es irhgendwer nicht checkt (bla bla bla) sollte damit rechnen, dass wir ihn oder sie öffentlich (sic!) auslachen! (bla bla bla)“

Klassisches Eigentor. Denn Sonderzahl liest mit, auch wenn man beispielsweise ohne Technikverständnis an die Serveradresse schreibt. Es gibt auch die Möglichkeit, eine Regel im Mailprogramm einzurichten, die Mails mit dem Inhalt „Sonderzahl“ löscht. Deshalb ist es auch nicht verwerflich, wenn nun Nebengespräche via Verteiler geführt werden – es ist nicht einmal wichtig, dass man durch Recherche hätte herausbekommen können, was vorgefallen ist. Alle haben ihren Spass. Man nutzt diese Ablenkung vorm Wochenende. Es mag Kollegen geben, die in der Tat (wie ich anfangs auch) verärgert sind. Nur geht es kaum noch um den Verlag – es geht um das selbstreferentielle Reden der Szene. (Ob es ihm nützt oder schadet wird man sehen). Elke Heidenreich frotzelt, o b meiner ersten Mail („Vielleicht auch Schmerzensgeld?“) – aber vielleicht freut sie sich einfach mehr als ich, wenn sie fremde Mails im Postfach hat.

Ohne TitelInzwischen wird der komplette E-Mail-Verkehr rumgeschickt, auch von jenen gelesen, die nicht beteiligt waren, auf Facebook kommentiert et cetera. Es ist auch zu komisch: Ein E-Books ablehnender Kleinstverlag (Sandkorn im Literaturbetrieb) versucht sich in der Handhabung neuer Medien und scheitert und beweist unfreiwillig die Humorfähigkeit der Szene, die aus dem notgedrungenen Beisammensein eine Party veranstaltet. Frei nach dem Sonderzahl-Manifest: „Denn erst durch das Dabeisein, das Mitmachen wird diese zur Realität.“

(Rechts ein passendes Posting von der Sonderzahl-Facebookseite aus dem Jahr 2010). Am Samstag, 8.2., 15:03 (23 std später) – der Server wurde (endlich) gestoppt. Auf der Sonderzahlt-Internetseite bzw. der Facebookseite steht: nichts.

Update, 9.2.: Nachdem Sebastian Leber hier im Tagesspiegel die Reaktion von Sonderzahl-Verleger Herr Bandhauer veröffentlicht wurde und er sich große Sorgen macht habe ich ihm gerade persönliche eine E-Mail geschrieben: dass sich alles zum Guten wenden würde, er beruhigt sein kann, es vollkommen normal ist, wenn man dann z.B. in einem Blog wie diesem hier darüber schreibt, dass es die Literaturszene zusammengebracht hat etc.: „Am Ende werden wir alle an Ihrem Stand stehen und Sie persönlich kennenlernen wollen. Kaufen Sie den billigsten Rotwein, schenken Sie ihn in Pappbechern aus und es wird ein Fest. Mir war es wichtig, Ihnen persönlich ganz klar zu sagen: Sie müssen sich mit Sicherheit keine Sorgen machen. Dem Verlag hat es am Ende des Tages genützt. Und die Angst vor E-Books, die werden Sie bald nicht mehr haben. So schlecht sind die Teile nicht.“ – Schreibt ihm doch, muntert Herrn Bandhauer auf: verlag@sonderzahl.at

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5 Kommentare

  1. Ihr könnt ja Sorgen haben da in eurem Austria!
    Ich wäre einfach mal aufs Land gefahren. Soll ich Sklave meiner Blechkiste sein?

  2. Ich les‘ hier oben drüber: „Über den Blog“
    Den? Ja, tatsächlich: „den“.

  3. Na, das war ja eben keine Antwortmail – ich habe die vermeintliche E-Mail-Adresse rauskopiert und dachte, das sei besonders schlau – war es aber erst Recht nicht…

  4. Ja das stimmt, aber auch Ihre Antwortmail von gestern abend ging wieder an alle. ;-) Habe sie auch bekommen. Um das System anzuhalten nicht antworten und schon gibt es keine Mails mehr. Aber der eine oder andere hat das System nicht verstanden und permanent Antwortmails geschickt, dadurch wurde es zu einem Schneeball. Rat: Ignorieren, in den Papierkorb, nicht antworten und schon hört der Versand auf.

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