Interview: „Literatur fängt im Alltag an“

„Gegenwartsliteratur ist etwas, das im Prozess entsteht“, sagt der Hildesheimer Absolvent und Carl Hanser-Verlagslektor Florian Kessler im Deutschlandfunk. Für den Büchermarkt war er zugeschaltet aus Hamburg – also nicht weit von Hildesheim entfernt, wo am Samstag das Fest zum zwanzigjährigen Jubiläum des Studiengangs „Kreatives Schreiben und Kulturjounalismus“ gefeiert wird, unter anderem mit Lesungen von Juan Guse und Mariana Leky – beides Absolventen, wie auch Florian Kessler, der von 2002 bis 2008 in Hildesheim studiert hat. Seit Anfang 2015 ist er Lektor beim Carl Hanser-Verlag in München; und betreut eben da unter anderem Fatma Aydemir und Max Czollek. (Beitragsbild: Mimi Wulz, Literaturinstitut Hildesheim)

Florian Kessler, welche Ihrer Erkenntnisse und Erfahrungen aus dem Schreib-Studium sind anschlussfähig an Ihre aktuelle Tätigkeit im Carl-Hanser Verlag? Die Kurse sind das Eine; da wird aufgebrochen, wie man überhaupt über Textproduktion sprechen kann, wenn von anderen Studentinnen und Studenten Texte genommen und wirklich auf die Waagschale gelegt werden, jeder Satz angeguckt im Close Reading, wo man sagt: Es gibt andere Möglichkeiten, was hat ein Text für Potentiale? Das ist was, das man früher in vielen Germanistikstudiengängen oder so nicht unbedingt erfuhr, und nicht unbedingt machte. Das Andere ist aber was ganz, ganz Anderes, und das ist, dass man überhaupt begreift, dass Gegenwartsliteratur etwas ist, das im Prozess geschieht, dass sich das auf Gegenwart bezieht, dass man anfängt, Feuilleton ganz anders zu lesen, Debatten ganz anders zu führen, mit seinen Freunden über ganz andere Dinge zu sprechen, und dass plötzlich ganz, ganz klar wird, dass Gegenwartsliteratur ständig im ganzen Alltag und im Leben anfängt.

Im Chronikteil des gerade erschienenen Jubiläumsbandes kann man nachlesen, wie sich der Studiengang entwickelt hat vom Diplom- zum Bachelor: „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus“, später zum Master „Literarisches Schreiben und Lektorieren“ bis zum Angebot „Kulturwissenschaft und Ästhetische Praxis“, das mit dem Schwerpunkt Literatur studiert werden kann. Das Festivalprogramm fokussiert die literarisch arbeitenden Absolventinnen der insgesamt drei Hildesheimer Studiengänge, obschon nicht nur hauptberufliche Schriftstellerinnen in die Arbeitswelt entlassen werden. An welchen anderen Stellen finden wir Absolventinnen aus Hildesheim? Toll an diesem besonderen Studienangebot in Hildesheim, und was Wichtiges, was Hildesheim auch unterscheidet von den anderen Schreibstudiengängen die es in diesen Jahren gibt – es gibt schon länger das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig, es gibt in Biel einen Studiengang, in Köln wird gerade was gegründet, in Wien gibt es an der Universität für Angewandte Kunst sowas Ähnliches: In Hildesheim ist ganz, ganz besonders, dass verschiedene Leute verschiedene Kunst machen in diesem größeren Studiengang „Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis“ – und deswegen gibt es in jeder Stadt, in die man kommt am Theater eine Dramaturgin oder einen Dramaturgen, einen Schauspieler oder eine Schauspielerin, die auch von da kommt oder Dokumentarfilmer, Bildhauer und Bildhauerinnen – das ist das Eine. Das Andere ist, dass ein Studiengang, in den viele reinkommen mit unglaublichem ästhetischen Elan natürlich, dann fürchterlich auf die Realität prallt. Ein paar werden Romanautorinnen oder Romanautor, veröffentlichen Gedichtbände, kommen da richtig rein in diese kleine Welt der Literatur. Und bei anderen ist das so, dass sie nach ein paar Jahren sagen: Ich finde da nicht richtig meinen Weg, ich will eigentlich was ganz Anderes. Es gibt eine Ernüchterung, teilweise prallt es auf institutionelle Barrieren, dass niemand das will, was jemand selbst für ganz, ganz wichtig hält. Da gibt es viele Leute, die sich ganz außen rum in dieser sogenannten kreativen Ökonomie angesiedelt haben, die heute in Werbeagenturen arbeiten, die ganz andere Texte machen und so weiter, was ja auch völlig redlich ist. Das sind dann oft sehr intensive, tolle Jahre gewesen, manchmal fanden sie es auch nicht so toll die Leute, aber auf jeden Fall Jahre, an denen man sich an etwas abgearbeitet hat, nämlich am Schreiben-Wollen. Und das ist interessant, wohin die Leute dann gelangen

Sie wurden einer größeren Leserinnenschaft bekannt durch ihren 2014 publizierten Essay über die Arztsöhne im Literaturbetrieb, in dem sie die fehlende Diversität der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur kritisiert haben. Inzwischen finden zahlreiche Debatten politischer Natur statt. In welcher Weise haben sich die Ausbildung einerseits, die literarische Profession andererseits verändert? Das ist eine gute Frage, weil die Diagnose da schon drinsteckt, dass es tatsächlich diese Debatten gab und vielleicht auch geben musste, dass da Sachen angesprochen wurden, weil es einen Reflexionsbedarf gab. Man kann vielleicht sagen, dass es in den Neunziger Jahren, Anfang der Nuller Jahre einen ganz großen Bedarf gab, dass die Gegenwartsliteratur jünger wird, dass da andere Leute reinkommen müssen. In ganz vielen Verlagsprogrammen veränderte sich da was. Danach gab es in den vergangenen Jahren ganz viele Debatten darum, wer eigentlich welche Literatur macht, wer da was machen kann. In dieser Debatte, in der ich einen Artikel geschrieben habe ging es ganz stark darum, dass ich gesagt habe: ich beobachte um mich herum, dass es vor allem Leute aus der gehobenen Mittelschicht sind, die in der Theater-AG waren, die relativ abgesichert sind, die es sich beispielsweise leisten können, nach dem Studium ein, zwei Jahre einen Roman zu schreiben. Das muss man überhaupt erstmal als Möglichkeit im Auge haben, und das geht natürlich leichter, wenn Deine Eltern sagen, dass sie Dir eine Wohnung in Berlin zum Absichern kaufen. So setzt sich eine bestimmt Klasse oft zusammen. Danach gab es eine ganz wichtige Debatte, wo dann andere sehr laut und vernehmlich gesagt haben, dass ihnen ganz stark an solchen Instituten auffällt, dass unglaublich viele Jobs, die Dozenturen und so weiter, aber überhaupt auch Netzwerke unter Männern bestehen, dass das ganz häufig männliche Professoren sind, die Seminare geben, dass da ganz viel weitergegeben wird, vergeben wird. Das passierte jetzt die ganze Zeit und dadurch, dass das ständig aufs Tablett kam, dass da viel drüber gesprochen wurde, haben sich, glaube ich, tatsächlich Sachen geändert. Eine Sache, die ich ganz stark beobachtet habe in meinen Jahren als Lektor, ist, dass sich die Texte verändert haben, dass viel mehr Texte heute als auch nur vor fünf oder sechs, sieben Jahren eine politische Agenda verfolgen, dass die überhaupt Gegenwartsthemen in der Diagnose bereits politisch sehen. Als ich damals dasaß, habe ich selbst ganz viele Glasperlenspiele betrieben und auch um mich herum beobachtet; dass es vor allem darum ging, schöne ästhetische Kunstwerke herzustellen, und ganz, ganz oft gar nicht so darauf geguckt wurde, was eigentlich in der Gesellschaft sozial und politisch vor sich geht.

Was wünschen Sie sich als Lektor für die kommenden Jahre des Schreib-Instituts in Hildesheim? Ich glaube, das kann immer weiter einfach durchgeschüttelt werden – und das wird es auch, weil: da kommen immer neue Studierende hin, die ganz andere Wünsche stellen, und wir streiten ja ganz häufig in letzter Zeit darum, oft unter diesem Schlagwort der „politischen Korrektheit“, was da an Universitäten alles vor sich gehen würde und so. Ich denke mal, dass Universitäten gar nicht nur Spiegel der Gegenwart sind, sondern auch sowas wie Brenngläser, dass sich da Konflikte ganz, ganz stark zeigen, weil da junge Leute total vernehmlich und vehement sagen, was ihnen nicht passt, und was ihnen passt und worüber sie sprechen wollen. Und ich glaube in Hildesheim wird es noch einige starke Debatten geben. Da wird es unter anderem darum gehen, dass es nur um junge Literatur geht, sondern dass es auch ganz große Probleme gibt für ältere Autorinnen und Autoren. Das wird vernehmlich in die Festivals und so weiter einfließen, dass es gar nicht nur um eine Feier der Jugend geht, sondern ganz viele andere Autoren auch große Werke zeigen. Dann wird’s darum gehen, dass Literatur, glaube ich, jetzt kollektiver wird. Es gibt gerade ganz starke Lesereihen, wo Kollektive zusammen Texte machen, zusammen an Ästhetiken herumüberlegen und so weiter. Dann wird es um Mehrsprachigkeit geben. Es gibt zurzeit in Deutschland ganz, ganz viele tolle Autorinnen und Autoren, die nicht primär nur auf Deutsch schreiben. Das wird sich auch auf jeden Fall in den nächsten Jahren verändern. Bald werden bestimmt größere Verlage Sachen probieren, wo sie vielleicht Texte in einer ganz anderen Sprache primär präsentieren und deutsch nur danebenlegen. Das alles werden wir sehen – und vielleicht noch ganz andere Dinge, die ich mir als 37-Jähriger gar nicht mehr ausmalen kann.

Empfehlenswert ist ein zum Jubiläum erschienener Band, der schlicht „Institutsprosa“ heißt und herausgegeben wird von Dirk Brall, Thomas Klupp, Mariana Leky und Katrin Zimmermann, erschienen im Georg Olms Verlag Hildesheim. 254 Seiten, 19,95 Euro.

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